Wilhelm Löhes Leben (Band 3)/Bildung und Fortbildung der Diakonissen

« Die innere Entwicklung der Diakonissenanstalt, Idee des Diakonissentums und Diakonissenideal nach Löhes Anschauung Johannes Deinzer
Wilhelm Löhes Leben (Band 3)
Die Diakonissengenossenschaft. Der „Orden vom Hause Stephana“ »
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Bildung und Fortbildung der Diakonissen.


 Auf die theoretische Bildung der Diakonissen wurde in Neuendettelsau von Anfang an großes Gewicht gelegt. Man wollte das Misverhältnis zwischen theoretischer und praktischer Bildung der Schwestern, über welches in so vielen Diakonissenhäusern geseufzt wird, mit allem Ernst vermeiden, damit nicht (wie es in einem Jahresbericht heißt) „am Ende unsere Diakonissen nur eine besondere Art von eingeübten Mägden mit besonderen Prätensionen würden.“ Später nötigte ja freilich das immer wachsende Bedürfnis| und die immer sich steigernde Nachfrage nach Diakonissen, die Strenge des Grundsatzes erheblich zu ermäßigen; im Blick aber auf die 6–7 ersten Jahre der Diakonissenanstalt konnte Löhe mit Recht die theoretische Ausbildung der Diakonissen „den leuchtenden Punkt des Neuendettelsauer Diakonissenhauses“ nennen. Freilich hatte Gott auch dem Diakonissenhause als seine ersten Schülerinen eine Anzahl von Jungfrauen zugeführt, die mit einander eine Vereinigung von Gaben darstellten, wie sie in so reicher Mannigfaltigkeit selten sich zusammenfinden dürften. Namentlich für Unterricht, Musik und Gesang, sowie kirchliche Kunst (Paramentik), aber auch für Organisation und Leitung von Anstalten besaß das Diakonissenhaus von Anfang an bedeutende Kräfte. Diese ersten Schwestern giengen nicht blos mit Verständnis, sondern mit Begeisterung auf Löhes Gedanken ein, und vermochten auch, was sie von ihm an Belehrung und Anregung empfiengen, ihren Nachfolgerinen in der Diakonissenschule mitzuteilen und auf sie überzutragen. Da Löhe der Überzeugung war, daß Diakonissenbildung und echt weibliche Bildung im Wesentlichen zusammenfallen, so mochte er zwischen den Jungfrauen, die nur zu ihrer eigenen Ausbildung den Unterricht im Diakonissenhause genießen wollten, und den eigentlichen Diakonissenschülerinen keine strenge Scheidung durchführen, vielmehr war in den ersten Jahren die Grenze zwischen der sog. grünen, und der sog. blauen, d. h. Diakonissenschule eine fließende. Mußte hierin auch später eine Änderung eintreten, so hatte doch die Diakonissenschule von dieser Verbindung den Gewinn, daß ihr Lehrplan ein reichhaltigerer und vielseitigerer, der Gesichtskreis der Schülerinen ein weiterer, und der Unterricht selbst vor der Gefahr bewahrt wurde, zu einer Abrichtung für den speziellen Beruf herabzusinken.
