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Artikel „Neumeister, Erdmann“ von Max von Waldberg in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 543–548, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Neumeister,_Erdmann&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 03:47 Uhr UTC)
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Band 23 (1886), S. 543–548 (Quelle).
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Neumeister: Erdmann N., hervorragender lutherisch-orthodoxer Theologe und Kirchenliederdichter, wurde als das vierte Kind seiner Eltern am 12. Mai 1671 zu Uechtritz, einem Dorfe bei Weißenfels, geboren. Sein Vater Johann N. war daselbst Ludimagister, Custos und Organist, später auch Wirthschaftsschreiber und Verwalter auf den ausgedehnten v. Pöllnitz’schen Gütern. N. genoß bis zu seinem vierzehnten Lebensjahre, wegen der großen Bedürftigkeit seiner Familie nur einen kümmerlichen Unterricht. Erst 1685 schickte ihn sein Vater zur Landesschule nach Pforta, von wo er nach erfolgreicher vierjähriger Vorbildung die Hochschule in Leipzig bezog. Er studirte daselbst Theologie und habilitirte sich 1695 als Magister legens an der Universität, nebenbei sein theologisches Studium fortsetzend. Seine Magisterarbeit: „Specimen dissertationis historico-criticae de poetis germanicis hujus saeculi praecipuis“, 1695, ist ein alphabetisch angeordnetes kritisches Verzeichniß der hervorragendsten Dichter des siebzehnten Jahrhunderts, das aber nicht nach der akademischen Sitte jener Zeit mit erborgtem Wissen prunkt, sondern eine reiche Belesenheit in der schöngeistigen Litteratur jenes Jahrhunderts zeigt. Sein Urtheil ist sehr scharf, in der Form oft allzuderb, aber zumeist gerecht und häufig mit feinem poetischem Verständniß geäußert. Die Schrift erregte ein außerordentliches Aufsehen, das sich nicht nur in der Nothwendigkeit neuer Auflagen und im Erscheinen eines unberechtigten Wittenberger Nachdruckes, sondern namentlich in zahlreichen polemischen Gegenäußerungen bemerkbar machte. Besonders empfindlich zeigten sich die älteren poetisch dilettirenden Geistlichen, die es nicht vertragen konnten, daß ein junger Theologiebeflissener sie durch „frühzeitige und hochmüthige Censure aufs neue meistern wolle“. Sehr scharf gestaltete sich der litterarische Streit mit dem auf S. 4 der Diss. strenge beurtheilten J. G. Albini dem Jüngeren, der in einer in Erfurt gehaltenen „Disputatio pro licentia“ derb replicirte und N. zu einer „Defensionsschrift wider J. G. Albini dem Jüngeren“, 1695, reizte. Dieses Gezänke nahm einen derartigen Umfang [544] an, daß endlich die akademischen Behörden in Leipzig eingreifen mußten. Ebenso wetterte M. D. Omeis in seiner „Gründlichen Anleitung zur deutschen acuraten Reim- und Dichtkunst“ (1712) S. 55 gegen Neumeister’s Urtheil über M. Kempe und die Pegnitzschäfer.

