Textdaten
<<< >>>
Autor: Karl von Stengel
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Völkerrecht
Untertitel:
aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band, Drittes Buch, S. 61 bis 89
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Auflage:
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: Scan auf Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[317]
Völkerrecht
Von Dr. Karl Freiherr v. Stengel,
Geh.-Rat und Professor der Rechte an der Universität München


Vorbemerkung

Die nachfolgende Darstellung verfolgt nicht den Zweck, einen Überblick über den gesamten Inhalt des Völkerrechts zu geben, wie ein solcher aus jedem Lehrbuch des Völkerrechts gewonnen werden kann.

Vielmehr will dieselbe nach einer kurzen, die Begriffe des Völkerrechts und der völkerrechtlichen Gemeinschaft erörternden Einleitung eine knappe Übersicht über die Entwicklung des Völkerrechts und der Völkerrechtsgemeinschaft während der letzten hundert Jahre bringen, mit besonderer Berücksichtigung der Entwicklung in den letzten Jahrzehnten, in welche die Regierung Sr. Maj. des Kaisers Wilhelm II. fällt und in welchen das Deutsche Reich an allen für die Entwicklung des Völkerrechts wichtigen Ereignissen teilgenommen und eine maßgebende Rolle in der Weltpolitik gespielt hat.

Im Zusammenhange mit den beiden Friedenskonferenzen vom Jahre 1899 und 1907, deren Verlauf und Ergebnis ausführlicher besprochen werden mußte, ist gegenwärtig eine gewisse Krisis in der Entwicklung des Völkerrechts eingetreten in der Weise, daß die ziemlich einflußreich gewordene pazifistische Strömung nicht bloß die Beseitigung des Krieges, sondern auch in letzter Linie eine straffere Organisation der völkerrechtlichen Gemeinschaft in einer Weltföderation mit staatenbundlicher oder bundesstaatlicher Verfassung anstrebt.

Zu dieser Strömung mußte Stellung genommen und dargetan werden, daß es sich dabei um Ziele handelt, die nach menschlicher Voraussicht niemals verwirklicht werden können und um Bestrebungen, deren Verfolgung die Grundlage des gegenwärtig geltenden Völkerrechts, nämlich die Souveränität der Staaten und damit deren Unabhängigkeit und Bewegungsfreiheit in der bedenklichsten Weise zu untergraben geeignet ist, selbst wenn es sich bei einzelnen dieser Bestrebungen, wie bei dem Verlangen nach Abschluß eines auf der Grundlage des obligatorischen Schiedsverfahrens beruhenden Weltschiedsvertrags, nur um vorbereitende Maßregeln für die Erreichung der letzten Ziele handelt.

Deutschland hat aber um so weniger Anlaß, auf eine Minderung seiner so schwer errungenen Unabhängigkeit und Selbständigkeit einzugehen, als die Verwirklichung dieser Bestrebungen weder für die völkerrechtliche Gemeinschaft im ganzen, noch für deren einzelne Mitglieder von Vorteil sein würde und überdies jede Begünstigung ungesunder [318] internationaler Richtungen und Bestrebungen nur die schädliche Wirkung haben könnte, die allmählich erstarkte nationale Gesinnung im deutschen Volke wieder zu schwächen und dadurch dasselbe in seiner Widerstandsfähigkeit im internationalen Wettstreite und Kampfe zu beeinträchtigen.

I. Der Begriff des Völkerrechts – Die völkerrechtliche Gemeinschaft

Begriff des Völkerrechts.

Mit dem Ausdrucke „Völkerrecht“ bezeichnet man den Inbegriff der Rechtsgrundsätze und Rechtsvorschriften, welche die friedlichen wie kriegerischen Beziehungen der in staatlichen Gemeinwesen organisierten, die sog. völkerrechtliche Gemeinschaft bildenden Völker regeln[1].

Jede Rechtsgemeinschaft setzt eine gewisse Gemeinsamkeit der Kultur und der sich aus derselben ergebenden ethischen Anschauungen unter den die Gemeinschaft bildenden Personen und Gemeinwesen voraus, da nur auf dieser Grundlage eine die Mitglieder der Gemeinschaft bindende Rechtsordnung entstehen kann. Ferner ist es notwendig, daß die Personen und Gemeinwesen, die eine Rechtsgemeinschaft bilden sollen, sich gegenseitig als Rechtssubjekte anerkennen und daher geneigt sind, miteinander in Verkehr zu treten. Das Völkerrecht als die Rechtsordnung, welche die Beziehungen der von einander unabhängigen und selbständigen, d. h. souveränen Staatswesen regelt, setzt endlich voraus, daß eine gewisse Anzahl solcher Gemeinwesen vorhanden ist, die miteinander in Beziehungen treten können, eine Voraussetzung, die fehlen würde, wenn alle Völker in einem einheitlichen Weltreiche vereinigt wären.

Im Altertum fehlte es in der Hauptsache an der gegenseitigen Anerkennung der nebeneinander bestehenden staatlich organisierten Völker, und damit an der Möglichkeit von Rechts- und Pflichtverhältnissen unter ihnen. Bei den Griechen insbesondere war das Verhältnis zu anderen Völkern wesentlich vom Gefühle der Überlegenheit ihrer Kultur über die der fremden Völker, die sie als Barbaren bezeichneten, beherrscht, so daß ihnen der Gedanke einer Gleichberechtigung dieser „Barbaren“ mit ihnen selbst ferne liegen mußte. Die Römer aber glaubten sich für die Weltherrschaft bestimmt, konnten von diesem Standpunkte aus eine grundsätzliche Gleichberechtigung anderer Völker nicht anerkennen und schlossen daher auch die friedliche Gemeinschaft mit denselben als normalen Zustand aus. Es ist daher begreiflich, daß sich im Altertum, in welchem ja für das Völkerrecht in erster Linie die Griechen und Römer in Betracht kamen, nur schwache Ansätze einer Völkerrechtsordnung finden. In der Hauptsache waren nur gewisse Grundsätze über den Abschluß von Staatsverträgen, über die Stellung der Gesandten und über Milderungen in der Kriegsführung anerkannt, die von den Griechen und Römern auch den Barbaren gegenüber beobachtet wurden[2].

[319] Auch im Mittelalter waren die Verhältnisse der Ausbildung des Völkerrechts insofern nicht günstig, als die Anschauung in Geltung war, daß die sämtlichen christlichen Staaten ein einheitliches Weltreich unter Kaiser und Papst bildeten, da diese Idee an und für sich die Existenz von voneinander unabhängigen und gleichberechtigten Staaten ausschloß. In der Praxis konnte freilich die Idee eines einheitlichen Weltreichs nicht verwirklicht werden; im Gegenteil bildeten sich gerade im Mittelalter die Nationalstaaten (Frankreich, England, Spanien usw.) aus, die, die Unterordnung unter Kaiser und Papst bestreitend, ihre Unabhängigkeit gegenüber jeder höheren Gewalt geltend machten und daher die Anerkennung als souveräne Gemeinwesen beanspruchten, eine Entwicklung, welche die Voraussetzung der heute geltenden Völkerrechtsordnung schuf. Immerhin hatte die vorerwähnte Idee die Bedeutung, daß die christlichen Staaten sich als eine geschlossene Gemeinschaft gegenüber den nichtchristlichen Völkern betrachteten, denen zunächst die Anerkennung und Gleichberechtigung versagt wurde.

Nachdem die Reformation mit der Idee eines christlichen Weltreichs mit dem Papste als Spitze und Oberhaupt endgültig gebrochen hatte, trat mit dem westfälischen Frieden die Entwicklung und Ausbildung des modernen Völkerrechts ein, das durch Hugo Grotius auch seine theoretische Begründung fand[3].

Daß von dieser Zeit an eine neue Periode der Entwicklung des Völkerrechts zu rechnen ist, liegt namentlich auch darin, daß der westfälische Friedensvertrag ein gleichberechtigtes Nebeneinanderbestehen von Staaten verschiedener christlicher Konfessionen anerkannte und den Gedanken der internationalen Gemeinschaft insofern zum Ausdruck brachte, als alle bedeutenderen Mächte Europas an demselben beteiligt waren und gemeinsam wichtige, ganz Mitteleuropa berührende Fragen regelten.

Die völkerrechtliche Gemeinschaft.

Die völkerrechtliche Gemeinschaft, die so im Anschlusse an die Entwicklung im Mittelalter und auf der Grundlage des westfälischen Friedens entstanden war, umfaßte zunächst nur die auf europäisch-christlicher Kultur beruhenden Staaten, nämlich die christlichen Staaten in Europa und die aus ehemaligen Kolonien europäischer Staaten entstandenen staatlichen Gemeinwesen. Diese Staaten bilden auch gegenwärtig noch den Kern der völkerrechtlichen Gemeinschaft.

An diese, den Kern der völkerrechtlichen Gemeinschaft bildende Staatengruppe haben sich im Laufe des vorigen Jahrhunderts verschiedene nichtchristliche Staaten angeschlossen, die gegenwärtig ebenfalls als Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft betrachtet werden.

Zuerst wurde im Jahre 1856 durch den Pariser Frieden die Türkei mit ihren Vasallenstaaten „in das europäische Konzert aufgenommen“, später folgten andere nichtchristliche Staaten, wie Persien, China, Japan, Siam usw.

[320] Die Aufnahme dieser Staaten in die völkerrechtliche Gemeinschaft erfolgte deshalb, weil die Beziehungen derselben mit den christlichen Staaten sich fortwährend vermehrten und diese Staaten sich den Vorschriften des von den christlichen Staaten ausgebildeten Völkerrechts im Krieg und Frieden unterwarfen und daher auch in diplomatischen Verkehr mit den christlichen Staaten traten.

Da aber die Verschiedenheit der Zivilisation und des auf derselben beruhenden Rechts zwischen den christlichen und den nichtchristlichen Staaten trotz mancher Annäherung, die in dieser Hinsicht allmählich eingetreten ist, fortbesteht, so ist eine völlige Gleichstellung der nichtchristlichen Staaten mit den christlichen nicht erfolgt. Die christlichen Staaten erkennen nämlich nicht an, daß das in den nichtchristlichen Staaten geltende Privatrecht, Strafrecht und öffentliche Recht für ihre in solchen Staaten sich aufhaltenden Angehörigen in jeder Beziehung verpflichtend ist und geben daher nicht zu, daß dieselben der Gerichtsbarkeit des Aufenthaltsstaats unterstehen. Darauf beruht die Einrichtung der Konsulargerichtsbarkeit, die für Angehörige christlicher Staaten in nichtchristlichen Staaten (pays hors chrétienté) besteht[4].

Jedenfalls hat sich infolge der angedeuteten Entwicklung das Völkerrecht, das zunächst nur die christlichen Staaten in Europa umfaßte und daher als „europäisches Völkerrecht“ bezeichnet wurde, im Laufe der Zeit auf immer mehr Staaten erstreckt und findet gegenwärtig in allen Weltteilen Anwendung.

Begriff der Souveränität.

Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft können nur Staaten sein, d. h. souveräne Gemeinwesen [5]. Die Souveränität ist eine wesentliche Eigenschaft des Staates, durch welche er sich von anderen Gemeinwesen, namentlich Gemeinden und Kommunalverbänden, unterscheidet. Die Eigenschaft der Souveränität des Staates äußert sich in einer doppelten Richtung: Der Staat wird nämlich zunächst deshalb als souverän bezeichnet, weil es in jedem Staate nur eine höchste Gewalt gibt und geben kann, der alle dem Staate angehörigen bzw. im Staatsgebiete befindlichen Personen unbedingt unterworfen sind, so daß dieselben der Staatsgewalt gegenüber kein unverletzliches und unantastbares Recht haben (staatsrechtliche Souveränität).