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 Der Unterricht der Diakonissenschülerinen hatte als doppeltes Ziel: die Vervollständigung und Hebung der allgemeinen, und die| Erteilung der besonderen Berufsbildung. Aus einer Darlegung in dem dritten Jahresbericht der Anstalt wird man sich ungefähr ein Bild von der Diakonissenschule und ihrem Lehrgang entwerfen können. „Jeder Kurs – heißt es da – wird mit einleitenden Vorträgen eröffnet, welche keine andere Absicht haben, als die Schülerinen zu einer richtigen Auffassung ihrer Stellung in einem Diakonissenhause, in einer christlichen Gemeinde und in der Kirche zu bringen. An der Spitze aller Vorträge steht einer über Amt und Beruf der Diakonissin nach dem Wort Gottes und der Geschichte. Diesem folgen Vorträge über die züchtigende Liebe, welche im Diakonissenhause Königin sein soll; über das Lesen im göttlichen Wort, Gebrauch des Betbuchs und der Postille, über das Herzensgebet, über das jungfräuliche Leben, über den Gottesdienst, über den seligen Gebrauch der Beichte und der Communion. Neben diesen einleitenden Vorträgen geht eine Repetition und Vervollständigung der allgemeinen Schulkenntnisse her; Übung und Unterricht im Gesang und im Zeichnen giebt dem Leben im Hause Hebung, Anmut und Feier. Zu gleicher Zeit tritt die Schülerin in den physiologischen Teil des ärztlichen Unterrichts ein. (Der ärztliche Unterricht war auf zwei Semester verteilt.) Im zweiten Teile des halbjährigen Kursus tritt die besondere Belehrung über die geistliche Krankenpflege und die Anweisung zur Kindererziehung und zum Kinderunterricht, zur Führung von Kleinkinderschulen und Rettungsanstalten hervor.“
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 Trotz der allgemeinen Teilnahme am Unterricht schieden sich doch, je nach dem erwählten Beruf, zwei Gruppen von Diakonissenschülerinen von einander; diejenigen, welche sich vorzugsweise dem Krankendienst widmen wollten, und diejenigen, welche zunächst den Lehrberuf erwählten. Erstere wurden von den Krankendiakonissen in die Bedienung und Pflege der Kranken eingewiesen und von diesen über die allgemeine geistliche Krankenpflege nach Olearius| unterrichtet. Sie besuchten unter Aufsicht des Arztes und Seelsorgers die Kranken in der Gemeinde und pflegten sie nach Bedürfnis, und versammelten sich in wöchentlichen Abendstunden bei dem Seelsorger, um mit ihm über die geistliche Behandlung der vorhandenen einzelnen Kranken sich zu verständigen. Aber auch in dieser zweiten Hälfte des Semesters gieng der Unterricht der Diakonissenschülerinen nicht in der puren Anweisung zur Berufsführung auf. Mit Rücksicht auf die zur eignen Ausbildung im Diakonissenhause sich aufhaltenden Schülerinen wurde auch noch manch anderer Unterricht, z. B. in biblischer Geschichte und Einleitung, Kirchengeschichte, lutherischer Symbolik und Glaubenslehre, über den Kalender, deutsche Sprach- und Stillehre etc., bis herab zum Schönschreiben, gegeben, woran auch die eigentlichen Diakonissenschülerinen während der Dauer ihres Aufenthaltes im Hause teilnahmen.
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 Aller Unterricht im Diakonissenhause (außer dem ärztlichen und musikalischen) wurde in den ersten Semestern von Löhe selbst erteilt, der dabei „ganz der Meinung war, die Lehrerinen zukünftiger Geschlechter zu begeistern und ihnen Ideen an die Hand zu geben, die selige Frucht tragen sollten.“ Die Diktate und Nachschreibungen aus jener Zeit bilden, ob auch mannigfach ausgebaut und erweitert, noch heute die Grundlage alles Unterrichts im Diakonissenhause, der eben dadurch seinen einheitlichen Charakter und sein eigentümliches Gepräge erhielt. So war es z. B. gewiß ein origineller Gedanke Löhes, das Schönschreiben (er selbst schrieb bekanntlich eine außerordentlich schöne Handschrift) als eine Tugend, als ein treffliches Mittel für Erziehung und Seelsorge, als eine Schule, in der nicht blos der Sinn für Ordnung, Reinlichkeit und Schönheit geweckt, und der Geschmack gebildet, sondern auch der Wille zum Gehorsam geführt werde, zu betrachten und als solche zu behandeln. Fast war er geneigt, den bekannten Satz Buffons: Le style c’est l’homme auf die Handschrift anzuwenden| und in ihr einen Spiegel des inneren Menschen mit seinen Eigentümlichkeiten, Fehlern und Tugenden zu sehen, und alles Ernstes behauptete er, daß man auf diesem Wege auch seelsorgerlich auf den Menschen einwirken könne. „Erst wird die Hand und dann, wenn es gelingt, damit auch der Wille und das Gemüt zum Gehorsam geführt, der Sinn für Ordnung, Reinlichkeit und Schönheit geweckt, Auge und Urteil für Schönheit der Formen geschärft und damit der Geschmack gebildet. Wer solche Einwirkung annimmt, kann oft in kurzer Zeit eine schlechte Handschrift bessern, und häufig ist damit auch eine Änderung des Sinnes und Charakters zum Besseren verbunden.“