Die Frucht von Neumeister’s Vorlesungen an der Leipziger Universität war die „Allerneueste Art zur reinen und galanten Poesie zu gelangen“, 1707, die ohne sein Wissen und wider seinen Willen von Menantes d. i. Ch. F. Hunold (s. A. D. B. XIII, 419) der Oeffentlichkeit übergeben wurde. Die Autorschaft dieses Buches ist von N. befreundeter Seite, wegen des häufig lasciven Inhaltes für ihn geleugnet worden, aber nicht nur die zahlreichen zeitgenössischen Aeußerungen, die bestimmt lautenden Erklärungen Hunold’s und die Mittheilungen in den Geheimen Nachrichten und Briefen von Herrn Menantes Leben und Schrifften, Cöln 1731, S. 100 ff., sondern vor allem die dort enthaltenen Gedichte, deren Verfasser N. notorisch ist, sprechen dafür, daß kein anderer als er selbst der Urheber dieses Buches sei, und Hunold höchstens Einzelnes umredigirt haben mag. Die Schrift (sie erlebte 6 Auflagen) ist eine Poetik, die mit den zahlreichen gleichartigen Werken jener Zeit viele Geschmacklosigkeiten, Rohheiten und Erotika gemein hat, aber alle durch flotte humoristische Darstellungsweise übertrifft. Die Allerneueste Art etc. umfaßt aber nicht nur, wie der Titel vermuthen läßt, die zur sogenannten galanten Poesie gehörenden Formen der Dichtkunst, sondern bietet auch Belehrung über die Technik der Oper und der geistlichen Lyrik. Die zahlreichen Belege und praktischen Beispiele für die theoretischen Auseinandersetzungen sind von N. selbst gedichtet worden. Er zeigt in ihnen eine selbst für jene Epoche der Formgewandtheit, seltene Virtuosität in der Behandlung der Reime und Verse. Seine Dichtung ist trotz seiner Vorliebe für lehrhafte Wendungen und gnomische Pointen, von einer, bei einem so kirchlich gesinnten Manne überraschenden Weltfreudigkeit und Genußsucht. Seine leichten Lieder und Gedichte gehören der vom Hôtel de Rambouillet beeinflußten galanten Richtung in der Lyrik des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts an, und halten in ihrem Ausdruck die glückliche Mitte zwischen dem schweren marinistischen Metapherpomp, den Antithesen und der Concettiwuth der sogenannten zweiten schlesischen Schule und der derb volksthümlichen an die Tradition des Gesellschaftsliedes anknüpfenden Richtung eines Christian Weise. Das Versmaß und die Behandlung der Reime sind von einer seltenen Genauigkeit, unter der manchmal der Inhalt leidet, die Rede glattfließend, immer zum Schlusse – nach der Theorie der wesentlichste Bestandtheil des Gedichtes – hinstrebend. Er weiß geschickt mit dem Refrain zu spielen und verwendet oft dazu inhaltlich nichtssagende Sprüche, die sich manchmal kaum von den, musikalischen Zwecken dienenden Kehrreimfüllsilben unterscheiden. – Neumeister’s Gedichte sind in den bedeutenderen Anthologien jener Zeit zu finden. Die hervorragendsten und charakteristischsten sind in der von B. Neukirch herausgegebenen Sammlung „Des Herrn von Hoffmannswaldau und anderer Deutschen auserlesene und bisher ungedruckte Gedichte“, 1695 ff., in den verschiedenen Gedichtsammlungen des Menantes und in Erdmann Uhsen’s[WS 1] Musen-Cabinet, 1715, enthalten. Er selbst hat in den späteren Jahren diese poetischen Erzeugnisse, die meistens seine Initialen E. N. tragen, nicht erwähnt, und sich öffentlich nur zu einem den Gedichten Philanders v. d. Linde (J. B. Mencke) vorgedruckten Poem bekannt. Zwei größerere quodlibetartige Dichtungen stammen aus früher Zeit, das „Lobgedicht des sogenannten Bauernhundes … zu Weißenfels“ o. O. u. J. (wo der Hans von Rippach zuerst litterarisch belegt ist) und der „Schöne Raritätenkasten“ etc., beide ziemlich unbedeutender poetischer Mischmasch.

