Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Petersen, Johann Wilhelm“ von Daniel Jacoby in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 25 (1887), S. 508–515, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Petersen,_Johann_Wilhelm&oldid=- (Version vom 24. November 2024, 17:58 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
Band 25 (1887), S. 508–515 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Johann Wilhelm Petersen (Theologe) in der Wikipedia
Johann Wilhelm Petersen in Wikidata
GND-Nummer 119129779
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|25|508|515|Petersen, Johann Wilhelm|Daniel Jacoby|ADB:Petersen, Johann Wilhelm}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=119129779}}    

Petersen: Johann Wilhelm P., pietistischer Schriftsteller und Dichter des 17. Jahrhunderts, wurde am 1. Juni 1649 zu Osnabrück geboren, wohin der Vater als Vertreter der Stadt Lübeck der Friedensverhandlungen wegen gesendet war. Seine Mutter Magdalena Prätoria war eine „große Beterin“. Bei seiner Taufe, erzählt P. in seiner Selbstbiographie (s. u.), habe der päpstliche Nuntius, der spätere Papst Alexander VII. ausgerufen: tu eris filius pacis. In Lübeck wuchs der Knabe auf: früh zeigte sich seine Begabung in Abfassung lateinischer Reden und Gedichte. Zwanzigjährig ging er nach Gießen; P. Haberkorn (s. d.) und andere Verfechter streng lutherischer Rechtgläubigkeit waren seine Lehrer. In Rostock, wohin er sich darauf begab, wurde er in absentia von der philosophischen Facultät zu Gießen zum Magister befördert. Ein Stipendium des Rathes zu Lübeck ermöglichte ihm Reisen. Seit 1673 Docent in der philosophischen Facultät zu Gießen, hielt er Vorlesungen u. a. über Hugo Grotius de jure naturae, schrieb einen Tractat Juppiter confutatus, „um den Heyden Lucian zu widerlegen,“ zugleich „hydram Atheismi, Papismi Idololatriam“ und „Praedeterminatismum Reformatorum“.

[509] Auf dem Wege ein eitler, disputir- und streitsüchtiger Orthodox zu werden, wurde er durch die Begegnung mit einem kirchlich, aber ebenso menschlich gesinnten Theologen stutzig. Der Ruf Ph. J. Spener’s hatte ihn bestimmt, nach Frankfurt zu reisen. Er fand bei Spener „ein gantz ander Leben und Wesen als insgemein“. Der Unterschied ward ihm klar „zwischen einer äußerlichen, buchstäblichen Erkänntniß … und der ἐπίγνωσις τῆς ἀληθείας ἣ κατ᾽ εὐσέβειαν.“ Durch Spener wurde er auch mit einer „adlichen Person“ bekannt, die vorher an einem Hofe Kammerfräulein gewesen. Sie ist später seine Frau geworden. Er übergab ihr eine Disputation gegen die Calvinisten. Sie lobte jedoch nicht, sondern antwortete: „ich hätte den Gott Petersen darinnen geehret; durch solche äußerliche Gelährtigkeit, mit der man sich gemeiniglich brüstete, könne man nicht „zu der göttlichen Einfalt der himmlischen Dinge gelangen“. Diese Rede „fiel tief in sein Herz“. An dem „Collegio Pietatis“, das Spener in seinem Hause angestellt hatte, nahm er Theil, hörte ihn oft über Dinge reden, „von denen er auf Universitäten wenig gehört hatte“, „wovon nachgehends Spener in seinen piis desideriis gehandelt“. Die Schriften von J. Böhme (s. d.), J. Betke (s. d. A. D. B. II, 576), F. Breckling, die er schon als Student in Händen gehabt, werden damals für ihn eine erhöhte Bedeutung erlangt haben.