Die Souveränität zeigt sich aber auch als völkerrechtliche darin, daß der Staat nach außen unabhängig und einer fremden Gewalt nicht unterworfen ist. Infolge dieser Unabhängigkeit sind die Staaten fähig, Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft zu sein, mit anderen Staaten in diplomatischen Verkehr zu treten, Verträge abzuschließen und namentlich auch Krieg zu führen, während diese Fähigkeit anderen menschlichen Gemeinwesen, wie insbesondere den Gemeinden und Kommunalverbänden und ebenso Religionsgesellschaften fehlt. Weil die Staaten souveräne Gemeinwesen sind, können sie [321] einer höheren Gewalt nicht unterstehen, sie haben keinen Gesetzgeber und keinen Richter über sich. Allerdings sind die zur völkerrechtlichen Gemeinschaft gehörenden Staaten an die Vorschriften des Völkerrechts gebunden; diese Vorschriften beruhen aber nicht auf Gesetzen, die von einer über den Staaten stehenden höheren Gewalt gegeben sind, sondern auf dem Herkommen, das sich in der völkerrechtlichen Gemeinschaft, der Rechtsüberzeugung der Mitglieder dieser Gemeinschaft entsprechend, gebildet hat, oder auf den von den Staaten selbst getroffenen Vereinbarungen, denen sie sich freiwillig unterwarfen.

Wie über den Staaten keine gesetzgebende Gewalt steht, so sind sie auch keiner Gerichtsbarkeit unterworfen, die im Namen und Auftrage einer höheren Gewalt befugt wäre, Streitigkeiten unter den Mitgliedern der völkerrechtlichen Gemeinschaft zu entscheiden. Derartige Streitigkeiten können von den Beteiligten gütlich beigelegt werden. Eine Art der gütlichen Beilegung besteht darin, daß sich die streitenden Staaten darüber einigen, ihren Streit durch ein von ihnen bestelltes Schiedsgericht, das seine Gerichtsbarkeit lediglich aus dem Willen der Streitsteile herleitet, entscheiden zu lassen und dann dessen Entscheidung freiwillig vollziehen.

Gelingt die gütliche Beilegung des Streites nicht, so bleibt den Streitsteilen nur der Weg der Selbsthilfe offen. Sie können versuchen, den Gegner durch Retorsionen oder Repressalien zur Anerkennung ihrer Ansprüche zu veranlassen. Äußersten Falles haben die Streitsteile nur die Möglichkeit, ihre Rechte oder Interessen durch Waffengewalt, also durch Krieg zur Geltung zu bringen, der sich als der bewaffnete Kampf zwischen zwei oder mehreren Staaten darstellt und ebenso unter Rechtsregeln steht, wie der friedliche Verkehr unter den Staaten.

Die Grundlage des Völkerrechts bildet auch gegenwärtig noch die Souveränität der Staaten und die sich daraus ergebende Unabhängigkeit und grundsätzliche Gleichberechtigung der Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft. Als zweites die Entwicklung des Völkerrechts beeinflussendes Element kommt aber das Bewußtsein der Gemeinsamkeit vieler Interessen unter den Mitgliedern der völkerrechtlichen Gemeinschaft in Betracht [6].

Dieses Gefühl hat im verflossenen Jahrhundert bewirkt, daß eine große Anzahl die gemeinsamen Interessen regelnder Vereinbarungen unter den Mitgliedern der völkerrechtlichen Gemeinschaft abgeschlossen worden ist, die das Völkerrecht nach verschiedenen Richtungen ausgebaut haben.

Alle diese Vereinbarungen haben aber den Grundsatz der Souveränität der Staaten nicht beseitigt, sie setzen ihn vielmehr voraus. Eine Antastung dieses Grundsatzes wäre nur dann gegeben, wenn es gelingen würde, alle zur völkerrechtlichen Gemeinschaft gehörigen Staaten in eine, ihre Mitglieder in der Souveränität beschränkenden, wenn nicht dieselbe ganz aufhebenden Weltföderation zu vereinigen.

[322]

II. Überblick über die Entwicklung des Völkerrechts vom Wiener Kongreß 1814/15 bis zur Gegenwart [7]

Der Wiener Kongreß 1814/15.

Die Bedeutung des Wiener Kongresses lag, äußerlich betrachtet, zunächst darin, daß er seit dem westfälischen Friedenskongreß die erste Versammlung von diplomatischen Vertretern war, die sämtliche christliche Staaten von Europa beschickt hatten, um gemeinsame Angelegenheiten der völkerrechtlichen Gemeinschaft sowohl, wie auch Verhältnisse einzelner ihrer Mitglieder zu regeln.

Sodann kommt in Betracht, daß der Wiener Kongreß eine mit der französischen Revolution beginnende Periode gewaltsamer Umwälzungen und zahlreicher, alle europäischen Staaten berührender Kriege abschloß und daß er einerseits bis zu einem gewissen Grade unter dem Einflusse der Ideen der französischen Revolution stand, andererseits aber die infolge dieser Umwälzungen und Kriege eingetretene Verschiebungen in den politischen und staatlichen Verhältnissen Europas so viel als möglich wieder rückgängig machen sollte.

Außerdem hat der Kongreß noch verschiedene Beschlüsse allgemeiner Natur gefaßt, die Bedeutung für die Weiterentwicklung des Völkerrechts hatten. Zu diesen Vereinbarungen gehört schon der Beschluß über die Rangordnung der Gesandten. Vor allem aber sind zu erwähnen der Beschluß, durch den der Sklavenhandel als verwerflich bezeichnet und dessen Unterdrückung in Aussicht gestellt wurde, und sodann der für das internationale Verkehrsleben so wichtige Beschluß, durch welchen die Schifffahrt auf den sog. internationalen Strömen und Flüssen, d. h. denjenigen, die vom Meere aus schiffbar sind und sei es der Länge oder Breite nach das Gebiet verschiedener Staaten durchfließen, frei erklärt wurde, so daß sie den Flaggen aller Nationen offen stehen soll [8].

Der Pariser Friedensvertrag vom 30. 4. 56.

Neben dem Wiener Kongreß ist als besonders wichtiges Ereignis auf dem Gebiete der Entwicklung des Völkerrechts im vorigen Jahrhundert der Pariser Friedensvertrag vom 30. März 1856 zu erwähnen durch den der russisch-türkische Krieg von 1851/54, an welchem auf Seite der Türkei auch England, Frankreich und Sardinien beteiligt waren, beendigt wurde. Dieser Friedensvertrag ist hier namentlich deshalb zu erwähnen, weil in dessen Art. 7 die Kongreßmächte (Preußen, Österreich, Frankreich, Großbritannien, Rußland, Sardinien, die Türkei) erklärten, daß die Türkei in Zukunft des öffentlichen europäischen Rechts und des europäischen Konzerts teilhaftig sein soll.

[323] Gleichzeitig haben die Kongreßmächte die wichtige Pariser Seerechtsdeklaration vom 16. April 1856 vereinbart, eine Vereinbarung, die über die Interessen der Kongreßteilnehmer hinausging, weil sie für den Seekrieg Normen festsetzte, die bestimmt waren, allgemeine Anerkennung zu finden. In der Tat sind denn auch im Laufe der Zeit alle irgendwie in Betracht kommenden Staaten derselben beigetreten, so daß man ihre Bestimmungen gegenwärtig als gemeines Völkerrecht betrachten kann[9].

Durch die Seerechtsdeklaration ist zunächst die Kaperei abgeschafft und bezüglich der Blockade bestimmt worden, daß dieselbe nur dann als rechtsverbindlich gilt, wenn sie effektiv ist, d. h. durch eine Streitmacht aufrecht erhalten wird, die hinreicht, um den Zugang zur Küste des Feindes wirklich zu verhindern. Außerdem wurde bestimmt, daß die neutrale Flagge das feindliche Gut mit Ausnahme der Konterbande deckt und neutrales Gut unter feindlicher Flagge mit Ausnahme der Konterbande nicht mit Beschlag belegt werden darf. –

Die Aufnahme der Türkei in die völkerrechtliche Gemeinschaft war für die Entwicklung des Völkerrechts insofern von der größten Bedeutung, als damit der Anfang gemacht wurde, die völkerrechtliche Gemeinschaft und damit die Geltung des Völkerrechts selbst womöglich auf alle Staaten der Welt, gleichgültig auf welcher religiösen Grundlage sie beruhen, auszudehnen, sofern dieselben sich den Normen der Völkerrechtsordnung unterwerfen.

Der Vertrag als Völkerrechtsquelle.

Ebenso trat im vorigen Jahrhundert teilweise anschließend an den Wiener Kongreß in bezug auf die Völkerrechtsquellen eine bedeutsame Entwicklung ein. In früheren Jahrhunderten waren nämlich völkerrechtliche Normen fast ausschließlich auf dem Wege des Herkommens entstanden, so daß man als Quelle des Völkerrechts nur das Gewohnheitsrecht bezeichnen konnte, im vorigen Jahrhundert trat aber als weitere Rechtsquelle neben das Gewohnheitsrecht in immer größerem Maße der Vertrag. Es kommt hier in Betracht, daß die internationalen Verträge, wenn sie auch alle in der gleichen Form abgeschlossen werden, dem Inhalte nach in zwei ganz verschiedene Gruppen zerfallen. Die eine Gruppe von Verträgen, an welchen stets nur zwei, oder jedenfalls nur einige wenige Staaten beteiligt sind, haben den Zweck, Rechtsverhältnisse, d. h. Rechte und Pflichten zwischen den Vertragsteilen zu begründen bzw. zu regeln, dritte Staaten kommen für solche Verträge nicht in Betracht und können sich denselben mit Rücksicht auf den Vertragszweck auch nicht einseitig anschließen. Zu diesen Verträgen gehören Handelsverträge, Konsularverträge, Niederlassungsverträge, Allianzverträge, Friedensschlüsse, Verträge über Gebietsabtretungen, Grenzberichtigungen, Rechtshilfeverträge, Auslieferungsverträge usw. Die zweite Gruppe von Verträgen, die man wohl besser Vereinbarungen nennen könnte, und die mitunter auch Kollektivverträge genannt werden, hat dagegen den Zweck, die im Völkerrechte fehlende Gesetzgebung zu ersetzen, in der Weise, daß in diesen Vereinbarungen Rechtsgrundsätze und Rechtsregeln aufgestellt werden, [324] denen sich zunächst die Vertragsteile unterwerfen[10]. Solche Vereinbarungen sprechen daher auch in der Regel wie Gesetze: „der Sklavenhandel ist verboten“, „die Kaperei ist abgeschafft“, „die Beschießung offener Städte ist unzulässig“ usw.

Auch diese Vereinbarungen verpflichten in erster Linie nur die Staaten, die sie eingegangen haben, da begreiflicherweise die dieselben abschließenden Staaten für nicht an ihnen beteiligte dritte Staaten nichts festsetzen können. Es liegt aber in der Natur der Sache, daß solche Verträge schon von Anfang an von einer größeren Anzahl von Staaten abgeschlossen werden, und daß man dritten Staaten den Beitritt in der Form einseitiger Erklärung beliebig gestattet[11], da ja bei diesen Vereinbarungen von vornherein der Wunsch besteht, daß die in denselben aufgestellten Rechtsregeln von allen Staaten anerkannt werden. Ist diese Anerkennung erfolgt, so haben die in solchen rechtssetzenden Verträgen aufgestellten Normen und Rechtsgrundsätze dieselbe verbindliche Kraft wie die durch das völkerrechtliche Herkommen entstandenen Rechtsgrundsätze, deren verbindliche Kraft ja auch nur auf der Rechtsüberzeugung und Anerkennung der zur völkerrechtlichen Gemeinschaft gehörigen Staaten sich stützt.