[545] Verschiedene Anträge die Theologie zu verlassen, schlug N. entschieden aus und nahm 1697 eine Stelle als Hilfsprediger zu Bibra in Thüringen, 1698 eine als Pastor und Superintendenturadjunct in Eckartsburg und 1714 als Hofdiakon, später Hofprediger des Herzogs Johann Georg von Weißenfels, an. Er ertheilte auch bei Hofe Religionsunterricht und als die Schwester des Herzogs sich mit dem Grafen Erdmann von Promnitz vermählte, berief ihn dieser als Consistorialrath und Superintendenten nach Sorau, wo er am Neujahrstage 1706 sein neues Amt antrat. Hier wirkte N. unter den schwierigsten Verhältnissen und seine noch ungedruckten Briefe an Valentin Ernst Löscher (s. A. D. B. XIX, 209) – die den Zeitraum vom 1. Mai 1708 bis 3. September 1747 umfassen, – enthalten eine wahre Leidensgeschichte seiner dortigen geistlichen Thätigkeit. Die mächtige geistige reformatorische Bewegung, die man mit dem Namen Pietismus bezeichnet, und die weit über das Gebiet der theoretisch theologischen Discussionen hinaus ins gesellschaftliche Leben eingriff, hatte an den Höfen der kleineren deutschen Grafengeschlechter, besonders in der Niederlausitz einen fruchtbaren Boden gefunden und namentlich in Sorau, wo Graf Erdmann derselben zuneigte, viel Unruhe und Erregung angerichtet. N., der starr auf dem Boden der Rechtgläubigkeit stand, kämpfte mit jugendlicher oft unkluger Heftigkeit, poetisch, homiletisch, und durch Flugschriften, gegen die pietistischen Schwärmereien, namentlich gegen die in Schlesien so verbreitet gewesenen Kinderbetstunden, gegen die collegia pietatis, und die „Pietistenintriguen der Schwärmer und des Patriarchen der Enthusiasten D. Petersen“. Letzterer hatte sich als M. Wilhelmi, Prediger aus dem Magdeburgischen, bei ihm eingeschlichen und eine resultatlos verlaufene Disputation über die Anwesenheit und Betheiligung von Judas bei der institutio s. coenae abgehalten, woran sich eine überaus heftige litterarische Polemik anschloß. Petersen gewann aber in Sorau immer mehr an Einfluß, und N., der nach erfolgreicher in Freistadt vor 12 000 Zuhörern abgehaltenen Predigt einen glänzenden Ruf dahin erhielt, entschloß sich nur mit schwerem Herzen „aus Furcht vor einem verdächtigen Successor“ im Kampfe gegen die „fanatischen Schwärmer“ auszuhalten.

Doch die fortwährenden Kränkungen, die immer mehr um sich greifende Macht der „Erweckten“, die unaufhörlichen Kämpfe, die selbst zu mehrfachen Amtssuspendirungen führten, zwangen ihn das Feld zu räumen und 1715 eine Berufung nach Hamburg als Pastor primarius und Scholarch als Nachfolger Johannes Riemer’s anzunehmen. Es lebt noch heute in Sorau die Sage, daß N. beim Weggehen haßerfüllt eine Verwünschung des gräflichen Schlosses ausgesprochen habe, die auch später wörtlich eingetroffen sein soll. In seinem neuen Wirkungskreise war der Boden günstiger für die Orthodoxie als in Sorau. Er begann außerordentlich zu wirken und neben einer ausgedehnten homiletischen Production, neben der Veröffentlichung zahlreicher Kirchenlieder und einem anstrengenden seelsorgerischen Dienste fand er Muße sich fast mit jeder wichtigeren theologischen Streitfrage jener Zeit zu beschäftigen und eine lebhafte polemisch litterarische Wirksamkeit zu entfalten.

N., der in seinen Studienjahren nicht frei von pietistischen Anfechtungen war, begann hier, unterstützt von gleichgesinnten Freunden, insbesondere v. Seb. Edzardi (A. D. B. V, 652), einen ebenso erbitterten als ausdauernden Kampf gegen den Pietismus und dessen Lehrmeinungen. Während sein Freund Löscher „an Eifer für die Orthodoxie ein Elias, an Liebe und Sanftmuth ein Johannes“ maßvoll den rechtgläubigen Standpunkt vertheidigte, nicht blind gegen die Einseitigkeiten seiner Richtung war, sich hauptsächlich gegen die Auswüchse der Spener’schen Lehre wandte und in den letzten Jahren Spener und Francke gar [546] nicht angriff, hatte N. in seinem blinden Hasse gegen diese religiöse Strömung mit einem fast maßlosen Zorne und unbarmherziger Rücksichtslosigkeit gegen alle mit ihr in Verbindung stehenden geeifert und weder Ansehen noch Person geschont. In einer großen Reihe von Kampfschriften, die er unter eigenem Namen, anonym, unter Pseudonymen, wie