In Gießen fiel die Veränderung seines Wesens auf; man höhnte ihn „wegen der Pietät“; er aber „fragte nichts danach“. Im J. 1676 begab er sich nach Lübeck: gegen die Geistlichen nimmt er dort Spener in Schutz. Den Gefahren, die ihm durch Händel mit den katholischen Domherren daselbst drohten, – ein Mandat Leopolds I. verlangte von dem Lübecker Senat seine Auslieferung – entging er durch die Berufung als Professor der Poesie nach Rostock. Sein Amt trat er mit der Rede „de christiano poeta“ an. Aber auch in Rostock verfolgten ihn „die Lübeckischen Jesuiten“. Gern nahm er daher die Stelle als Prediger in der Aegidienkirche in Hannover an. Zwar schützte ihn hier der katholisch gewordene Herzog Johann Friedrich vor seinen Feinden, allein bald gerieth er mit den Amtsbrüdern in Streit, die seinen Verzicht auf Beichtgeld ihm nicht verzeihen konnten. Dem Bischof Steno, aus Dänemark gebürtig, einem protestantischen Ueberläufer, gelang es „weder durch Dräuen noch Promessen“ ihn für die katholische Kirche zu gewinnen. Neunundzwanzigjährig wurde er Superintendent und Hofprediger zu Eutin (1678) bei dem Herzog August Friedrich von Holstein, der zugleich Bischof von Lübeck war. Zehn Jahre blieb er hier in glücklichen Verhältnissen; über die Hofintriguen, von denen er berichtet, siegte er durch seine rechtschaffene Natur: in seiner Weise suchte er den Menschen zu nützen und sie von unreinen Worten und Thaten abzuhalten, grausamem Verdammungseifer immer abhold. Die Geschichte, die er von dem Handwerksgesellen Peter Günther erzählt, den er retten wollte, dem jedoch seine Hinneigung zu Lehren der Socinianer den Tod brachte, ist bezeichnend für ihn wie die Zeitgenossen. –

P. wäre unverheirathet geblieben, wie er erklärt, allein sein „lieber Vater“ mahnte zur Ehe. Eine „fürnehme Geschlechterin“ war ihm in Lübeck vorgeschlagen worden. Er aber dachte an das Fräulein v. Merlau: „entweder sie oder keine.“ Auch Spener wurde veranlaßt, „sie zu überreden“. Ihr Vater wollte zwar die Tochter „nur einem von Adel“ geben, allein er fühlte sich, wie er an P. schrieb, durch eine Weigerung beängstigt. Charakteristisch für P. ist ein Bericht, er habe Gott auf den Knieen gebeten, wenn die Heirath in seinem Willen läge, so möchte er den Vater ängstigen, daß er seinem Willen nicht widerstehen könnte. Als P. nun den Brief des Vaters gelesen, merkte er daran, daß Gott ihn erhört hatte, „daß es die wäre, die er mir von Ewigkeit zugedacht hätte“. 1680 wurde das fünf Jahre ältere Fräulein v. Merlau seine Gattin. Spener traute das Paar: den Rhein hinunter fuhren die Vermählten [510] nach Holland. Von einer Krankheit, die ihn in Emden überfiel, erholte sich P. bei den Eltern in Lübeck. Seine Ehe war eine glückliche. Auch die Frau erzählt in ihrer Selbstbiographie, sie habe einen lieben Ehegatten, „der ihr ungemeine Liebe und Treue erzeiget“. Nach zwei Jahren wurde ihnen der erste Sohn geboren. – Auch in seinem Amte war P. glücklich. Seine Predigten waren beliebt; ein „Spruchkatechismus“, gedruckt zu Frankfurt 1684, zeigt manches Eigenartige. Auf die Frage z. B.: „Auf wie mancherlei Weise können wir den Nächsten tödten?“ lautet die Antwort: „Mit der Hand, mit der Zunge, mit dem Gesicht und mit dem Herzen.“ Die Erläuterung geben Bibelsprüche.