Daß solche rechtssetzenden Vereinbarungen im verflossenen Jahrhundert so häufig abgeschlossen wurden, hat darin seinen Grund, daß innerhalb der völkerrechtlichen Gemeinschaft mehr und mehr die Überzeugung Geltung sich verschaffte, daß viele staatliche Aufgaben, namentlich auf dem Gebiete des Verkehrswesens wie auch der Rechtspflege vom einzelnen Staate entweder gar nicht oder nur unvollkommen erfüllt werden können und daher ein Zusammenwirken mehrerer, unter Umständen vieler Staaten notwendig ist, um derartige gemeinsame Interessen zu befriedigen, und daß zu diesem Zwecke auch gewisse Grundsätze festzusetzen sind, die für die beteiligten Staaten verbindliche Normen zu enthalten haben[12]. Es gilt dies schon von dem auf dem Wiener Kongreß ausgesprochenen Verbote des Sklavenhandels und dem daselbst festgestellten Grundsatze der Freiheit der Schiffahrt auf den sog. internationalen Strömen und Flüssen. In noch höherem Maße aber machte sich selbstverständlich dieser Gesichtspunkt geltend bei den später zu erwähnenden Vereinbarungen über das Verkehrswesen. Die für den einzelnen Staat bestehende Unmöglichkeit bzw. Schwierigkeit, gewisse staatliche Aufgaben allein befriedigend zu erfüllen, hat zunächst zu zahlreichen Einzelverträgen, an denen jeweils nur zwei Staaten beteiligt waren, geführt. Zu diesen Verträgen gehören die zahlreichen Rechtshilfeverträge und Auslieferungsverträge.

Daneben sind aber auch verschiedene Kollektivverträge über internationales Privatrecht und internationalen Zivilprozeß unter Beteiligung einer größeren Anzahl von Staaten abgeschlossen worden, die deutlich zeigen, daß es sich hier um Interessen handelt, deren Befriedigung nur durch das Zusammenwirken einer größeren Anzahl von Staaten möglich ist. In Betracht kommen hier namentlich das Abkommen vom 14. November 1896 bzw. 17. Juli 1905 über den Zivilprozeß und die Haager Abkommen über internationales [325] Privatrecht, nämlich 1. vom 12. Juni 1902 über Eheschließung, 2. vom 12. Juni 1902 über Ehescheidung und Trennung von Tisch und Bett, 3. vom 12. Juni 1902 über die Regelung der Vormundschaft über Minderjährige, 4. vom 17. Juli 1905 über die Wirkungen der Ehe auf die Rechte und Pflichten der Ehegatten und ihre persönlichen Beziehungen und auf das Vermögen der Ehegatten, 5. vom 17. Juli 1905 über die Entmündigung und gleichartige Fürsorgemaßregeln, 6. das Abkommen vom 22. Juli 1912 über die Vereinheitlichung des Wechselrechts. Im Zusammenhang damit sind zu erwähnen die Vereinbarungen zum Schutze des Urheberrechts an Werken der Literatur und Kunst vom Jahre 1886 und zum Schutze der Erfindungspatente, Warenzeichen, gewerblichen Mustern und Modelle und Fabrikmarken vom 20. März 1883 bzw. 14. April 1891.

Am klarsten ist natürlicherweise die Notwendigkeit des Zusammenwirkens mehrerer Staaten und daher des Abschlusses von Kollektivverträgen auf dem Gebiete des Verkehrswesens hervorgetreten. Es ist daher auf diesem Gebiete durch verschiedene Vereinbarungen eine ganze Anzahl von sog. Unionen geschaffen worden. Zu erwähnen sind: 1. der im Jahre 1874 geschaffene Weltpostverein, 2. der am 17. Mai 1865 geschaffene Telegraphenverein, 3. die Vereinbarung vom 14. März 1884 zum Schutze der submarinen Telegraphenkabel, 4. das Übereinkommen über den Eisenbahnfrachtverkehr vom 14. Oktober 1890, 5. das Übereinkommen vom 16. Mai 1886 über die technische Einheit der internationalen Eisenbahnlinien, insbesondere die Spurweite usw.[13].

Das Besondere dieser Unionen liegt darin, daß sie als dauernde Einrichtungen gedacht sind und daher ihr Bestand durch den zulässigen Austritt einzelner Teilnehmer und den formlosen Eintritt neuer Mitglieder nicht berührt wird, und daß die dieselben begründenden Vereinbarungen nicht bloß allgemeine durch die Mitglieder der Union zu befolgende Vorschriften enthalten, sondern bei den meisten der Unionen auch durch die Gründungsverträge internationale Verwaltungseinrichtungen geschaffen sind, die die Aufgabe haben, die laufenden Geschäfte der Union zu besorgen und zur Erfüllung der Zwecke der Union beizutragen.

So haben der Weltpostverein und der Telegraphenverein internationale Bureaus in Bern, durch die Pariser Konvention vom 20. Mai 1875 ist ein internationales Maß- und Gewichtsbureau in Paris geschaffen worden, auch für die Unionen, betreffend den Schutz des gewerblichen und geistigen Eigentums vom Jahre 1883, und 1886 bestehen Zentralstellen in Paris[14].

Man kann daher sagen, daß in diesen Einrichtungen die Anfänge eines internationalen Verwaltungsrechts gegeben sind[15].

Von sonstigen Kollektivverträgen allgemeiner Natur mögen hier noch erwähnt werden die Pariser internationale Sanitätskonvention vom 3. April 1894 mit Zusatzkonvention [326] vom 30. Oktober 1894 zur Bekämpfung der Cholera, die internationale Konvention vom 19. März 1897 zur Abwehr der Pest und die internationale Übereinkunft vom 3. Dezember 1903 betr. Maßregeln gegen Pest, Cholera und Gelbfieber, ferner die Übereinkunft zum Schutze der für die Landwirtschaft nützlichen Vögel vom 19. März 1892 und verschiedene Konventionen zum Zwecke der Bekämpfung der Reblaus.

Die Kongoakte v. 26./2. 85 u. die Brüsseler Generalakte v. 2. 7. 90.

Einen wesentlich anderen Charakter als diese Kollektivverträge und Unionen tragen die Kongoakte vom 26. Februar 1885 und die auf der Brüsseler Antisklaverei-Konferenz festgestellte Generalakte vom 2. Juli 1890 an sich.

Bei der ersten Gruppe von Vereinbarungen handelte es sich darum, durch Zusammenwirken einer größeren Anzahl von Staaten Aufgaben zu erfüllen, die zwar jeden an der Vereinbarung beteiligten Staat unmittelbar berühren, die aber die einzelnen Staaten als einzelne entweder gar nicht oder doch nicht in vollem Umfange erfüllen können. Bei der Brüsseler Generalakte dagegen handelt es sich um die Bekämpfung des Sklavenhandels und bis zu einem gewissen Grade auch der Sklaverei, also um die Erfüllung eines Gebotes der Menschlichkeit, und daher um eine Angelegenheit, die die völkerrechtliche Gemeinschaft als solche und erst in zweiter Linie die einzelnen Signatärmächte der Akte angeht. Ebenso hat die Kongoakte die Rechtsverhältnisse eines großen Teils von Afrika vor allem im Interesse der ganzen völkerrechtlichen Gemeinschaft geregelt, wenn auch durch die Akte die Interessen der an den betreffenden Gebieten beteiligten Macht unmittelbar berührt werden.

Die auf der Kongokonferenz festgestellte Akte vom 26. Februar 1885[16] unterzeichnet von Deutschland, Österreich-Ungarn, Belgien, Dänemark, England, Frankreich, Spanien, Italien, Portugal, Holland, Rußland, Schweden und Norwegen, der Türkei, den Vereinigten Staaten von Nordamerika und dem Kongostaate enthält nämlich geradezu die Grundlagen einer Ordnung des öffentlichen Rechtszustandes von Zentralafrika, regelt also Angelegenheiten, die über das Interesse einzelner Staaten hinausgehen. Dies gilt auch vom 6. Kapitel (Art. 34 u. 35), welches Vorschriften enthält über die wesentlichen Bedingungen, die zu erfüllen sind, damit neue Besitzergreifungen völkerrechtlich herrenloser Länder an den Küsten des afrikanischen Festlandes als effektive zu betrachten sind.

Zur näheren Ausführung des Art. 9 der Kongoakte, betreffend die Beseitigung des Sklavenhandels, die nur die prinzipielle Verwerfung des Negerhandels wiederholt ausspricht, wurde die Brüsseler Generalakte vom 2. Juli 1890 erlassen, die von 17 Mächten, darunter Persien, die Türkei und Sansibar, unterzeichnet ist[17].

Die 100 Artikel umfassende Generalakte führt die einzelnen zur Bekämpfung des Negerhandels dienlichen Mittel (Hebung des Verkehrs und Vermehrung der Verkehrsmittel, [327] Förderung christlicher Missionen, Anlegung militärischer Stationen, Verbot der Einfuhr von Feuerwaffen und Munition, Bestrafung des Sklavenhandels usw.) auf, beschäftigt sich sodann mit der Überwachung der Karawanenwege und der Unterdrückung der Sklaventransporte zu Lande, enthält eingehende Bestimmungen über die Unterdrückung des Sklavenhandels zur See usw., sodann sind im fünften Kapitel Vorschriften über die Errichtung besonderer Bureaus für Freilassungsangelegenheiten und über die Behandlung freigelassener Sklaven enthalten. Im Anschlusse daran sind im sechsten Kapitel (Art. 90–95) Vorschriften getroffen über den Handel mit Spirituosen, der im Interesse der Eingeborenen in einer festgesetzten Zone, die Zentralafrika vom 20. Grad nördl. Breite bis zum 22. Grad südl. Breite und 200 Seemeilen an den Küsten umfaßt, Beschränkungen unterworfen ist.

Die Kongoakte und die Brüsseler Generalakte sind dadurch veranlaßt worden, daß in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sich die Kolonisation der europäischen Staaten vor allem Afrika zuwendete. Beide Vereinbarungen haben daher auch in der Hauptsache Bedeutung für Afrika und die an Afrika beteiligten Kolonialmächte, gehen aber, wie schon angedeutet, in ihrer Tragweite über ihren unmittelbaren Zweck hinaus.

Die Friedenskonferenzen von 1899 u. 1907.

Eine noch größere Bedeutung für die gesamte völkerrechtliche Gemeinschaft haben die beiden Friedenskonferenzen vom Jahre 1899 und 1907 und die auf denselben gefaßten Beschlüsse, sowohl was die Zahl der Teilnehmer an diesen Konferenzen, wie die auf denselben verhandelten Gegenstände betrifft[18]. Ebenso wie bei der Kongokonferenz und bei der Antisklavereikonferenz handelte es sich bei den beiden Friedenskonferenzen und der Londoner Seerechts-Konferenz vom Jahre 1908/09, die sich an die Friedenskonferenz vom Jahre 1907 anschloß, um die Verhandlung und Beschlußfassung über Gegenstände, die nicht bloß einzelne Staaten, sondern die ganze Völkerrechtsgemeinschaft angehen und daher nur auf Konferenzen, an der möglichst viele Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft beteiligt sind, geregelt werden können.

Die auf diesen Konferenzen wenigstens im Entwurfe, d. h. vorbehaltlich der Ratifikation, festgestellten Vereinbarungen erscheinen ferner als Versuche der Kodifikation einzelner Materien des Völkerrechts, wie des Land- und Seekriegsrechts und der für die Beilegung internationaler Streitigkeiten auf gütlichem Wege, namentlich durch schiedsgerichtliche Entscheidung festzustellenden Normen.