Adam Francke, Meuerstein, J. G. Adami, Martini, L. Ch. Sturm u. a. veröffentlichte, in zahlreichen Vorreden zu den Werken seiner getreuen Mitstreiter, J. F. Meyer, Edzardi, Gerhard Meyer, Ch. Crusius u. a. hatte er mit einem von Leidenschaft getragenen Pathos, unterstützt durch gründliches theologisches Wissen, die wichtigsten Streitpunkte behandelt. Gegen die Lehre von der Hoffnung besserer Zeiten, dem daran geknüpften Chiliasmus und dem Terminismus wurde mit Eifer gekämpft. Am heftigsten wendete er sich gegen die calvinistischen Glaubenslehren und sein „Kurzer Beweis, daß das jetzige Vereinigungswesen der sogenannten Calvinisten dem ganzen Katechismo schnurstracks zuwiderlaufe“, kam 1721 nicht nur mit Genehmigung des Hamburger Ministeriums heraus, sondern wurde auch in fremde Sprachen, z. B. ins Holländische, übertragen. Den preußischen, von Friedrich I. geförderten Unionsbestrebungen zwischen der lutherischen und reformirten Kirche stand er selbstverständlich sehr feindlich gegenüber. Am hervorragendsten unter seinen polemischen Broschüren war der „Kurze Auszug Spenerischer Irrthümer“, die durch die Schärfe des Tones, glücklich gewählten Ausdruck und feste Ueberzeugungstreue allgemeines Aufsehen erregte, in Sachsen verboten wurde und den Kampf, der etwas nachgelassen hatte, wieder entfachte. Ueberhaupt wurde N. eine immer mehr in den Vordergrund gedrängte Persönlichkeit in den theologischen Wirren jener Zeit. Seine Schriften haben aber mehr durch die kühne Polemik angeregt als sachlich die Discussion der Streitfragen gefördert, und das einzig bleibende seiner theologisch litterarischen Thätigkeit ist, wenn wir vom Kirchenliede absehen, der große Katechismus, den der 71jährige Mann auf vielseitige Anregung herausgab, um die zweifellosen Verdienste, die sich Spener mit seinen „tabulae catecheticae“ um den katechetischen Unterricht erworben hat, wett zu machen. Wo die Milde wie im Timotheus Verinus von Löscher nicht wirken konnte, da ging auch die Heftigkeit, mit der N. die symbolischen Bücher vertheidigte oder die sogenannte „schriftmäßige Betrachtung des Lehr-Elenchus“ des Dresdner Oberhofpredigers Dr. Bernhard Marperger als nicht schriftmäßig angriff (1728), ohne nachhaltigen Eindruck vorüber und viel mehr als Aufsehen erregenden Theologenhader oder vorübergehende Sensation war er zu erreichen nicht im Stande. –

Er war als kampfbereiter Streiter so bekannt, daß ihm auch häufig Schriften, denen er vollkommen fernstand, zugeschrieben wurden. So die von der Gottschedin nach Bougeant’s „La femme docteur“ bearbeitete „Pietisterey im Fischbeinrocke“, oder die Oper „Adelheid“. Gegen den letzteren Vorwurf, den Dippel zuerst aussprach, vertheidigte ihn 1733 Mattheson. Bei dem vorhergegangenen berüchtigten Hamburger Opernstreite zwischen dem Pastor Reiser und dem Schauspieler Rauch und dem zwischen den Pastoren Winkler und Mayer, bei dem sogenannten Präcisismus der Pietisten, welche die adiaphora, d. i. die Mitteldinge, nicht anerkennen wollten, waren solche Anschuldigungen nicht ohne Tendenz, aber N. wußte seine Gegner meist durch energische Gegenangriffe zu übertrumpfen. Er wurde auch als Verfasser eines damals sehr verbreiteten holländischen Pasquills gegen Thomasius genannt, was jedoch in der 1724 herausgekommenen „Abfertigung einiger wider den hochberühmten Theologen zu Hamburg E. N. hochverdienten Pastoren zu St. Jacob herausgekommenen Lästerschriften“ zurückgewiesen wurde. –