Petersens Ansehen wuchs. Im J. 1686 ernannte ihn die Universität Rostock zum Doctor der Theologie; zwei Jahre darauf kam er als Superintendent nach Lüneburg. Diese Stelle, in der er mehr Zeit zu wissenschaftlichen Studien zu erlangen hoffte, erhielt er erst nach langen Streitigkeiten mit seinem Amtsvorgänger C. H. Sandhagen. Das Leben in Lüneburg war kein glückliches: er gerieth durch fremde Schuld und eigenes Handeln in Kampf und Streit. Die Stadtgeistlichen waren ihm feindlich wegen einiger Neuerungen – P. nahm auch hier kein Beichtgeld – und wegen seiner Ansichten vom tausendjährigen Reich, „da er mit den Juden und Wiedertäufern ein weltliches und wollüstiges Reich glaube“. Sie verklagten ihn 1689 bei dem Consistorium. Vier Jahre früher hatte P., nach seinem eigenen Bericht, zum ersten Mal die Offenbarung des Johannes gelesen. Seine Frau, die schon als achtzehnjähriges Mädchen die Zahl 1685 am Himmel mit großen güldenen Ziffern gesehen haben will, hatte „auf gleichen Tag und in gleicher Stunde denselben Trieb empfunden“. Beide, so behauptet P., sind unabhängig von einander durch göttliche Erleuchtung zu denselben Gedanken über das tausendjährige Reich gekommen. Zum erbitterten Feinde hatte sich P. auch den „Syndikus“ gemacht. Als nämlich 1689 das Opernhaus in Kopenhagen abbrannte, viele Menschen theils verbrannten, theils erstickten, machte der Schrecken, daß die Hamburger ihre Opern einstellten. Die Lüneburger aber „ließen ärgerliche Comoedien spielen“. P. strafte auf der Kanzel die Lust an den „heidnischen spectacula“; er wußte nicht, daß auch „der Syndikus mit seiner Frauen“ ein fleißiger Theaterbesucher gewesen war. Dieser aber glaubte, P. habe die Predigt, um ihn zu beschimpfen, gehalten und wurde sein eifriger Verfolger.

Zunächst erreichten die Gegner nichts. Das fürstliche Consistorium verbot beiden Theilen weder für noch gegen den Chiliasmus zu predigen. Aber 1691 wurde P. mit der schwärmerischen R. J. v. Asseburg (s. A. D. B. I, 622]]) bekannt, die in ihren Visionen Offenbarungen zu erhalten glaubte. P. reiste zu ihr nach Magdeburg mit seiner Frau; ihre „Bezeugungen“, die er für göttlich hielt, bestätigten sein Lieblingsthema. Er nahm sie in sein Haus auf und veröffentlichte die „Species facti von dem adlichen Fräulein … von der Asseburg“, wobei er die Frage behandelte, „ob Gott nach der Auffarth Christi nicht mehr heutiges Tages durch Göttliche Erscheinung den Menschen-Kindern sich offenbahrn wolle, und sich dessen gantz begeben habe“. Vor das Consistorium gefordert, wurde P. im Januar 1692 abgesetzt: binnen vier Wochen sollte er mit seiner Familie Stadt und Land Lüneburg verlassen. Es war ein harter Winter, P. hatte kein Vermögen: er tröstete sich aber, „daß alle Dinge denen, die Gott anbeten, zum besten dienen“. Zunächst begab er sich nach Braunschweig, dann nach Wolfenbüttel. Hier erhielt er bald, wie er wörtlich berichtet, einen Brief von dem ihm früher ganz unbekannten Kammerpräsidenten zu Berlin von Knyphausen (s. d.) mit dem Inhalt, „daß er aus der Species facti die Göttlichkeit der Asseburgischen Bezeugungen erkennete“. P. sollte mit seiner Familie nach Magdeburg kommen und sich daselbst niederlassen, der Kurfürst Friedrich III. würde ihn beschützen; [511] eine Pension von 700 Thalern wurde ihm gleich in Aussicht gestellt. In Berlin wurde dann P. mit Knyphausen persönlich bekannt. Vornehme Gönner, darunter auch Eberhard v. Danckelmann (s. d.), ermöglichten ihm, sich ein kleines Landgut bei Magdeburg in Nieder-Dodeleben zu kaufen. Seine „Eheliebste“ war mit ihm besonders thätig, „daß der durch die Pachtleute verwilderte Acker wieder in Stand käme“. Seine Meinungen vertrat er nun erst recht mit Feuereifer. Die Lehre vom tausendjährigen Reich fand zwar viel Beifall, besonders in Holland und England, aber auch „viele Wiedersprache“. Sein „lateinisches erstes Scriptum wider den Prof. Meier in Helmstedt“ widmete er der Baroneß v. Gersdorf. Es ist die Großmutter Zinzendorfs, des Stifters der Brüdergemeinde (A. D. B. IX, 55). Unter seinen Feinden, die P. „von Jahr zu Jahr widerleget“, sind besonders zu nennen: Calixtus in Helmstedt; der einflußreiche Vertreter der lutherischen Orthodoxen Joh. Friedr. Mayer in Hamburg (s. d.); der als friedfertig geltende J. Fecht (s. d.) in Rostock, den P. den Rostockischen Ketzermacher nennt und gegen den er lateinisch schrieb: „Rana coaxans in furioissimo haeretifice Johanne fechtio …“; endlich Erdmann Neumeister (s. d.), der auch als Liederdichter bekannte rechtgläubige Theologe, dem P. die Schrift entgegenhielt: „Zaum und Gebiß dem unseeligen Lästerer Erdmann Neumeistern ins Maul geleget.“ Als Mayer in Hamburg eine Religionsformel (1690) vertheidigte, die alle Geistlichen unterschreiben sollten, und die den Chiliasmus, „er sey subtilis oder crassus“, verwarf, verweigerten drei pietistisch gesinnte Geistliche in Hamburg die Unterschrift: Spener, der gegen Mayer schrieb, erklärte sich entschieden gegen die Formel, und wie P. erzählt, rieth Spener, man sollte mit P. ein öffentliches Collegium halten, auf daß man erfahren könnte, ob diese Meinung in der heiligen Schrift Grund hätte oder nicht. 1695 erschien von P. zu Magdeburg seine „Bezeugung vor der gantzen Evangelischen Kirche“, daß seine Lehre nichts gemein habe mit den „Irrthümern des Cerinthi noch mit den Jüdischen Fabeln“. Als die Theologen Wittenbergs in ihrer „christlutherischen Vorstellung in deutlichen und aufrichtigen Sätzen“ Spener angriffen und ihr Lutherthum, nach Karl Hase’s Ausdruck, altersschwach vertheidigten, erschien Petersen’s „Freudiges Zujauchtzen der erwehlten Fremdlinge hin und her über den Sieg D. Speners wieder die Theologen zu Wittenberg.“ Berlin 1695 bey Hr. Rüdigern.