Es zeigt sich gerade bei den Beschlüssen dieser Konferenzen, daß die rechtssetzenden Vereinbarungen in der Tat geeignet sind, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, die im Völkerrechte fehlende Gesetzgebung zu ersetzen.

[328]

Die Friedenskonferenz v. 1899.

Die erste Friedenskonferenz vom Jahre 1899, an der die Bevollmächtigten von 26 Staaten teilnahmen, ist bekanntlich auf Veranlassung der russischen Regierung zusammengetreten; ihre Beratungen dauerten 11 Wochen (von Mitte Mai bis Ende Juli). Denselben lag ein von der russischen Regierung entworfenes Programm zugrunde, das ein dreifaches Ziel verfolgte:

1. Vereinbarung einer Frist, während welcher die gegenwärtigen Effektivstärken der Land- und Seestreitkräfte, sowie die Kriegsbudgets nicht erhöht werden dürfen und Anstellung einer Untersuchung, um in der Zukunft eine Verminderung der Kriegsbudgets und der Effektivstärken zu erreichen.

2. Kodifikation des Landkriegsrechts durch Revision der auf der Brüsseler Konferenz vom Jahre 1874 ausgearbeiteten, aber nicht ratifizierten Deklaration über die Kriegsgebräuche und Gesetze.

Im Zusammenhang damit waren verschiedene Milderungen des Kriegsrechts überhaupt vorgeschlagen. a) Vor allem sollte die zunächst für den Landkrieg berechnete Genfer Konvention vom Jahre 1864 über die Behandlung der Verwundeten und die Unverletzlichkeit der Feldlazarette und ihres Personals auf den Seekrieg übertragen und demselben angepaßt werden. b) Sodann war vorgeschlagen ein Verbot der Einführung neuer Feuerwaffen und Explosivstoffe in den Landheeren und Flotten und der Anwendung stärker wirkender Pulversorten als der gegenwärtig in Gebrauch befindlichen für Gewehre und Kanonen, ferner die Einschränkung der Verwendung schon vorhandener Explosivstoffe von verheerender Wirkung für Landkriege, und ein Verbot, Geschosse oder irgendwelche Explosivstoffe von einem Luftballon aus oder durch Benutzung ähnlicher Mittel zur Verwendung zu bringen, endlich ein Verbot, in Seekriegen unterseeische Torpedoschiffe oder andere Zerstörungsmittel gleicher Art zu benutzen und in Zukunft Kriegsschiffe mit Rammsporn zu bauen.

3. Die grundsätzliche Annahme der guten Dienste, der Vermittlung und des fakultativen Schiedsverfahrens, um bewaffnete Zusammenstöße zwischen den Völkern zu vermeiden, sowie eine Verständigung betreffs der Anwendung dieser Mittel und Aufstellung eines einheitlichen Verfahrens für diese Anwendung.

Gegenüber diesem reichhaltigen Programm war das Ergebnis der Konferenz ein ziemlich dürftiges. Was nämlich zunächst die sog. Abrüstungsfrage anlangt, so einigte sich die Konferenz lediglich auf eine Resolution dahingehend, daß eine Einschränkung „der gegenwärtig die Welt bedrückenden Kriegslasten im Interesse des materiellen wie moralischen Fortschritts der Menschheit“ sehr wünschenswert wäre. Im Anschlusse an diese Resolution wurde der Wunsch ausgesprochen, daß die Regierungen neuerlich die Möglichkeit einer Verständigung über eine Beschränkung der Land- und Seestreitkräfte und der Kriegsbudgets in Erwägung ziehen möchten.

Anlangend sodann die Regelung des Kriegsrechts und die Milderungen desselben, so wurde in der Tat eine, die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges betreffende Vereinbarung festgestellt.

Ferner wurde eine Vereinbarung über die Anwendung der Genfer Konvention auf [329] den Seekrieg festgestellt und drei Deklarationen, betreffend 1. ein für fünf Jahre gültiges Verbot, aus Luftballons oder in ähnlicher Weise Geschosse oder Explosivstoffe auf den Gegner zu schleudern, 2. ein Verbot von Projektilen, die lediglich den Zweck haben, betäubende und gesundheitsschädliche Gase, sog. Stickgase, zu verbreiten, 3. ein Verbot der Verwendung der sog. Dum-Dumgeschosse.

Im übrigen sprach die Konferenz den Wunsch aus, daß die Frage des Verbots von neuen Modellen und Kalibern von Gewehren und Schiffskanonen neuerlich von den Regierungen in Erwägung gezogen werde.

In bezug auf den dritten Hauptpunkt des russischen Programms wurde eine Vereinbarung über die friedliche Beilegung völkerrechtlicher Streitigkeiten (Convention sur le règlement pacifique des conflits internationaux) festgestellt. Diese dritte Konvention, die insofern die wichtigste war, weil sie am meisten dem Zwecke entsprach, zu welchem die Konferenz einberufen war, handelte im ersten Abschnitte von den „guten Diensten“ und der „Vermittlung“, im zweiten von den „internationalen Untersuchungskommissionen“ und im dritten Abschnitt „von der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit“, namentlich auch von dem bei der Schiedssprechung zu beobachtenden Prozeßverfahren.

Während der Beratungen der Konferenz war im Widerspruch zum russischen Programm von mehreren Staaten beantragt worden, den Grundsatz des obligatorischen Schiedsverfahrens anzunehmen und ein ständiges Schiedsgericht zu bestellen. Die Anträge fielen jedoch infolge des von anderen Staaten, namentlich auch von Deutschland, dagegen erhobenen Widerspruchs, so daß die Schiedsgerichtskonvention auf der Grundlage des fakultativen Schiedsverfahrens und der freien Wahl der Schiedsrichter beruht.

Die Friedenskonferenz von 1907.

Ein größeres Ergebnis hatte die zweite Friedenskonferenz, die von 46 Staaten beschickt war und vom 16. Juni bis 18. Oktober 1907 tagte.

Ihren Beratungen lag ein ebenfalls von der russischen Regierung entworfenes Programm zugrunde, wonach sich die Verhandlungen der Konferenz auf folgende Punkte beziehen sollten:

1. Verbesserung des Abkommens zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle in dessen Bestimmungen über den Schiedshof und die internationalen Untersuchungskommissionen;

2. Ergänzung des Abkommens vom Jahre 1899, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs;

3. Ausarbeitung eines Abkommens betreffend die Gesetze und Gebräuche des Seekriegs;

4. Ergänzung des Abkommens vom Jahre 1899, betreffend die Anwendung der Grundsätze der Genfer Konvention von 1864 auf den Seekrieg.

In diesem Programm war von Abrüstung bzw. Stillstand oder Einschränkung der Rüstungen keine Rede; trotzdem brachte die englische Delegation diese Frage auf der Konferenz zur Sprache. Die Angelegenheit wurde jedoch ohne weitere Verhandlung [330] durch eine ziemlich nichtssagende Resolution erledigt. Im übrigen wurden die Entwürfe von 14, vom 18. Oktober 1907 datierten Abkommen auf der Konferenz fertiggestellt[19]. Von diesen 14 Abkommen bezieht sich das über den Beginn der Feindseligkeiten auf den Krieg überhaupt, also sowohl auf den Seekrieg wie den Landkrieg, indem es vorschreibt, daß die Feindseligkeiten nicht begonnen werden dürfen, ohne daß vorher eine unzweideutige Benachrichtigung des Gegners wie der neutralen Mächte erfolgt ist.

Auf den Seekrieg und Landkrieg bezieht sich ferner die Erklärung, betreffend das Verbot des Werfens von Geschossen und Sprengstoffen aus Luftschiffen. Es handelt sich dabei um eine Erneuerung des bereits auf der ersten Friedenskonferenz für fünf Jahre vereinbarten Verbots gleichen Inhalts, während die jetzt festgestellte Erklärung für einen bis zum Schlusse der dritten Friedenskonferenz währenden Zeitraum in Kraft treten soll.

Den Landkrieg allein betrifft das Abkommen, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs, das sich lediglich als eine Überarbeitung und Verbesserung der bereits auf der ersten Friedenskonferenz festgestellten Vereinbarung gleichen Inhalts darstellt. In unmittelbarem Zusammenhange mit diesem Abkommen steht das Abkommen, betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Landkriege, das diesen Gegenstand in 19 Artikeln genauer regelt.

Auf den Seekrieg allein beziehen sich folgende Abkommen:

1. Die Behandlung feindlicher Kauffahrteischiffe beim Ausbruche von Feindseligkeiten. Dieses Abkommen verfolgt den Zweck, die feindlichen Kauffahrteischiffe, die sich bei Beginn der Feindseligkeiten in einem feindlichen Hafen oder auf der Fahrt befinden, tunlichst gegen Beschlagnahme zu sichern;

2. über die Umwandlung von Kauffahrteischiffen in Kriegsschiffe, welches die Bedingungen festsetzt, unter denen ein Kauffahrteischiff zur Zeit des Krieges in ein Kriegsschiff umgewandelt werden darf;

3. über die Legung von unterseeischen selbsttätigen Kontaktminen, das die Legung solcher Minen nur unter gewissen Voraussetzungen und Bedingungen zuläßt;

4. über das Verbot der Beschießung unverteidigter Häfen, Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude durch Seestreitkräfte in Kriegszeiten und die bei Beschießung verteidigter Plätze zu beobachtende Rücksichtnahme auf die dem Gottesdienste, der Kunst, der Wissenschaft und der Wohltätigkeit gewidmeten Gebäude, die geschichtlichen Denkmäler, die Hospitäler und die Sammelplätze für Kranke und Verwundete;

5. über die Anwendung der Grundsätze der Genfer Konvention auf den Seekrieg, eine Umarbeitung des Abkommens gleichen Betreffs vom Jahre 1899, welche durch die am 6. Juli 1906 erfolgte Revision der Genfer Konvention vom Jahre 1864 notwendig geworden war[20];

[331] 6. über gewisse Beschränkungen in der Ausübung des Beuterechts im Seekrieg[21];

7. über die Rechte und Pflichten der Neutralen im Falle eines Seekriegs;

8. über die Errichtung eines internationalen Prisenhofs, das insofern eine bedeutsame Änderung des geltenden Rechts beabsichtigt, als ein internationaler Prisengerichtshof geschaffen werden soll, der gegen die Entscheidung der nationalen Prisengerichte soll angerufen werden können, während bisher ein derartiges Anrufen einer internationalen, über dem nationalen Prisengericht stehenden Instanz ausgeschlossen war.

Außerdem sind noch zwei Vereinbarungen festgestellt worden, nämlich: 1. ein Abkommen, betreffend die Beschränkung der Anwendung von Gewalt bei der Eintreibung von Vertragsschulden, das bestimmt, daß bei der Eintreibung von Vertragsschulden, die bei der Regierung eines Landes von der Regierung eines anderen Landes für deren Angehörige eingefordert werden, nur dann zur Waffengewalt geschritten werden darf, wenn der Schuldnerstaat ein Anerbieten schiedsgerichtlicher Erledigung ablehnt oder unbeantwortet läßt oder im Falle der Annahme den Abschluß des Schiedsvertrags vereitelt oder nach dem Schiedsverfahren dem Schiedsspruche nicht nachkommt.

2. Das Abkommen zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle, das das Abkommen gleichen Inhalts vom Jahre 1899 ersetzen soll und dessen Bestimmungen in einzelnen Punkten verbessert hat. Namentlich hat eine Ausgestaltung des dritten Titels über die internationalen Untersuchungskommissionen stattgefunden, sodann sind Lücken in dem Verfahren vor dem Haager Schiedsgericht ausgefüllt worden, und endlich ist im vierten Titel ein viertes Kapitel hinzugefügt worden, durch welches ein abgekürztes Schiedsverfahren neu eingeführt wird.