Zahlreiche Pasquille in deutscher, französischer, holländischer, ja englischer Sprache wurden von pietistischer Seite gegen ihn verbreitet, deren Wirkung N. [547] nur durch eine noch größere litterarische Thätigkeit überbieten konnte. Er hat, wenn man seine Gedichte, Kirchenliedersammlungen und Predigten dazurechnet, weit über 200 Schriften veröffentlicht und dabei läßt sich sein Antheil an den drei theologischen Zeitschriften Löscher’s gar nicht bis ins Einzelne feststellen. Bei seiner ausgedehnten polemisch-litterarischen Thätigkeit versäumte er jedoch nicht die Pflichten seines Amtes und die zahlreichen Predigtsammlungen geben Zeugniß von seiner unermüdlichen Wirksamkeit nach dieser Richtung hin. Merkwürdigerweise haben seine Predigten bei den Zeitgenossen die wenigste Anerkennung gefunden. Sie mögen allerdings durch ihren pedantischen Aufbau in der Lectüre ermüden, werden aber gesprochen nicht ohne Wirkung gewesen sein. N. erinnert in ihnen durch trefflich gewählte kleine Erzählungen aus dem Leben und der Geschichte mitunter an die Lehrprosa eines seiner Amtsvorgänger in Hamburg, J. B. Schupp. Am frischesten zeigt er sich in den in Sorau gehaltenen, von Wernsdorff eingeleiteten und seinen Eltern gewidmeten „Priesterlichen Lippen, d. i. Sonntag und Festpredigten durchs ganze Jahr“ (1714). Hier entwickelt er im Gegensatze zu Spener, der von der Predigt die „artem oratoriam“ entfernt wissen wollte, eine mitunter künstlerische Kanzelberedsamkeit. Auf gleicher Höhe erhalten sich nur noch die „Heilige Sonntagsarbeit“ (1716) betitelten gleichfalls aus Sorau stammenden Predigten, wo der sonst etwas eintönige erbauliche Ton häufig durch populäre Bilder, derbhumoristische Darstellungen (z. B. S. 1186) zu lebendigerer Wirksamkeit erhoben wird, und wo er in einzelnen Predigten, z. B. in der für den Sonntag Reminiscere nach dem Evangelium Matthäi XV, 21–28 verfaßten, geradezu erschütternd und ergreifend werden kann. Die späteren in Hamburg gehaltenen liturgischen Predigten sind dagegen etwas matter mit allzuviel litterarischem Beiwerk überladen und durch stetes polemisieren gegen den „Pietistischen Unfug Thomasischen und Spinosischen Gifts“, sowie durch exegetische Excurse etwas ermüdend. Nur seine öfter gedruckten Casualpredigten können noch heute als anerkennenswerthe Proben geistlicher Gelegenheitsrethorik bezeichnet werden. Fast alle seine Predigten wurden mit „poetischen Gedenksprüchen“ geschlossen, die später (1755) R. Beneke in zwei Bänden herausgegeben hat.

Neumeister’s unbestrittene historische Bedeutung liegt jedoch hauptsächlich auf dem Gebiete des Kirchenliedes und der geistlichen Lyrik. Einzelne Sammlungen seiner geistlichen Dichtungen waren sehr verbreitet und sein vielgerühmtes Communionbuch „Der Zugang zum Gnadenstuhle Jesu Christi“, 1705, erlebte noch bei Neumeister’s Lebzeiten 20 Auflagen, wurde oft nachgedruckt und in fremde Sprachen übertragen, ja noch 1772 erschien in Jena eine neue Ausgabe.

Schon bei seinen Lebzeiten wurde ihm von befreundeter Seite der Vorwurf nicht erspart, daß er sogar in seinen geistlichen Liedern die Angriffe gegen die Pietisten nicht lassen könne, dagegen ist es zumeist unbeachtet geblieben, daß er selbst mit dem Apparate der pietistischen Liederdichter arbeite und daß er sich öfter durch mystisch angehauchte Bilder und Vergleiche, durch die Innigkeit der Empfindung, süßliche Sentimentalität und eine stark entwickelte Subjectivität dem mystischen Andachtsliede der Spenerischen Richtung nähere. Ja in einzelnen seiner Lieder hat er durch Verse, wie z. B. „Andreas hat gefehlet, Philippus falsch gezählet, Sie rechnen wie ein Kind, Mein Jesus kann addieren, Und kann multiplicieren, Auch da, wo lauter Nullen sind“ (Evangelischer Nachklang 1718), der familiär-vertraulichen Art der Zinzendorfischen Lieder vorgearbeitet. In der Mehrzahl seiner Lieder hat er aber „den Kern und das Mark der Evangelien“ und das Bibelwort verwendet, und durch einfache, natürliche, oft weltlich klingende Sprache ihnen die weitesten Kreise gewonnen. Sie sind leicht sangbar, werden meist mit gnomischen Pointen geschlossen. Die hervorragendsten Gesangbücher [548] jener Zeit haben Neumeister’s Dichtungen als wahre evangelische Kernlieder aufgenommen und manche von ihnen sind trotz häufigen Revisionen bis heute erhalten. Im sogenannten alten weißenfelsischen