Trotzdem daß manche Regierung „die Ketzereien“ Petersen’s keineswegs verdammte, wagte doch keine, den begabten Mann wieder in ein Amt zu setzen. Er hat sein noch übriges Leben mit eifrigen Studien und mit Abfassung seiner sehr zahlreichen Schriften hingebracht – im J. 1717 zählt er selbst schon weit über 100 Schriften auf. Ueber Verleumdungen und niedrige Nachreden tröstete ihn wie seine Frau die treue Anhänglichkeit der Gönner in allen Kreisen. Häufig machte er Reisen, meist im Dienste des Pietismus, auch nach Süddeutschland. Auf einem Ausflug nach Nürnberg und Altdorf wurde er von den Professoren gut aufgenommen, besonders auch von dem „berühmten“ Omeis; dieser Polyhistor leitete von 1697 an den von Harsdörfer gestifteten Blumenorden an der Pegnitz (A. D. B. XXIV, 347). Sie nahmen P. wie seine Frau „in die Blumengesellschaft oder Pegnitz-Schäfer auf, da ich den Namen Petrophilus und meine Liebste den Namen Phoebe bekommen hat“. Im J. 1718 besiegt er mit A. H. Francke den Jesuiten Schmeltzer in mehreren Religionsgesprächen, und es gelang ihnen, den Herzog Moritz Wilhelm von Sachsen-Zeitz zum lutherischen Glauben zurückzuführen. Sein Gut bei Magdeburg hatte P. wegen mancher mißlichen Verhältnisse verkauft; er zog sich nach Thymern bei Zerbst zurück, wo er die letzten Jahre seines Lebens zubrachte. Er starb am 31. Januar 1727. Nur drei Jahre hatte er seine Frau überlebt.