Dieses Abkommen beruht ebenso wie das vom Jahre 1899 auf dem Grundsatze der fakultativen Schiedssprechung. Deshalb ist in demselben nirgends die Verpflichtung ausgesprochen, daß die Staaten ihre etwaigen Streitigkeiten lediglich im Wege der Schiedssprechung erledigen müssen. Vielmehr heißt es in den §§ 37 und 38, daß die internationale Schiedssprechung die Erledigung von Streitigkeiten zwischen den Staaten durch Richter ihrer Wahl zum Gegenstände hat, und daß in Rechtsfragen und in erster Linie in Fragen der Auslegung oder der Anwendung internationaler Vereinbarungen die Schiedssprechung als das wirksamste und zugleich der Billigkeit am meisten entsprechende Mittel anerkannt wird, um die Streitigkeiten zu erledigen, die nicht auf diplomatischem Wege haben beseitigt werden können und daß es daher wünschenswert wäre, daß bei Streitigkeiten über die vorerwähnten Fragen die Vertragsmächte eintretendenfalls die Schiedssprechung anrufen, soweit es die Umstände gestatten.

Allerdings wurde auch auf dieser Konferenz im Widerspruch mit ihrem Programme die Frage der obligatorischen Schiedssprechung aufgeworfen und sogar der Vorschlag [332] des Abschlusses eines auf diesem Grundsatze beruhenden, alle Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft bindenden Weltschiedsvertrags gemacht[22].

Aber auch dieses Mal scheiterte der Plan an dem Widerstande mehrerer Staaten, unter denen sich namentlich auch Deutschland befand[23].

Immerhin sprach sich die Konferenz in einer in die Schlußakte aufgenommenen Resolution für die grundsätzliche Anerkennung der obligatorischen Schiedssprechung aus.

Außerdem arbeitete die Konferenz den Entwurf eines Abkommens über die Errichtung eines ständigen Schiedsgerichtshofs aus, dessen Annahme sie den Vertragsmächten empfahl, nachdem eine Einigung über den Entwurf während der Verhandlungen der Konferenz selbst nicht zu erzielen gewesen war.

Die Londoner Seewehrkonferenz von 1908/09.

Eine Ergänzung der Abmachungen der beiden Friedenskonferenzen bildet die auf der von den bedeutendsten Seemächten beschickten Londoner Seerechtskonferenz festgestellte Seerechtsdeklaration vom 26. Februar 1909. Dieselbe regelt die Blockade in Kriegszeiten im Gegensatz zu der sog. Friedensblockade, die Kriegskonterbande, die neutralitätswidrige Unterstützung, die Zerstörung neutraler Prisen, den Flaggenwechsel, die feindliche Eigenschaft eines Schiffes, das Geleit neutraler Schiffe durch Kriegsschiffe ihres Heimatstaates; den Widerstand gegen die Durchsuchung und die Frage des Schadensersatzes im Falle ungerechtfertigter Beschlagnahme von Schiffen und Waren.

Nach dem von der russischen Regierung für die zweite Friedenskonferenz aufgestellten Programm sollte auf derselben eine Regelung des Seekriegsrechts in der gleichen umfassenden Weise erfolgen, wie dies bezüglich des Landkriegsrechts auf der ersten Konferenz geschehen war. Es gelang dies jedoch nicht, da die maßgebenden Seemächte in ihren Auffassungen über gewisse Punkte, namentlich das Seebeuterecht, zuweit auseinandergingen und namentlich England, das seit zwei Jahrhunderten es meisterhaft verstanden hat, die Entwicklung des Herkommens auf dem Gebiete des Seekriegsrechts zu seinem Vorteile zu beeinflussen, nicht geneigt war, zu Abmachungen seine Zustimmung zu geben, die die aus seiner Übermacht zur See sich ergebende Stellung hätten beeinträchtigen können.

Die Konferenz mußte sich daher darauf beschränken, die bereits erwähnten, einzelne Punkte des Seekriegsrechts regelnden Konventionen festzustellen und im übrigen den Wunsch auszusprechen, daß eine umfassende Kodifikation des Seekriegsrechts in das Programm einer dritten Friedenskonferenz aufgenommen werde.

Wider Erwarten sah sich jedoch die englische Regierung bald nach der Beendigung der zweiten Friedenskonferenz veranlaßt, die bedeutendsten Seemächte zu einer Seerechtskonferenz nach London einzuladen, um über verschiedene, auf der zweiten Friedenskonferenz [333] nicht geregelte Materien des Seekriegsrechts eine Einigung zu erzielen. Dies gelang auch in der bereits erwähnten Seerechtsdeklaration vom 26. Februar 1909[24].

Durch die auf den beiden Friedenskonferenzen und der Londoner Konferenz festgestellten Vereinbarungen ist in der Hauptsache eine Kodifikation des Landkriegsrechts sowohl, wie des Seekriegsrechts erfolgt.

Soweit durch die erwähnten Vereinbarungen die Rechtsordnung des Landkriegs bzw. des Seekriegs keine ausdrückliche Regelung erfahren hat, bleiben die Grundsätze, die sich gewohnheitsrechtlich gebildet haben in Geltung. Dies gilt unter anderem von dem vielumstrittenen Seebeuterecht, das mit Recht grundsätzlich aufrecht erhalten ist, aber eine umfassende Kodifikation nicht erfahren hat, wenn auch durch einzelne Konventionen in mancher Beziehung eine genauere Regelung und auch eine Milderung derselben eingetreten ist[25].

Beurteilung der Ergebnisse der beiden Friedenskonferenzen.

Betrachtet man den Verlauf und die Ergebnisse der beiden Friedenskonferenzen, so kann man denselben eine nicht zu unterschätzende Bedeutung nicht absprechen, selbst wenn man dieselben nicht vom pazifistischen Standpunkt aus beurteilt. Zunächst fällt schon ins Gewicht, daß namentlich auf der zweiten Friedenskonferenz Staaten aus allen Weltteilen vertreten waren und dadurch der Umfang der völkerrechtlichen Gemeinschaft sehr deutlich zum Ausdruck kam, wenn es auch zweifelhaft erscheinen mag, ob die Beteiligung von Siam, Haiti, Kuba und manchen anderen mittel- und südamerikanischen Staatswesen an solchen Konferenzen für die Fortbildung des Völkerrechts von besonderem[26] Vorteile ist.

Anlangend sodann die Ergebnisse der beiden Konferenzen, so haben dieselben allerdings den Erfolg nicht gehabt, auf den die Friedensschwärmer beim Zusammentritte der ersten Konferenz hofften: der Krieg ist noch nicht beseitigt und der Eintritt des „ewigen Friedens“ in eine noch recht unsichere Zukunft gerückt. Unmittelbar nach Schluß der ersten Friedenskonferenz brach der südafrikanische Krieg aus, der mehrere Jahre währte, darauf folgte das gewaltige Ringen zwischen Rußland und Japan um die Vorherrschaft in Ostasien. Die jüngste Vergangenheit sah den italienisch-türkischen Krieg um Tripolis und den Balkankrieg, der damit endigte, daß die Türken ihren europäischen Besitz bis auf einen kleinen Teil verloren.

Solange für den einzelnen Staat die Notwendigkeit besteht, seine Rechte und Interessen mit Waffengewalt verteidigen zu müssen, kann natürlich von Abrüstung in irgendwelcher [334] Form keine Rede sein. Das haben selbst die sog. Pazifisten eingesehen, die auf die Frage der Abrüstung nicht mehr den Wert legen wie früher, sondern von der von ihnen angestrebten, später noch zu besprechenden Organisation der völkerrechtlichen Gemeinschaft mittelbar die Beseitigung des Krieges und damit von selbst die Lösung der Frage der Abrüstung erhoffen.

Haben die beiden Friedenskonferenzen den Krieg nicht beseitigen können, so haben sie wenigstens dadurch eine verdienstliche Arbeit geleistet, daß sie das Kriegsrecht im wesentlichen kodifiziert und manche Milderungen der Kriegführung in Anregung gebracht haben. Namentlich ist es wertvoll, daß auf der zweiten Friedenskonferenz und der Londoner Seerechtskonferenz der Versuch gemacht wurde, auch das Seekriegsrecht in den Hauptpunkten zu kodifizieren und zahlreiche, gerade auf diesem Gebiete bestehende Streitfragen zu lösen oder doch der Lösung entgegenzuführen.

Ein gewisses Verdienst haben sich auch die beiden Friedenskonferenzen durch die Feststellung der sog. Schiedsgerichtskonvention erworben, da durch diese Konvention bei internationalen Streitigkeiten die beteiligten Staaten auf die Mittel zur gütlichen Beilegung der Streitigkeiten hingewiesen werden und in der Konvention namentlich auch das bei der Schiedssprechung einzuhaltende Prozeßverfahren geregelt ist.

Andererseits darf man aber auch die Bedeutung und Tragweite dieser Konvention nicht übertreiben, an dem Mangel von ausdrücklichen Prozeßvorschriften in früherer Zeit ist die gütliche Beilegung von internationalen Streitigkeiten niemals gescheitert und in Zukunft wird auch die Schiedsgerichtskonvention kriegerische Zusammenstöße nicht verhindern, wenn die beteiligten Staaten Gründe haben, auf eine gütliche Beilegung ihres Streites nicht einzugehen[27].

Daß die Schiedsgerichtskonvention auf beiden Konferenzen eine so große Rolle spielte, hat lediglich darin seinen Grund, daß sich die Unmöglichkeit der grundsätzlichen Abschaffung des Krieges und daher auch die Unmöglichkeit, bezüglich einer Rüstungsbeschränkung zu einer Einigung zu gelangen, herausgestellt hatte und infolgedessen die aus innerer Überzeugung oder aus sonstigen Gründen pazifistisch gesinnten Regierungen begreiflicherweise die Notwendigkeit betonten, möglichst alle internationale Streitigkeiten auf friedliche Weise, namentlich auf dem Wege der Schiedssprechung zu erledigen.

Daraus erklärt sich auch, daß schon auf der ersten Friedenskonferenz die Frage des obligatorischen Schiedsverfahrens im Widerspruche mit dem russischen Programm aufgeworfen wurde und daß auf der zweiten Friedenskonferenz ein so erbitterter Streit um die Anerkennung des Grundsatzes des obligatorischen Schiedsverfahrens und den Abschluß eines auf diesem Grundsatze beruhenden Weltschiedsvertrags entbrannte.

Daß dieses Projekt infolge des Widerspruchs verschiedener Staaten, deren Stimme nicht ignoriert werden konnte, abgelehnt wurde, beweist, daß diese Staaten sich bewußt waren, daß durch Abschluß eines solchen Vertrags eine abschüssige Bahn betreten werde, [335] die schließlich zu einer bedenklichen Beeinträchtigung der Souveränität der Staaten führen müsse.

Andererseits ist freilich durch Ablehnung des Projekts des Weltschiedsvertrags auf der zweiten Friedenskonferenz der Streit über diese Frage keineswegs endgültig erledigt. Im Gegenteil dauert dieser Streit fort, da die Anhänger des Pazifismus in dem Abschlusse eines Weltschiedsvertrags auf Grundlage der obligatorischen Schiedssprechung eine Vorbereitung für die von ihnen erstrebte Weltförderation erblicken.

Vom Ausgange dieses Streites wird es zum großen Teile abhängen, ob mit den beiden Friedenskonferenzen eine neue Ära in der Entwicklung des Völkerrechts im Sinne des Pazifismus begonnen hat und in welchem Umfange die Ziele der sog. Friedensfreunde werden erreicht werden.

III. Würdigung der Entwicklung des Völkerrechts im letzten Jahrhundert. – Ausblick in die Zukunft

Ausdehnung der völkerrechtlichen Gemeinschaft.