Gesangbuch, welches in der Parochie Weißenfels und an vielen anderen Orten noch heute im Gebrauche ist, finden sich 47 Lieder von N. – Ihren Werth erhöht aber neben dem der Melodie sich anschmiegenden Bau die auffallende Bevorzugung des volksthümlichen Tones, und manche Lieder, z. B. „Schwing dich auf mein ganz Gemüthe“ oder „Hinweg mit allen schnöden Sorgen“ (Evang. Nachklang) erinnern sehr namentlich in den Einleitungsversen an das Volks- und Gesellschaftslied des 17. Jahrhunderts. N. bearbeitete mit Vorliebe bereits bekannte und beliebte Lieder, so z. B. „Wer nur den lieben Gott läßt walten“ (G. Neumark), „O Ewigkeit, o Donnerwort“ (Rist), „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ (Nicolai) etc. Eines seiner berühmtesten Lieder „So ist die Woche nun beschlossen“ wurde merkwürdigerweise wenig gesungen. In seinen „fünffachen Kirchenandachten“, Leipzig 1716, wird von dem Herausgeber G. Tilgner in der Vorrede mit ganz interessanten Argumenten gegen diejenigen polemisirt, die die weltlich klingende Musik vom Gottesdienst ausschließen wollen. Er legt eine Lanze für die neuen originellen Formen des Kirchenliedes ein und preist zugleich N. als den „Ersten unter uns Teutschen, der die Kirchenmusik durch die Einführung geistlicher Cantaten in besseren Stand gebracht und in den jetzigen Flor versetzt hat“. Es ist auch eines der größten Verdienste, die sich an Neumeister’s Namen knüpfen, daß er – wol beeinflußt vom Weißenfelser Hofkapellmeister Philipp Krieger (s. A. D. B. XVII, 458) – vorurtheilsfrei und kühn durch Anlehnung an die damalige Oper für die einförmige Kirchenmusik neue fruchtbare Formen geschaffen und durch die von ihm erfundene Cantate der gottesdienstlichen Tonkunst neue vielversprechende Bahnen eröffnet hat. Diese Form, ursprünglich aus abwechselnden kurzen madrigalartigen Arien (auch diese führte N. zum ersten Male ein) und jambischen Recitativen bestehend – N. selbst nennt sie „ein Stück von einer Opera vom stylo recitativo und Arien zusammengesetzt“ – wurde von ihm, den sich steigernden musikalisch-künstlerischen Anforderungen entsprechend, immer mehr vervollkommt und durch den Eisenacher Kapellmeister Teleman trotz der sehr verbreiteten Gegnerschaft engherziger Geistlichen und Musiker, trotz dem Gezetter über Verweltlichung der Kirchenmusik, dieser dienstbar gemacht. Die drei Jahrgänge seiner fünffachen Kirchenandachten wurden von Teleman durchcomponirt, J. S. Bach hatte sich aus allen Cantaten sieben für die Composition ausgewählt. – Sie wurden vielfach nachgeahmt und namentlich vom berühmten Hamburger Musikgelehrten Mattheson auf das eifrigste für den Kirchendienst propagirt.

In den letzten Jahren seines Lebens führte N., trotzdem er fast erblindet war, im Kreise seiner zahlreichen Familie – er konnte 1747 sein 50jähriges Amtsjubiläum, umgeben von 13 Kindern und 50 Enkeln, feiern – ein rühriges Dasein, mit Eifer seinen Amtspflichten nachkommend. Am 28. August 1756[1] starb er als 86jähriger Greis unter allgemeiner Theilnahme seiner Gemeinde und der theologischen Welt. In zahlreichen Leichenschriften, in Poesie und Prosa wurden seine Verdienste gepriesen und sein Tod betrauert, und in der „Deutschen Gesellschaft“ in Leipzig wurde unter Gottsched’s Vorsitz eine Trauerfeier abgehalten, bei der ein Hamburger die Gedächtnißrede hielt über das Thema: „Der Ruhm eines echten Gottesgelehrten bleibt nach seinem Tode in stetem Andenken“.

Briefe an V. E. Löscher, auf der Hamburger Stadtbibliothek. – Göttens Gelehrtes Europa, I u. III. – Wetzel’s Hymnopoeographie, II. – Schröder’s Lexikon der Hamburgischen Schriftsteller, fortgesetzt von Klose, V. – Spitta, J. S. Bach.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 548. Z. 11 v. u.: Neumeister starb nach Ausweis der Protocolle des Hamburger Ministeriums am 18. (nicht 28.) August 1756. [Bd. 28, S. 808]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Uhseu’s