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 Eine weitere von Löhe herstammende Eigentümlichkeit der Diakonissenschule war die Wertschätzung des Kalenders, an den sich aller Unterricht in der Naturkunde, aber auch die Einführung der Schülerinen in das Kirchenjahr, ja selbst in die Kirchengeschichte (Märtyrergeschichten, Heiligenleben) anschloß. „Der Kalender – sagt Löhe, Hausbuch II, 46 – ist, wenn man den stehenden Teil ansieht, eine Schrift, die nicht wol ihres Gleichen hat. Natur und Gnade erscheinen in demselben in der innigsten Vereinigung. Sonne, Mond und Sterne, ihr Auf- und Niedergang, ihr Lauf, Tage, Wochen, Monden und das Jahr, Aufgang, Dauer und Ziel derselben finden sich darin verzeichnet. Neben diesen Zeichen erscheint aber in demselben auch der Jahreslauf unsrer geistlichen Sonne: die Feste Christi und seine Sonntage mit ihren Texten, und überdies neben der Zahl jedes Monatstages der Name des Heiligen und Helden Gottes, dessen man gedenken soll. Ein alter Landmann, dessen Kindern der Seelsorger (eben Löhe) riet, neben der heiligen Schrift zuweilen auch ein anderes gutes Buch zu lesen, holte bei dieser Gelegenheit den Kalender von der Thür, schlug ihn auf, legte ihn wohlgefällig auf seine Hand und sagte: „Ich meine, die Jugend solle vor andern Büchern den Kalender| studieren: wer wol kalendern kann, kommt durch die ganze Welt.“ „Und,“ setzte der Seelsorger hinzu, „auch in den Himmel.“ Beide haben Recht. Der Kalender ist ein herrliches Lehr- und Bildungsmittel für Kirche, Schule und Haus. Wer in dem unterrichtet ist, was er vom Himmel und der Erde berichtet, hat viel von der Natur gelernt, und wer weiß, was die Texte und die Feste und die Namen deuten, der weiß mehr, als die meisten Menschen unsrer Tage aus der Schrift, der Geschichte Jesu und seiner heiligen Kirche.“ „Es liegt – sagte er ein andermal – ein großer Schatz volkstümlicher Historie im Kalender. Man hat mit Recht in der neueren Zeit den Gedanken, Geschichte in Biographieen zu lehren, beglückwünscht. Dieser Gedanke ist jedoch nicht neu, sondern die alte Kalenderliteratur der lutherischen und andrer Kirchen ist die echt volksmäßige Ausprägung desselben, welche zugleich Maß und Ziel für den Unterricht an die Hand giebt. In seinem 1868 erschienenen „Martyrologium“ suchte Löhe in die historische Erkenntnis des Heiligenkalenders einzuführen, indem er zu jedem Kalendernamen eine kurze Skizze des Lebens des betreffenden Heiligen und wol auch ein Urteil über seine Bedeutung im Reiche Gottes fügte. Er dachte sich diese kurzen Lektionen als ein Stück der täglichen Morgenandacht, wie er selbst das Martyrologium neben den Losungen der Brüdergemeinde eine Zeit lang als „geistliches Frühstück“ gebrauchte.
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 Auch der Unterricht in Musik und Gesang hatte im Diakonissenhause von Anfang an seine Eigenart. Hier wachte unter dem Einfluß Hommels, der als Wiedererwecker des Psalmengesangs in der lutherischen Kirche gelten darf, Psalter und Harfe Davids, d. h. die vergessene Kunst des Psallierens wieder auf, und von hier aus hat sich Sinn und Lust am Psalmengesang auch nach auswärts verbreitet. „Gewiß – meinte Löhe, der ein großer Freund des Psalmengesangs war, und, obwohl ohne musikalische| Begabung, doch für die Lieblichkeit, und die bei aller Einfachheit dennoch reiche Mannigfaltigkeit der Psalmentöne ein Ohr hatte – gewiß haben Davids Psalmen von Anfang an die ganze Musik des Diakonissenhauses geheiligt.“

 Doch nicht blos der Bildung der Diakonissenschülerinen, sondern auch der Fortbildung der Diakonissen wendete Löhe Fleiß und Fürsorge zu. Die gesamte Regelung des in Dettelsau so wol geordneten Rechnungs- und Inventarwesens ist sein Werk, und er ließ sich keine Mühe verdrießen, die Schwestern in die Kunst des Rechnens und Inventarisierens, die Lehre vom Voranschlag etc. einzuweihen, um sie zur Tüchtigkeit in diesen Dingen heranzubilden. Eine Zeit lang lag die Geschäftsführung des Diakonissenhauses in der Hand eines Rechners, (des sel. Direktors Alt), eine bequeme Einrichtung für die Schwestern, die aber freilich auf diese Weise weder Einsicht in die Verwaltung und Rechnungsführung, noch Übung darin gewannen. Deshalb wurde nach kurzer Zeit eine neue Ordnung der Dinge eingeführt, indem nämlich nunmehr jede Schwester, die irgend einem Zweig der Verwaltung Vorstand, mit der Führung ihrer eigenen Kasse betraut wurde. Durch diese Maßregel wurde jeder einzelnen Schwester ein Interesse an ihrer Kasse, an der Erschließung von Einnahmequellen für dieselbe, ein Sinn für haushälterische Sparsamkeit und ein Gefühl der Verantwortung eingeflößt, wie es naturgemäß nicht vorhanden sein konnte, so lange aus dem Ganzen und Vollen gewirtschaftet wurde und alle Sorge für Beschaffung, sowie alle Rechenschaft für Verwendung der Mittel einem einzigen Manne überlassen war. Auf diesem Wege erwarben sich die Diakonissen von Neuendettelsau die oft an ihnen gerühmte Tüchtigkeit im Verwaltungsfach und in der Leitung der äußeren Angelegenheiten der ihnen anvertrauten Stationen.