Wenn man die Entwicklung des Völkerrechts seit einem Jahrhundert überblickt, so ergibt sich vor allem die bemerkenswerte Tatsache, daß in diesem Zeitraume die völkerrechtliche Gemeinschaft weit über ihren ursprünglichen Umfang hinaus ausgedehnt worden ist. Anfänglich umfaßte die völkerrechtliche Gemeinschaft bloß die westeuropäischen Staaten, später trat Rußland hinzu, am Ende des 18. und im Anfange des 19. Jahrhunderts wurden die Staaten stillschweigend in die völkerrechtliche Gemeinschaft aufgenommen, die, wie die Vereinigten Staaten von Nordamerika, Mexiko, Brasilien, Chile, Peru usw. aus ehemaligen, vom Mutterlande abgefallenen Kolonien europäischer Staaten in Amerika entstanden waren. Die Aufnahme dieser Staaten erfolgte stillschweigend, weil angenommen wurde, daß dieselben in der Hauptsache auf der gleichen Kulturgrundlage beruhen, wie die christlichen Staaten in Europa.

Dagegen erfolgte die Aufnahme der Türkei im Jahre 1856 ausdrücklich und in formeller Weise, da hier ein Staat in Frage war, dessen Zivilisation und Rechtseinrichtungen auf ganz anderer Grundlage beruhen, wie die der christlichen Staaten. Nachdem aber einmal die Türkei in die völkerrechtliche Gemeinschaft aufgenommen war, unterlag die stillschweigende oder ausdrückliche Aufnahme anderer nichtchristlicher Staaten in die völkerrechtliche Gemeinschaft keinem grundsätzlichen Bedenken, da durch die Aufnahme der Türkei anerkannt war, daß es für den Eintritt in die völkerrechtliche Gemeinschaft genüge, wenn der betreffende Staat die für den internationalen Verkehr der christlichen Staaten geltende Rechtsordnung auch für sich als verbindlich betrachte. Infolge der Zugehörigkeit zahlreicher nichtchristlicher Staaten in Asien und Afrika zur völkerrechtlichen Gemeinschaft, erstreckt sich, wenn man die Kolonien europäischer Staaten in Betracht [336] zieht, die Geltung des Völkerrechts auf alle Weltteile, freilich noch nicht auf alle Völker und Staatswesen.

Durch die Ausdehnung der völkerrechtlichen Gemeinschaft auf die amerikanischen Staaten einerseits und nichtchristliche Staaten andererseits sind die Grundsätze des Völkerrechts, wie sich dieselben unter den christlichen Staaten von Europa ausgebildet hatten, zunächst nicht berührt worden, da auch die nichtchristlichen Staaten, wenn sie als Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft anerkannt sein wollten, einfach sich dem in dieser Gemeinschaft geltenden Rechte unterwerfen mußten. Es war dies um so leichter möglich, als das Völkerrecht nicht in dem Maße, wie z. B. das Privatrecht und Strafrecht, von den in einem Volke herrschenden religiösen Vorstellungen und den darauf beruhenden ethischen Anschauungen abhängig ist. Eine andere Frage ist freilich, ob nicht im Laufe der Zeit der Einfluß einerseits der amerikanischen, andererseits der mongolischen Staaten im Völkerrechte Anschauungen zur Geltung bringen wird, die von den bisherigen Grundsätzen abweichen.

Zunahme der friedlichen Beziehungen und der Völkerrechtsgemeinschaft.

Ein weiteres bemerkenswertes Moment der Entwicklung des Völkerrechts während des letzten Jahrhunderts zeigt sich darin, daß die gegenseitigen Beziehungen der Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft viel zahlreicher und zum Teile auch andersartiger wurden als früher. Sie wurden insofern andersartiger, als in früheren Jahrhunderten die kriegerischen Beziehungen der Staaten an Zahl und Bedeutung überwogen. Das verflossene Jahrhundert hat zwar auch noch zahlreiche Kriege gesehen, wie auch in Zukunft kriegerische Zusammenstöße nicht zu vermeiden sein werden, daneben nahmen aber die friedlichen Beziehungen an Zahl und Bedeutung zu. Namentlich machte sich dies auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Lebens geltend, wo der gesteigerte Verkehr die bereits erwähnten Unionen und die zahlreichen Handels-, Zoll- und Konsularverträge hervorrief.

Im Zusammenhang damit steht, daß sich mehr und mehr ein gewisses Gefühl der Solidarität unter den Mitgliedern der völkerrechtlichen Gemeinschaft geltend machte und die Überzeugung, daß gewisse Angelegenheiten nicht im egoistischen Interesse einzelner Staaten erledigt werden dürfen, sondern im allgemeinen Interesse von der Gesamtheit der Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft oder doch von einer erheblichen Zahl derselben geregelt werden müßten.

Entstehung der Rechtssätze des Völkerrechts durch Vertrag.

In der Entwicklung des Völkerrechts während des verflossenen Jahrhunderts ist ferner hervorzuheben, daß die Entstehung der Rechtssätze auf dem Wege des Herkommens der bewußten Schaffung durch normsetzende Vereinbarungen gegenüber mehr und mehr zurückgetreten ist.

Die Gründe für diese Erscheinung lagen einmal in dem stärkeren Hervortreten des Solidaritätsgefühls in der völkerrechtlichen Gemeinschaft, das den Wunsch rege machte, [337] gewisse, eine größere Anzahl von Staaten berührende Angelegenheiten durch gemeinsame Beschlüsse zu regeln. Dazu kamen die vermehrten gegenseitigen Beziehungen der Staaten, namentlich auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Lebens und die Notwendigkeit, gewisse Angelegenheiten, deren Regelung auf dem Wege des Herkommens der Natur der Sache nach ausgeschlossen war, wie z. B. bei den in den Unionen geregelten Verhältnissen, durch ausdrückliche Satzung zu regeln, wie sich auch häufig das Bedürfnis ergab, Zweifel in bezug auf die Geltung und die Auslegung gewisser Sätze des Gewohnheitsrechts, z. B. auf dem Gebiete des Kriegsrechts durch Vereinbarungen zu lösen.

Das internationale Recht hat eben in dieser Beziehung die gleiche Entwicklung durchgemacht wie das nationale Recht. Solange die Verhältnisse einfach waren, genügte die Entstehung der Rechtssätze durch das Herkommen; je verwickelter die zu regelnden Verhältnisse in den einzelnen Staaten bzw. in der völkerrechtlichen Gemeinschaft wurden, um so mehr entstand die Notwendigkeit, Gesetze zu erlassen bzw. rechtssetzende Vereinbarungen zu treffen.

Daß die in ziemlichem Umfange eingetretene Ersetzung des völkerrechtlichen Herkommens durch normsetzende Vereinbarungen manche Vorteile hat, läßt sich nicht verkennen. Gesetztes Recht ist in der Regel klarer und bestimmter als Gewohnheitsrecht, die Bildung von Rechtssätzen auf dem Wege des Herkommens ist langsamer als die Schaffung von Normen durch ausdrückliche Satzung, auch kann die Weiterentwicklung des Rechts leichter durch ausdrückliche Vorschriften in eine bestimmte Richtung geleitet werden, als dies bei der Entstehung von Rechtssätzen durch die Gewohnheit möglich ist. Andererseits sind mit den normsetzenden Vereinbarungen auf dem Gebiete des Völkerrechts gewisse Nachteile und Gefahren verbunden, die häufig genug nicht gehörig erkannt werden.

Rechtssetzende Vereinbarungen können nur auf Konferenzen festgestellt werden, an denen die Vertreter einer größeren Anzahl von Staaten beteiligt sind. Es liegt nun in der Natur der Sache, daß selbst, wenn alle auf einer Konferenz vertretenen Staaten über das zu erreichende Ziel einig sind, doch die einzelnen Staaten über die Art und Weise, wie das Ziel erreicht werden soll, vielfach auseinandergehen werden. Um etwas zu erreichen, werden dann Kompromisse geschlossen, die niemanden befriedigen und häufig Anlaß zu Streitigkeiten geben, wie dies z. B. bezüglich einzelner Bestimmungen der Kongoakte wie auch einzelner Beschlüsse der beiden Friedenskonferenzen der Fall war. Noch bedenklicher ist, daß derartige Konferenzen nur zu leicht unter dem Einflusse gewisser zur Zeit herrschenden Strömungen stehen und daß solchen Einflüssen entsprechend mitunter recht bedenkliche Beschlüsse gefaßt werden.

Es traten auch in dieser Beziehung innerhalb der völkerrechtlichen Gemeinschaft ganz ähnliche Erscheinungen zutage, wie sie sich in den einzelnen Staaten zeigen. Zum Beweise dieser Tatsache braucht nur darauf hingewiesen zu werden, welche Stärke die in der französischen Revolution zur Geltung gelangten Ideen der Freiheit und Gleichheit aller Menschen und der Volkssouveränität wie auch die aus diesen Ideen entsprungenen Forderungen nach Demokratisierung des gesamten Staatslebens, wie sie namentlich in der Einführung des allgemeinen und direkten Wahlrechts und der parlamentarischen Regierungsweise auch in konstitutionellen Monarchien liegt, erlangt haben.

[338] Inwieweit diese Ideen und Forderungen berechtigt waren bzw. sind, mag hier dahingestellt bleiben. Jedenfalls dürfte so viel zweifellos sein, daß die seit der französischen Revolution in allen Staaten in immer größerem Umfange eingetretene Demokratisierung des Verfassungsrechts große Nachteile gehabt hat. Namentlich hat vielfach die Autorität der Staatsgewalt Schaden gelitten und haben Bevölkerungsklassen im Staatsleben eine politische Macht erlangt, auf die sie nach ihrer sozialen Stellung und ihrer Bildungsstufe keinen begründeten Anspruch haben.

Wie seit der französischen Revolution eine immer größere Demokratisierung des gesamten öffentlichen Lebens in den meisten Staaten eingetreten ist, so macht sich vielfach im Anschlusse an die Ideen und Grundsätze der Revolution und der in derselben zutage getretenen kosmopolitischen Richtung namentlich seit einigen Jahrzehnten innerhalb der völkerrechtlichen Gemeinschaft eine „Flutwelle des Internationalismus“ geltend, der danach strebt, die Grundlagen des geltenden Völkerrechts vollständig zu verändern.

Das geltende Völkerrecht beruht auf dem Grundsatze der Souveränität und Unabhängigkeit der Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft, die als souveräne Gemeinwesen weder eine gesetzgebende noch eine richterliche Gewalt über sich anerkennen und anerkennen können. Allerdings bildet neben der Souveränität der Staaten eine weitere Grundlage der völkerrechtlichen Gemeinschaft und des in derselben geltenden Völkerrechts das Bewußtsein der Solidarität gewisser Interessen, da sich ohne dieses Bewußtsein weder die völkerrechtliche Gemeinschaft noch das Völkerrecht hätte bilden können; welche Interessen als gemeinsam zu betrachten sind, ergibt sich auch erst wieder aus der Anerkennung seitens der souveränen Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft.

Einfluß des Internationalismus und Pazifismus.

Demgegenüber strebt der Internationalismus, wie er namentlich durch die sog. Pazifisten vertreten ist, danach, die sämtlichen Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft in einer Weltförderation zu vereinigen, in der natürlich die einzelnen Staaten in ihrer Souveränität sehr erheblich durch die über ihnen stehende Zentralgewalt beschränkt wären. Da dieses Ziel nicht sofort zu erreichen ist, wird zunächst die Beseitigung des Krieges verlangt, weil gerade in dem Rechte der Kriegführung sich die Souveränität der Staaten am deutlichsten zeigt. Im Zusammenhange damit wird der Abschluß eines Weltschiedsvertrags erstrebt, des Inhalts, daß alle Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft sich verpflichten, ihre etwaigen Streitigkeiten nicht mehr auf dem Wege der Selbsthilfe zum Austrage zu bringen, sondern durch ein ständiges, ein für allemal bestelltes Schiedsgericht entscheiden zu lassen.