[512] Diese hat in ihrer Selbstbiographie (s. u.) kürzer als der Gemahl über ihre Schicksale berichtet. Eine ernste, kräftige Natur, die gegen Verflachung und Rohheit der Zeit sich auflehnte, wurde sie durch harte Erfahrungen zur Versenkung in ihr Inneres getrieben, zu übertriebener Weltverachtung: endlich ward sie eine überzeugte und entschiedene Anhängerin der „Pietät“. Nicht mit Unrecht schließt Gustav Freytag aus ihrer Biographie, daß sie nicht frei von Ehrgeiz und nicht ohne einen Beisatz von herber Strenge war.

Von zarter Kindheit an, so erzählt sie selbst, habe sie den Geist Gottes empfunden, aber ihm aus Unwissenheit oft widerstrebt, in ihrem Adelstand Hindernisse bereitet, bis der Verstand herbeikommen, „da das heilsame Wort seine kräfftige Ueberzeugung in mir gewürcket“. Johanna Eleonore v. Merlau wurde am 25. April 1644 geb. zu Frankfurt a. M. Die geliebte Mutter starb, als sie ins neunte Jahr ging. Der Vater begegnete ihr hart, strafte oft unschuldig, „darüber ich solche knechtische Furcht bekam, daß ich zusammenfuhr, wo ich nur eine Stimme hörte, so der meines Vaters ähnlich war“. Zwölfjährig verließ sie schon das Elternhaus; als „Hofjungfer“ that sie in gräflichen Häusern Dienste. Zuletzt kam sie zu der Herzogin von Holstein, einer geborenen Landgräfin von Hessen. Sie erzählt, daß sie an den Eitelkeiten der Welt Gefallen hatte, als geschickte Tänzerin vor Allen den Preis gewann: ein Unglückliches Liebesverhältniß mit einem Officier brachte sie zu tieferem Nachsinnen. Sie bemerkte, daß „unter Edelleuten großer Mißbrauch wäre, so dem Christenthum gantz und gar zuwider“. Ihre Gedanken „wendete sie vom Heyrathen gantz ab“. Ein Geistlicher in höherem Amte bewarb sich um sie, sie überließ dem Vater die Entscheidung. Das Nein desselben „nahm jener Geistliche an und gab sich zufrieden.“ Indes hatte sie am Hofe als Braut gegolten: „da hatte ich wieder eine neue Schmach in meinem hertzen.“

Wie in dem Leben ihres Mannes, wurde auch in dem ihrigen Spener von hervorragendem Einfluß. Denn auf einer Reise, die sie mit ihrer Herrschaft nach Ems machte, wurde sie mit dem „Gottesmann“ bekannt. Spener ist es, von dem sie erzählt, daß er so große Einsicht hatte und bis auf den Grund ihres Herzens sehen konnte. Der „Abscheu vor der Welt“ wurde immer größer in ihr. „Ach, dachte ich offt, daß ich doch eines Vieh-Hirten Tochter wäre, … es wäre kein Aufsehen auf mich.“ Fest entschlossen begehrte sie endlich ihre Entlassung von der ihr lieben Herzogin. Zwar blieb sie noch drei Jahre, aber „alle vergängliche Lust hatte sie von sich abgelehnt“. Der Vater begehrte sie nach dem Tode der Stiefmutter. Da er jedoch Hofmeister bei der Fürstin von Philippseck wurde, bekam sie Freiheit, sich bei einer vornehmen, „gottseligen“ Wittwe „in die Kost zu begeben“. So lebte sie sechs Jahre, da bewarb sich, wie oben erzählt, P. um sie, „der mich etliche Jahre zuvor in Frankfurt gesehen“.

Die himmlischen Erleuchtungen und „Bezeugungen“ kamen beiden Ehegatten unabhängig von einander. Noch im ledigen Stand, erklärt sie, seien ihr mehrere Geheimnisse aufgeschlossen; besonders berichtet sie über einen Traum im J. 1664, die Bekehrung der Juden und Heiden betreffend. Sie konnte es von ihrer frühen Jugend an nicht fassen, „wie Gott, der die wesentliche Liebe ist, so viel in die unaufhörliche Verdammniß verdammen sollte“.