 Eine eigentümliche Blüte des im Diakonissenhause von Löhe geweckten geistigen Lebens und Strebens waren die sog. akademischen| Stunden, eine Nachahmung einer auf amerikanischen Schulen herschenden Einrichtung. Es waren nicht eigentliche Lehrstunden: die Diakonissen hörten, mit irgend einer weiblichen Arbeit beschäftigt, den Vorträgen zu, die entweder von Löhe selbst, oder von einer der befähigteren Schwestern gehalten und dann gemeinsam besprochen wurden, und die entweder in selbständigen Arbeiten oder Referaten und Auszügen aus andern Schriften und Blättern bestanden. Der Stoff zu diesen Mitteilungen und Besprechungen sollte dem Gebiet der Barmherzigkeit und des Diakonissentums entnommen werden, doch sollten auch in entfernterem Zusammenhang damit stehende und nur irgendwie nachbarlich angrenzende Gegenstände von der Besprechung nicht ausgeschlossen sein. So wurde z. B. eine Zeit lang im Interesse des Studiums der h. Gefäße Gottfr. Sempers Schrift: „Der Styl in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik“ gelesen und besprochen. Die Absicht der ganzen Einrichtung war: geistige Hebung der Diakonissin im Allgemeinen und Vertiefung und Förderung ihrer Berufsbildung im Besonderen. Da hiezu namentlich auch Kenntnis der so äußerst mannigfaltigen Arbeitsgebiete der barmherzigen Liebesthätigkeit und der Leistungen innerhalb derselben gehörte, für die Kenntnisnahme von denselben aber die tägliche Arbeit des Berufs der einzelnen Diakonissin keine Zeit übrig ließ, so sollten – dies war die Idee der sog. akademischen Stunden – die Schwestern unter sich einen Verein bilden, dessen einzelne Glieder sich auf das Studium der verschiedenen Partieen der einschlägigen Literatur verlegten und in wöchentlichen Versammlungen die Frucht ihres Forschens kund gäben, damit auf diese Weise das spezielle Studium Einzelner zum Gemeingut aller würde. Wie anregend und belehrend diese akademischen Stunden gewesen sein müssen, läßt sich schon aus der Wahl der bearbeiteten Themata schließen, und gewiß war Löhes Erwartung, daß bei allseitiger reger Teilnahme| diese Stunden „ein wahrhaft edles und vornehmes Stück des Lebens im Diakonissenhause bilden würden“ nicht unberechtigt. So behandelte Löhe z. B. einmal in einer Reihe von Vorträgen das Thema: „Wie die Pflege der Barmherzigkeit vom Standpunkt des Humanismus, sowie der verschiedenen christlichen Religionsparteien sich verschieden gestalte.“ An dem Buch von Jul. Simon: „Die Arbeiterin“ zeigte er, welche Grundsätze und Ansichten über Barmherzigkeit sich bei wohlwollenden Weltmenschen finden und wie weit dieselben von den Grundsätzen und Anschauungen des Evangeliums entfernt sind. Bücher wie die „Briefe aus Afrika“ von einer Oberin des Ordens vom guten Hirten in Algier, oder „das Elend in Paris und die christlichen Wohlthätigkeitsanstalten zur Bekämpfung desselben“ von Abbé Mullois, gewährten einen Einblick in die Art und Weise, die Grundsätze und Ziele römisch-katholischer Barmherzigkeitspflege. Die reformierte Weise, christliche Barmherzigkeit zu üben, wurde anschaulich gemacht an einem damals viel genannten englischen Buch: „the missing link“, „das fehlende Glied.