Diese internationale Strömung hat sich natürlich stark auf den beiden Friedenskonferenzen vom Jahre 1899 und 1907 geltend gemacht, auf denen über den Stillstand der Rüstungen bzw. Abrüstung als eine die Abschaffung des Krieges vorbereitende Maßregel und dann vor allem über die Erledigung internationaler Streitigkeiten durch schiedsgerichtliche Entscheidung und über Abschluß eines Weltschiedsvertrags lebhaft verhandelt wurde.

Über das Ergebnis dieser Verhandlungen ist bereits früher berichtet worden; hier mag nur hervorgehoben werden, in welcher mitunter bedenklichen Weise diese Verhandlungen [339] durch den Internationalismus und Pazifismus beeinflußt und beherrscht waren. Aus den Verhandlungen der beiden Konferenzen und der auf denselben festgestellten Abkommen ließen sich hierfür zahlreiche Beispiele beibringen. Es soll aber hier lediglich auf das höchst bedenkliche auf der zweiten Friedenskonferenz festgestellte Abkommen über die Errichtung eines internationalen Prisenhofes hingewiesen werden, der über Rekurse gegen die Entscheidungen der nationalen Prisengerichte entscheiden soll. Es ist nämlich zweifellos, daß in der Errichtung eines solchen internationalen Prisenhofes eine viel weitergehende Beschränkung der staatlichen Souveränität liegen würde, als in der Anerkennung des Grundsatzes der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit, da sich ein solcher Prisenhof als ein wirklicher, über den einzelstaatlichen Prisengerichten stehender Gerichtshof darstellen würde, gegen dessen Zuständigkeit nicht wie im obligatorischen Schiedsverfahren die Einrede erhoben werden kann, daß es sich im gegebenen Falle um die Ehre und Lebensinteressen der Streitsteile handle[28].

Die sich daraus ergebenden Bedenken haben auch bewirkt, daß das Abkommen über die Errichtung eines internationalen Prisenhofs von keinem der auf der Friedenskonferenz vom Jahre 1907 vertretenen Staaten ratifiziert worden ist, nicht einmal von England und Deutschland, die die Anregung zu dem Abkommen gegeben haben[29].

Derartige Konferenzbeschlüsse, wie die erwähnten, lassen sich nur dadurch erklären, daß die Regierungen der an der Konferenz beteiligten Staaten und deren Vertreter unter einem so starken Einflusse der die internationale Meinung machenden Pazifisten standen[30], daß sie demselben schwer Widerstand leisten konnten, wie ja auch in den einzelnen Staaten nicht selten unter dem Einflusse der sog. öffentlichen Meinung Gesetze erlassen und Verwaltungsmaßregeln ergriffen werden, die innerlich keine Berechtigung haben.

Wenn ein Staat sich gegen die herrschende Strömung zu stemmen sucht, so gilt er als rückständig und wird von allen Seiten angegriffen, wie dies Deutschland geschah, weil es sich zunächst wenigstens gegen die Anerkennung der obligatorischen Schiedssprechung wehrte und sich auf den Weltschiedsvertrag nicht einließ. Gilt ja doch auch Deutschland in den Augen gar vieler als rückständig und reaktionär, weil es in der Demokratisierung [340] seiner Staatseinrichtungen zu seinem Vorteile noch nicht so weit vorgeschritten ist wie andere Staaten.

Jeder Staat, der auf seine Unabhängigkeit und die Freiheit in seinen Entschließungen Wert legt, sollte sich daher mit Entschiedenheit dagegen wehren, daß auf internationalen Konferenzen Beschlüsse gefaßt werden, durch die, ohne daß sie eine innere Berechtigung haben, lediglich gewissen, sich breitmachenden Strömungen nachgegeben wird. Ebenso sollte jeder Staat seine Beteiligung an derartigen Konferenzen wie den Friedenskonferenzen von der Aufstellung eines klaren und bestimmten Programms abhängig machen und darauf dringen, daß von diesem Programm im Laufe der Verhandlungen nicht abgewichen wird[31]. Bei der Beteiligung an Konferenzen muß ein Staat um so mehr mit Vorsicht verfahren, je größer die Zahl der Teilnehmer ist und je verschiedenartiger nach Größe, Zivilisation und maßgebenden Interessen die beteiligten Staaten sind.

Wenn an einer Konferenz, wie der zweiten Friedenskonferenz, Staaten aus allen Weltteilen, von verschiedenen Rassen, von verschiedener Kultur und verschiedener Größe teilnehmen, so können Unzuträglichkeiten nicht ausbleiben. Namentlich besteht die Gefahr, daß kleine Staaten in Abhängigkeit von Großmächten kommen, deren Gewicht vermehren und dadurch einen ihnen nicht zukommenden Einfluß erlangen. Ebenso kann aus anderen Gründen ein bedenklicher Zusammenschluß einer größeren Anzahl von Staaten erfolgen. So ist die Möglichkeit sehr naheliegend, daß, wenn die panamerikanische Bewegung an Stärke gewinnt, die sämtlichen amerikanischen Staaten unter Führung der Union als eine geschlossene Einheit den übrigen Mitgliedern der völkerrechtlichen Gemeinschaft gegenübertreten und versuchen werden, denselben ihren Willen aufzudrängen.

Unzweifelhaft hat, wie schon hervorgehoben, die Entwicklung im letzten Jahrhundert dahin geführt, daß die friedlichen Beziehungen der Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft zahlreicher, vielgestaltiger und inniger wurden und daß infolgedessen Anfänge einer gewissen Organisation der völkerrechtlichen Gemeinschaft in von einer größeren Anzahl von Staaten beschickten Kongressen und Konferenzen sich zeigten, und daß auf diesen Kongressen und Konferenzen, wie namentlich auf den beiden Friedenskonferenzen, die Regelung gemeinsamer Angelegenheiten der völkerrechtlichen Gemeinschaft teilweise in sehr umfassender Weise erfolgte.

Unter diesen Umständen wirft sich die Frage auf, welches das Ziel dieser Entwicklung sein wird und welche Maßregeln die Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft ergreifen sollen, um dieses Ziel so bald als möglich und so vollständig als möglich zu erreichen.

Weltstaat und Weltföderation.

Dabei kann vollständig von so phantastischen Ideen, wie der Idee eines alle Staaten und Völker der Erde umfassenden Weltstaates abgesehen werden, da dieser Gedanke, ganz abgesehen von sonstigen Erwägungen, schon deshalb undurchführbar wäre, weil ein [341] solch riesiges Staatswesen eben wegen seines Umfangs und der Vielgestaltigkeit der in demselben vereinigten Völker und Rassen gar nicht regiert und verwaltet werden könnte[32].

Ebenso undurchführbar ist aber auch der Plan einer Weltföderation, der sich bei allen Pazifisten mehr oder minder klar ausgesprochen findet[33], wobei es gleichgültig ist, ob man sich diese Föderation als Bundesstaat oder als Staatenbund denkt. Daß eine derartige Föderation ebensowenig regiert und verwaltet werden könnte, wie ein einheitliches Weltreich, ist klar[34]. Es würden sich aber auch schon der Bildung dieser Föderation unübersteigliche Hindernisse in den Weg stellen.

Wenn für die Durchführbarkeit der Bildung einer Weltföderation darauf hingewiesen wird, daß, wie aus den ehemaligen englischen Kolonien in Nordamerika, aus den Kantonen der Schweiz und den zeitweilig wenigstens vollständig selbständigen deutschen Staaten Bundesstaaten geworden sind, es auch möglich sein müsse, zunächst die europäischen Staaten, später aber auch die übrigen Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft zu einer Weltföderation zu vereinigen, so sind dabei wesentliche Momente übersehen.

Die Bildung eines Staatenbundes wie eines Bundesstaats setzt voraus, daß die betreffenden Staaten durch nationale Zusammengehörigkeit, geographische Lage, gemeinsame politische und wirtschaftliche Interessen aufeinander angewiesen sind, so daß das Bundesverhältnis nur die rechtliche Form für die tatsächlich bereits vorhandene Gemeinschaft bildet. Wo nicht ausschließlich oder doch vorwiegend nationale Gründe für die Bildung eines Bundesstaates maßgebend waren, werden, wie bei der schweizerischen Eidgenossenschaft, die betreffenden Staaten durch jahrhundertlange geschichtliche Entwicklung, geographische Lage und besondere politische Verhältnisse zusammengehalten.

Alle diese Voraussetzungen würden bei einer Weltföderation fehlen, es ist daher gar nicht denkbar, daß die verschiedenen Rassen und Völker, die zur völkerrechtlichen Gemeinschaft gehören, in einer solchen Organisation zusammengefaßt werden könnten. Ist doch auch das römische Weltreich, obwohl es nur einen kleinen Teil der damals bekannten Welt umfaßte, wieder auseinandergefallen, weil das Selbständigkeitsgefühl der in demselben äußerlich verbundenen Nationen der Zusammenfassung widerstrebte.

Ebenso konnte die im Mittelalter zur Geltung gelangte Idee, daß die christlichen Staaten von Europa eine Universalmonarchie mit Kaiser und Papst an der Spitze bilden, niemals vollständig verwirklicht werden und ist schließlich ganz verschwunden. In der zweiten Hälfte des Mittelalters haben sich vielmehr die verschiedenen europäischen Nationen entwickelt und haben voneinander unabhängige Staaten gebildet, die eine Unterordnung [342] unter den Kaiser überhaupt nicht, unter den Papst aber jedenfalls nicht in weltlichen Dingen anerkannten. Die Folge dieser Entwicklung war, daß die Idee einer christlichen Universalmonarchie verschwand und der Gedanke einer aus den sämtlichen christlichen, einer höheren Gewalt nicht untergebenen, daher souveränen und sich grundsätzlich gleichstehenden Staaten bestehenden völkerrechtlichen Gemeinschaft entstand.

Die Überzeugung, daß der Plan, alle zur völkerrechtlichen Gemeinschaft gehörigen Staaten in eine Weltföderation zu vereinigen, eine auf absehbare Zeit undurchführbare Utopie ist, hat manche Anhänger der Föderationsidee auf den Gedanken gebracht, die Föderation zunächst wenigstens auf die europäischen Staaten zu beschränken[35]. Aber auch dieser Gedanke hat bei den scharfen Gegensätzen, die unter den europäischen Staaten, namentlich den Großmächten, bestehen, keine Aussicht auf Verwirklichung. Sollte es aber wirklich gelingen, eine solche Föderation zu bilden, so wäre damit wenig gewonnen, da dann die „Vereinigten Staaten von Europa“ mit ihren besonderen Interessen der übrigen Welt gegenüberstehen würden und die Gefahr, daß dieser Interessengegensatz zu kriegerischen Konflikten führen könnte, mindestens ebenso groß wäre wie jetzt, denn darüber sollte man sich nicht täuschen, daß einerseits zwischen Europa und Amerika und andererseits zwischen den Völkern der weißen Rasse und den Mongolen tiefgehende Gegensätze bestehen, die auch dadurch nicht zu beseitigen sind, daß man versucht, eine alle Weltteile umfassende Föderation zu schaffen.

Wer glaubt, daß trotz dieser Gegensätze eine Weltföderation möglich ist, dem fehlt jeder Blick für die tatsächlichen Verhältnisse und fehlt namentlich das Verständnis für die tieferen Gründe der Gegensätze zwischen den einzelnen Völkern, Rassen und auch Weltteilen.