Was aber ist der Kern der Lehren Petersen’s? Das tausendjährige Reich steht nach ihm noch bevor: in nicht zu ferner Zeit wird Christus erscheinen, dann erfolgt die erste Auferstehung der Todten. Weiter aber kam P. zur Erkenntniß der „Wiederbringung aller Dinge“. Vorher, sagt er, hatte er gemeint, daß die, so in den feurigen Pfuhl kämen, gar keine Erlösung daraus zu gewarten hätten. Nun lehrte er, daß alle Dinge wieder in den Stand kommen, [513] in welchem sie vor der Entstehung des Bösen waren. Das ganze Menschengeschlecht wird zur Seligkeit gelangen, eine Buße der Verdammten und eine Erlösung von der Höllenstrafe sei zu erwarten. In seiner Schrift „Mysterium Apocatastaseos oder das Geheimnis der Wiederbringung aller Dinge“ ist er in der Vorrede des 3. Bandes überzeugt, „daß diese Wahrheit so wenig als die Sonne, wann sie auffgehet in ihrer Macht, kann außgeblasen noch untergedrucket werden“. Gegen seine Gegner, die „Ketzermacher“, hebt er hervor (S. 39 ib.), er habe längst nebst dem Herrn Dr. Spener selig bewiesen, daß die Lehre von dem Apocalyptischen gesegneten tausendjährigen Reich in dem 17. Artikel der Augsburgischen Confession nicht verdammt sei, „weil ich weder ein Cerinthisches noch Müntzerisches Reich glaube“.

Unter dem Drucke der Zeit, sagt Herder, unter der Streitsucht der Mächtigen wie der Gelehrten sah man das tausendjährige Reich nahen. Man wünschte und berechnete seine Ankunft. P., ein heller Kopf bei einem sanften Herzen, so urtheilt er ferner, wurde durch seine Verfolger dahingebracht, daß er einer Hoffnung, die ihm sonst angenehme Hypothese geblieben wäre, zu viel Raum gab und sie sich zu nahe einbildete; ihre Zeit aber bestimmte er nie.

Ob an P. übrigens diese schon öfters vor ihm angedeuteten Lehren durch Ueberlieferung gekommen sind, oder von ihm, wie er behauptet, selbstthätig entdeckt sind, das ist nicht zu entscheiden.

P. war ein Mann von Gemüth, Phantasie und von dichterischer Begabung. Gegenüber den starren Buchstäblern war er gleich Arnold, Spener und Anderen von der Ueberzeugung durchdrungen, daß die Kirche eine Erneuerung nöthig habe, daß das Christenthum eine Religion des Herzens und der That wieder werden müsse. Er gehört zu den Vertretern des älteren Pietismus, welche in Sehnsucht nach einem lebendigen Glauben, in der tapferen Behauptung der eigenen sittlichen und religiösen Persönlichkeit, in ihrer Weise einer freieren Zeit vorgearbeitet haben. Weniger besonnen, weltgewandt und maßvoll als Spener, auch weniger frei von Eitelkeit, war er ihm doch gleich an Rechtlichkeit und Gutherzigkeit. Er hatte wirklich eine „liebreiche Complexion“, wie er treuherzig von sich selbst sagt. Wenn er gegen seine Gegner zuweilen derbe Ausdrücke gebraucht, so muß man an die grobe Sprache der theologischen Klopffechter denken, an die Gereiztheit des böslich Verleumdeten und Verfolgten. Spener bezeugte noch kurz vor seinem 1705 erfolgten Tode von P., daß er ihn für einen aufrichtigen und frommen Mann halte, ob er auch „manches anders von ihm geschehen gewünscht, auch mit einigen Dingen zurückzuhalten geraten habe“. Gewiß, Selbsttäuschung, Wundersucht und Einbildung, daß die Vorsehung mit besonderer Vorliebe für den Liebling in jedes Ereigniß des Lebens eingreife, sind auch bei ihm zu finden; „viel Wortgeklingel frommer Redensarten“ auch bei ihm, was K. Hase von der ganzen Richtung äußert. Aber in seinen Gedanken wie in seinen Handlungen sind der menschenfreundliche Sinn und ein tiefes Verständniß für das Wesentliche aller religiösen Empfindung nicht zu verkennen. Hat nicht Leibnitz, haben nicht Lessing und Herder sich mit Recht der „Enthusiasten“ angenommen? Von den Gebrechen und sogar den Lastern des späteren Pietismus ist P. frei zu sprechen. Wir stehen auf seiner Seite, wenn er den Verfolgungseifer der hochmüthigen Gegner geißelt, welche, statt ihn geistig zu bekämpfen, mit weltlicher Gewalt ihn mundtodt machen wollten. In der genannten Schrift, Bd. 3, § 46, spricht er von dem pharisäischen Geiste der Ketzermacher, die mit kurzer Hand abfertigen und aus den Grenzen verweisen: unter dem Papstthum selbst könnte man keine geschickteren Werkzeuge antreffen.