“ Das fehlende, nämlich zwischen der Kirche und den verkommenen Armen der großen Städte fehlende Glied erblickt jene Schrift in der „Bibelfrau“, die die Proletarier der großen Städte aufsucht, und das Wort Gottes unter sie zu bringen trachtet, um sie dadurch geistlich, sittlich und wirtschaftlich zu heben. Aus nord- und süddeutschen Kirchenordnungen wurde schließlich dargelegt, wie die lutherische Kirche von Anfang an den von ihr hauptsächlich kultivierten Zweig der christlichen Liebesthätigkeit, die Armenpflege, geübt hat. Die aus der Vergleichung dieser verschiedenen Standpunkte und Weisen gewonnenen Ergebnisse wurden dann höchst lehrreich in folgender Reihe von Sätzen zusammengefaßt: Die Barmherzigkeit vom Standpunkt des Humanismus und des Staates leistet wol auch etwas, findet aber bei dem Mangel göttlicher Gnadenmittel| an der Unsittlichkeit der Armen unüberwindliche Hindernisse, und vollends das von ihr angestrebte Ziel, resp. die von ihr gehegte Hoffnung gänzlicher Beseitigung der Armut ist eine Chimäre. Die katholische Armenpflege glaubt ihr Ziel erreicht, wenn der verkommene Arme anfängt zu beichten; der Anschluß an die Kirche verbürgt zugleich dessen geistliches und leibliches Wohl. Sie vermißt kein Bindeglied zwischen dem Armen und der Kirche, sie hat es in ihren Orden, namentlich den barmherzigen Schwestern, den kleinen Schwestern der Armen etc. Die englische Bibelfrau dagegen, aus dem größten Handelsvolk der neueren Zeit hervorgegangen, geht mit heiligen Schriften hausieren, und wenn sie nur den Armen dahin gebracht hat, sich eine Bibel zu kaufen, oder darauf zu subskribieren, so glaubt sie und ihre Vorstandsdamen, daß die Verbindung zwischen Gott und dem Armen angefangen habe. Was dem Römischen in seiner Armenpflege die Beichte ist, das ist dem Engländer die Bibel, welche die Bibelfrau bringt, und, wo es angeht, auch mit den Armen liest, und so gut sie es versteht, erklärt und anwendet. Dabei ist es ganz englisch, daß die Bibelfrau mit der Bibel hausieren geht, und dabei zugleich Kleidervereine, Bettenvereine etc. in Anregung bringt, und ebenso auf Kleider und Betten, wie auf Bibeln subskribieren läßt. Die Bibel ist ihr die Grundlage aller Armenpflege, aus dem geistlichen Heil folgt das leibliche, aus dem Bibelhandel der wohlthätige Handel mit Kleidern und Betten, mit Haus- und Küchengeräten, die Anleitung zum Theemachen und Suppenkochen, wodurch die Spirituosa bekriegt werden. Der englische Christ ist überall Einer: die Heidenmission und der Welthandel, die innere Mission und ein aus dem Schoß der Barmherzigkeit geborner Handel mit Trödel, Kleidern und Betten – das alles geht bei ihm wohlverträglich zusammen. – Endlich an den alten Armenordnungen unsrer Kirche, beispielsweise an einer Vermahnung an „eine christliche Gemeinde zu Nürnberg| wegen der neuen Bettelordnung“ aus dem Jahr 1626 wurde gezeigt, wie das Armenwesen damals auf göttlicher Grundlage geordnet war, und wie trotz der Verquickung geistlichen und weltlichen Regiments der richtige Grundsatz von der notwendigen Freiwilligkeit[1] aller Barmherzigkeitsübung, sowie der Vorzug der öffentlichen (gemeindlichen) vor der Privatwohlthätigkeit auch bei unsern Vätern schon anerkannt war.
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 Als ein Mangel jener alten Ordnungen, dessen Zusammenhang mit der Gestaltung des Kirchenregiments in der lutherischen Kirche zu Tage liegt, wurde es bezeichnet, daß die Übung der Barmherzigkeit von ihnen zu sehr von der Würdigkeit der Armen abhängig gemacht wird, und daß man für „die faulen Streuner und fremden Bettler“, für „das Lumpenvolk“ nichts Besseres als den Stab des Bettelvogts zu stiften gewußt hat. Hier sei die neuere Zeit auf besserem Wege. Trotzdem aber sei nicht zu vergessen, daß die Kirche der Reformation, so sehr es ihr bis auf Spener und Francke an Anstalten und hervortretenden Werken der Barmherzigkeit gemangelt habe, da weder aus der von ihr angestrebten Wiedererweckung des Diakonats noch aus den von ihr ins Leben gerufenen Armen- oder Gemeindekästen etwas Rechtes wurde, doch der christlichen Barmherzigkeit den größten Dienst damit geleistet habe, daß sie die Werke zum Glauben ins richtige Verhältnis setzte, und die falsche Lehre von einem menschlichen Verdienst, welches auf die Seligkeit Einfluß haben könnte, überhaupt alle falschen Bestrebungen der Werkthätigkeit durch ihre schriftmäßige Definition des guten Werks zurückwies. Dies bleibt| ein Dienst und Verdienst der Reformation, auch wenn sie der reinen Lehre nicht alsbald das praktische Leben und den Glanz der Werke der Barmherzigkeit habe folgen lassen. „Es giebt eben Dinge, die noch größer sind als das menschliche Leben, nämlich die Ordnung des Heils, und der Weg zum ewigen Leben. Da konnte es denn wol sein, daß über dem großen und hohen Zweck der minder große und hohe in den Schatten zurücktrat, wenn auch nur für eine Weile, und daß, bis der Weg nach Jerusalem das droben ist, wieder klar wurde, die Wege, auf denen der barmherzige Samariter auf Erden segenbringend wandeln soll, ein wenig rauh und dunkel wurden. (Löhe: von der Barmherzigkeit.) Inzwischen sei dieser Mangel der lutherischen Kirche aber längst erstattet, und es gediehen in ihr zu des HErrn Preis viel edle Früchte der Barmherzigkeit – wie auch in den andern christlichen Kirchen und Gemeinschaften. Denn es sei ja eine Wahrnehmung, die jedem, der die nötige Kenntnis der Dinge habe, sich aufdränge: „daß die Übung und die Werke der Barmherzigkeit auf allen Gebieten der Kirche, in all ihren Konfessionen gesegnet ist, und der HErr sich zu allen bekennt, die seiner heiligen Aufgabe nach dem Maße ihrer Erkenntnis folgen.“ Eben deshalb solle und könne man auch von andern Konfessionen in diesem Stück lernen, insonderheit zieme das den Gliedern der wahren Kirche, die von dem englischen Christen lernen könne, daß es der Anfang aller rechten Barmherzigkeit sei, den Armen wieder für das Wort zu gewinnen; von dem römischen Christen, welcher Segen und welche Bürgschaft für die Rettung des Armen im Anschluß an die Kirche liege; von beiden, daß die Armenpflege die Seele fassen müsse, aber auch den Leib nicht verwahrlosen dürfe, daß vielmehr beide von der Hand der Barmherzigkeit gesucht werden müßten, wenn eins von beiden zu rechtem Wohlsein gelangen solle etc. etc.
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 Das waren nun allerdings Vorträge, die Löhe selber hielt,| aber auch die von hervorragenderen Gliedern der Schwesternschaft bearbeiteten Themata legen Zeugnis ab von dem Bildungsgrad der Schwestern, ihrer Fähigkeit zur geistigen Erfassung ihres Berufs, überhaupt von einer gewissen Höhe geistigen Lebens und Strebens, wie sie später im Diakonissenhause nicht wieder erreicht worden ist, auch bei der bitteren Notwendigkeit, die Lernzeit der Diakonissen möglichst abzukürzen, gar nicht mehr angestrebt werden konnte. Übrigens – bei aller Hochschätzung der Berufsbildung – betonte Löhe doch nicht minder, daß sie gerade im Diakonissendienst ohne Fortschritt in der Tugend und ohne christliche Charakterbildung nichts wert sei. „Alle Tüchtigkeit und Berufsbildung, sagte er, ist kainisch ohne Herzensbildung und Heiligung.“





  1. Der Rat in Nürnberg ordnete damals an, „daß acht gewisse Bürger zu den Büchsen erkiest und bestellt werden sollten, die in den acht Vierteln der Stadt das Almosen an einem Freitag von Haus zu Haus sammeln, und daß ein jeder Bürger was er geben solle, selbst oder durch die Seinigen in die dazu verordneten Büchsen einstoßen solle.“


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