Wenn Friedrich III., getreu der Ueberlieferung seines Hauses, Duldung übte [514] gegen den als Ketzer Verfolgten, so handelte er nach dem Grundsatz, welchem später sein großer Enkel im „Anti Macchiavell“ Ausdruck gab: „laisser à chacun la liberté de conscience; être toujours roi et ne jamias faire le prêtre.“ Mit demselben Rechte aber, mit dem Friedrich III. P. schützte, trat der große Friedrich gegen die Ausartungen und die Streitsucht des zur Herrschaft gelangten späteren Pietismus auf, gegen die „Hallischen Pfaffen“.

Das Verdienst Brandenburgs erkennt der unbestochene Herder, wenn er von jener Zeit redend und auf P., Francke, Arnold, Dippel hinweisend, äußert, Brandenburg habe sich seit der Reformation in Ansehung der Religionen ebenso weise als gerecht betragen. „Diesem Geist der Duldung“, fährt er fort, „stimmte damals, wie immer, der bessere Theil der Menschen wenigstens insgeheim bei; des alten Wustes im Dogmatisiren und Verfolgen war man müde. Auch wo sie unvorsichtig irre ging, nahm man an der Tendenz zum Neuen, zum Freien, zum Verständlichen, zum Bessern in den Ländern Brandenburgs Antheil.“

Herder urtheilte auch über Petersen’s Dichtungen sehr günstig, nicht minder Lessing. Außer lateinischen Hymnen, welche in deutschen Uebersetzungen auch in Gesangbücher übergingen, verfaßte P. eine „Uranias, de operis Dei magnis …“ (1720), angeregt durch Leibniz, den er in Berlin persönlich kennen gelernt hatte. Ein Art poetischer Theodicee und zugleich Messiade, besingt dieses Epos die Werke Gottes von Beginn der Welt bis zur Apokatastasis. In der Vorrede bekennt P. selbst, wie viel er dem Rathe und der Anregung magni illius viri, illustrium eruditorum facile prinicipis zu danken habe. Noch Haller gedenkt in einer Recension der christlichen Epopoe Petersen’s und der sorgsamen Feile Leibnizens. „Voll trefflicher Stellen“, äußert Lessing, „ist Petersens Uranias; und was kann man mehr zu ihrem Lobe sagen, als daß Leibniz sie zu verbessern würdigte?“ Petersen’s lateinische Gedichte übrigens hatten – wie Jöcher mittheilt – Venzky in Halberstadt und Küster in Berlin unter dem Titel Carmina Peterseniana herausgeben wollen, allein das Vorhaben ist nicht ausgeführt.

Deutsch erschienen von P.: „Der Stimmen aus Zion Erster und Ander Theil: Zum Lobe des Allmächtigen, im Geist gesungen, und nunmehro zum andernmal herausgegeben“ 1698 o. O. (Die erste Ausgabe nach Goedeke 1696.) Ferner „Neue Stimmen aus Zion“ 1701 o. O. Diese prosaischen Lieder, wie Lessing sie nennt, sind freie Dichtungen, nicht etwa Bearbeitungen: ein jeder Theil enthält 100 Psalmen, im Ganzen 300. Ueber jedem eine Ueberschrift; eine allgemeine Melodie ist dem ersten Psalm beigefügt, „nach der alle anderen, wie auch die Psalmen Davids, können gesungen werden“ (Vorrede Petersens).

Eigene Erfahrungen und Empfindungen spricht er in einer schlichten, durch kräftige Bilder belebten Sprache aus, tapfer für seine gottseligen Brüder eintretend. So beginnt gleich der 48. Psalm, mit der Ueberschrift gegen die Doegiter die so frech und stolz sich gegen die Kinder Gottes auflehnen: „Was trotzest du, o Tyrann, und verlässest dich auff deinen Arm? Was schnaubest du gegen die Stillen im Lande?“

Manche seiner Stimmen aus Zion lassen sich, so schreibt Herder, wie Idyllen lesen; „liebliche Bilder voll reiner Empfindung und hoher Wahrheit“. In Herders „Christlichen Hymnen und Liedern“ (Sch. z. Litt. u. K. 4, 141 f.) findet sich ein Gedicht: „Die Gemeine des Herrn. Nach Petersen.“ In der That hat Herder ein Lied desselben mit nicht wesentlichen Aenderungen und Kürzungen benutzt aus Petersen’s „CCC Stimmen aus Zion … nach gewöhnlichen Melodeyen in förmliche Lieder übersetzet“ 1721 o. O. Die oben genannten 300 Psalmen in ungebundener Sprache hat P. in Verse gebracht: wie der Inhalt sind die Ueberschriften ganz dieselben wie in dem oben genannten Werke. Herder hat, wie [515] ich hier nur kurz bemerken kann, das 13. Lied Petersen’s mit der Ueberschrift „Die wunderbare Gemeinschafft der oberen Kirche mit der Kirche auf Erden“ u. s. w., S. 41–44, vor Augen gehabt.

Diese „förmlichen Lieder“ verdienen mehr Beachtung, als ihnen bisher in der Litteraturgeschichte zu Theil geworden ist. Neben trefflichen Stellen fehlt es freilich bisweilen auch ihnen nicht, wie den pietistischen Liedern überhaupt, an Geschmacklosigkeit; man lese z. B. Psalm 96 des 3. Theiles, entsprechend dem prosaischen Psalm 96 des 3. Theiles S. 217. Allein außer Herder hat noch ein großer Kenner P. vor unverdienter Geringschätzung geschützt. Lessing, der ganze Stellen aus Psalm 43 und 82 der Beachtung seiner Leser empfiehlt, vergleicht Petersen’s Dichtung mit Wieland’s „Empfindungen des Christen“ und meint: „Wieland ist reich an Blümchen, an poetischem Geschwätze, Petersen an starken Gedanken, an großen Gesinnungen, ohne Zwang, ohne Schwulst. Beide haben die Sprache der h. Schrift zu brauchen gewußt, nur daß sie Petersen in ihrer edeln Einfalt gelassen, Wieland aber durch affectirte Tiefsinnigkeiten … verunstaltet hat. Und gleichwohl sind Petersen’s Stimmen gar bald verachtet und vergessen worden. Denn Petersen war ein Schwärmer!“

„Das Leben Jo. Wilhelmi Petersen … 1717 o. O. auf Kosten guter Freunde.“ Verzeichnis seiner Schriften S. 368–394. – „Leben Frauen Joh. Eleonora Petersen 1718 o. O. auf Kosten guter Freunde“ (68 S.). II. Auflage 1719 (ich habe die erste benutzt). – Jöcher, Allg. Gelehrtenlex. 1751, III, 1421–1423. – Ersch und Gruber (von Döring), III, 19. Theil. – Herzogs Real-Encykl., 11. Bd. (1883), S. 499 f. – Koch, Gesch. d. Kirchenlieds, I, 6. Bd. (1869), S. 121 f. – Kürschner, Dr. J. W. Petersen, Eutin 1862, Progr. – K. Hase, Kirchengesch., 1877, 10. Aufl., S. 506 f. – A. Ritschl, Gesch. d. Pietismus, I, 407; II, 1, (1884) S. 225 f. – Hirzel, Hallers Gedichte, 1882, S. 308. – Gustav Freytag, Bilder a. d. d. Verg., IV (1879), S. 27 f. – Herders Adrastea, Werke, herausgegeben von Suphan 23, 458 und 491 f. – Lessing’s Werke (Hempel) IX, 51 f. – Die Bibliothek des Joachimsthalschen Gymnasiums bei Berlin enthält, wie mir Dr. Bolte mittheilt, Petersiana in 2 Bänden, die Küster gesammelt hat. –