Gegensätze in der völkerrechtlichen Gemeinschaft.

Trotz der so oft betonten „Flutwelle des Internationalismus“ beruhen die gegenseitigen Beziehungen der verschiedenen Staaten und Völker keineswegs auf den Gefühlen der Brüderlichkeit, sondern der nackten Selbstsucht und des Strebens nach Herrschaft.

In Europa strebt England nach der Seeherrschaft aus wirtschaftlichen und politischen Gründen, Frankreich will sich mit Deutschland nicht aussöhnen, weil ihm im Kriege von 1870/71 die beanspruchte Vorherrschaft in Europa entrissen wurde, ebenso sind die Slawen erbitterte Gegner der Germanen, weil seit Jahrhunderten zwischen diesen Völkern um die Herrschaft in Mittel- und Osteuropa gekämpft wird.

Was sodann das Verhältnis zwischen Amerika und Europa anlangt, so waren die Vereinigten Staaten schon vor fast einem Jahrhundert bestrebt, durch die Monroedoktrin den Einfluß europäischer Staaten auf Amerika möglichst auszuschalten, während die panamerikanische Bewegung dahin zielt, sämtliche amerikanische Staaten politisch [343] und wirtschaftlich zusammenzufassen, um diesem Panamerika das Übergewicht nicht bloß über das alternde Europa, sondern die Herrschaft in der ganzen Welt zu verschaffen.

Nicht anders steht es mit den Rassengegensätzen. Wenn auch die schwarze Rasse, die sich gegen die Herrschaft der Weißen auflehnt, nicht weiter in Betracht gezogen werden soll, so besteht doch der uralte Gegensatz zwischen Ariern und Mongolen[36] auch heute noch trotz der Aufnahme mongolischer Staaten in die völkerrechtliche Gemeinschaft. Es ist nicht zu erwarten, daß die mongolischen Völker, die nach Hunderten von Millionen zählen und im Besitze einer uralten, auf hoher Stufe stehenden Zivilisation und Kultur stehen, sich die jetzt tatsächlich bestehende wirtschaftliche und politische Herrschaft der Weißen in der Welt dauernd gefallen lassen. Im Gegenteil werden sie suchen, diese Herrschaft zu beseitigen; der darüber entstehende Kampf wird sicherlich nicht bloß mit friedlichen Mitteln geführt werden. Wenn unter diesen Umständen von der Unmöglichkeit der Bildung einer Weltföderation gesprochen wird, so entspricht dies zweifellos den tatsächlichen Verhältnissen, wie sie nicht bloß gegenwärtig bestehen, sondern im wesentlichen auf absehbare Zeit bestehen werden.

Bei Staaten und Völkern, die durch solche Gegensätze getrennt sind, ist wohl eine so lockere Verbindung, wie sie gegenwärtig in der völkerrechtlichen Gemeinschaft besteht, möglich, dagegen ist eine Föderation, mag sie auch nur staatenbündlichen Charakter haben, der Natur der Sache nach ausgeschlossen. Wenn es aber selbst gelingen sollte, das Unmögliche möglich zu machen und eine Weltföderation zu schaffen, so wäre damit wenig erreicht. Nicht einmal der Krieg wäre aus der Welt geschafft, ein Ziel, das ja bei dem Streben nach einer Weltföderation für die Pazifisten in erster Linie steht. Ganz abgesehen davon, daß jede mit Gewalt durchgeführte Bundesexekution, die schließlich keine Föderation entbehren kann, doch nur ein anderer Name für Krieg gegen das widerstrebende Bundesmitglied ist, sind auch bei keiner Föderation, wie der schweizer Sonderbundkrieg vom Jahre 1847, der nordamerikanische Sezessionskrieg in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und der deutsche Krieg von 1866 schlagend beweisen, unter den Mitgliedern einer Föderation Kriege ausgeschlossen, die auf eine Vernichtung des Bundesverhältnisses abzielen. Daß Anlaß zu solchen Kriegen bei einer aus so verschiedenartigen, sich selbst feindlich gegenüberstehenden Elementen bestehenden Weltföderation oft genug gegeben sein wird, liegt auf der Hand.

Aber auch positive Vorteile wird eine solche Föderation nicht haben. Soweit zweifellose gemeinsame Interessen der völkerrechtlichen Gemeinschaft gegeben sind, können sie jetzt schon befriedigt werden und werden auch, wie die Erfahrung zeigt, befriedigt. Auch in einer Weltföderation müßte man doch bei der Frage, welche Ziele und Aufgaben dieselbe verfolgen soll, Einstimmigkeit der Mitglieder verlangen. Würde man sich aber mit Mehrheitsbeschlüssen der Organe der Föderation begnügen, so wäre damit nicht bloß die Souveränität der einzelnen Staaten nahezu vernichtet, sondern es wäre auch die Möglichkeit gegeben, einzelne Staaten geradezu zu unterdrücken oder doch in ihren Interessen zu schädigen, und zwar nicht bloß kleine und schwache Staaten, sondern auch Großstaaten, wenn sich dieselben einer erdrückenden Mehrheit gegenüber befinden. [344] Kein Staat, der die bestehenden internationalen Verhältnisse nüchtern beurteilt und Wert auf seine Souveränität legt, wird daher Bestrebungen Vorschub leisten, die auf eine Weltföderation hinzielen[37].

Ebenso ist aber auch der Widerstand durchaus berechtigt, den verschiedene Staaten, darunter namentlich Deutschland, der Einführung der obligatorischen Schiedssprechung und dem Abschlusse eines auf diesem Grundsatze beruhenden Weltschiedsvertrags entgegengesetzt haben, da ein solcher Weltschiedsvertrag nur die Vorbereitung für die Weltföderation sein soll. Haben sich einmal die Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft in bezug auf alle Streitigkeiten einem ein für alle Male bestellten Weltschiedsgericht unterworfen, so sind in der Tat die weiteren Konsequenzen nicht abzusehen.

Herrschaft der Phrasen und der Schlagworte.

In der Gegenwart herrschen sowohl in bezug auf die innerpolitischen Verhältnisse wie hinsichtlich der internationalen Beziehungen in hohem Grade Phrasen und Schlagworte. Wenn in der Presse, in öffentlichen Versammlungen oder in Parlamenten von Fortschritt, Freiheit und Gleichheit, allgemeinem Wahlrecht, sozialpolitischen Aufgaben des Staates oder von Solidarität aller Völker, „Flutwelle des Internationalismus“ usw. die Rede ist, werden oft auch sonst nüchtern denkende Menschen so beeinflußt, daß sie entweder die gegebenen Verhältnisse nicht mehr ganz klar sehen oder sich zu schwach fühlen, der herrschenden Strömung erfolgreichen Widerstand entgegenzusetzen.

Infolgedessen macht sich in unserm öffentlichen Leben, namentlich auch soweit es internationale Verhältnisse zum Gegenstand eine gewisse Unwahrheit und Heuchelei geltend[38], die auch bei den Verhandlungen der beiden Friedenskonferenzen sich recht deutlich gezeigt hat. Gewiß ist diese Unwahrheit in der Regel unbewußt, trotzdem ist sie schädlich, weil selbst maßgebende Persönlichkeiten durch dieselbe veranlaßt werden, die bestehenden Verhältnisse in falschem Lichte zu sehen und daher nicht zutreffende Entschließungen zu fassen.

Es ist hohe Zeit, daß diese Herrschaft der Phrase und der Schlagworte ihr Ende erreicht, denn es ist klar, daß Fortschritte im Völkerrechte nicht durch utopistische, mit den Grundlagen der geltenden Völkerrechtsordnung im Widerspruch stehende Bestrebungen erzielt werden können, sondern nur dadurch, daß auf den bestehenden Grundlagen vorsichtig und ruhig weitergebaut wird. Die Mittel und Wege dazu sind in der bereits [345] bestehenden Organisation der völkerrechtlichen Gemeinschaft gegeben, die ganz mit Unrecht als eine „anarchische“ bezeichnet wird.

Es ist in der Tat eine durchaus tendenziöse Behauptung, wenn der gegenwärtige Zustand der völkerrechtlichen Gemeinschaft fortwährend ein „anarchischer“ genannt wird. Die völkerrechtliche Gemeinschaft ist schon deshalb nicht anarchisch, weil sie durch die Völkerrechtsordnung, der alle ihre Mitglieder untergeben sind, zusammengehalten wird. Sie besitzt ferner zwar keine ständigen Organe, aber sie ist in der Lage, sich in Kongressen und Konferenzen jederzeit Organe zu schaffen, durch die sie gemeinsame Angelegenheiten regeln kann. Sie hat auch durch eine große Anzahl von Vereinbarungen die wichtigsten gemeinsamen Angelegenheiten geregelt und selbst eine Anzahl internationaler Behörden geschaffen.

Die völkerrechtliche Gemeinschaft besitzt daher bereits eine solche Organisation, wie sie einer Gemeinschaft entspricht, die sich aus souveränen Gemeinwesen zusammensetzt, während die Bestrebungen, eine Weltföderation in größerem oder geringerem Umfange zu schaffen, im Widerspruch mit den gegenwärtigen Grundlagen der völkerrechtlichen Gemeinschaft steht.

Das deutsche Volk hat sich seit dem Bestehen des Deutschen Reichs trotz seiner gewaltigen Kriegsrüstung durchaus friedfertig gezeigt, so daß kein Anlaß besteht, ihm dadurch die Hände zu binden, daß man es zwingt, einen auf der Anerkennung des Grundsatzes der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit beruhenden Weltschiedsvertrag abzuschließen. Wenn es bisher diesem Verlangen gegenüber sich ablehnend verhalten hat, so geschah dies nicht deshalb, weil es sich gegen jeden Fortschritt in der Entwicklung sträubt – daß dies nicht der Fall ist, hat es oft genug bewiesen –, sondern lediglich aus dem Grunde, weil es nicht Bestrebungen unterstützen will, die schließlich zu einer Untergrabung der Grundlagen des gegenwärtig geltenden Völkerrechts führen müssen, ohne daß mit Sicherheit erwartet werden kann, daß an die Stelle des bestehenden Rechtszustandes etwas Besseres tritt.

Daß diese Haltung des Deutschen Reiches nicht bloß in seinem eigenen Interesse liegt, sondern auch im Interesse der völkerrechtlichen Gemeinschaft, ergibt schon die Erwägung, daß dadurch auch andere Staaten in der Überzeugung bestärkt werden können, daß die Verfolgung utopistischer Ziele das Gegenteil von dem erreichen wird, was beabsichtigt ist, und die Gefahr nahelegt, daß tiefgehende Spaltungen in der völkerrechtlichen Gemeinschaft entstehen.

Es hat sich bei der nationalen Gesetzgebung stets gerächt, wenn dieselbe auf die gegebenen Verhältnisse, namentlich die bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Gegensätze, nicht die gebührende Rücksicht nahm, ebenso müßte der Versuch einer Entwicklung des Völkerrechts nur Nachteile und Verwirrung bewirken, wenn sie die gegenwärtigen Grundlagen der völkerrechtlichen Gemeinschaft verlassen und die vorhandenen internationalen Gegensätze außer acht lassen würde.


  1. Ullmann, Völkerrecht (1908) § 2. – Gareis, Institutionen des Völkerrechts (1888) § 1. – Liszt, Völkerrecht § 1. – Holtzendorff, Handbuch des Völkerrechts Bd. I, § 1. – Handbuch des Völkerrechts, herausgegeben von Stier-Somlo, I. Band, erste Abteilung. Grundbegriffe des Völkerrechts von Paul Heilborn I. Kap.
  2. Holtzendorff, a. a. O. I, S. 198 ff., 242 ff.
  3. Das bekannte Wert von Hugo Grotius „De jure belli ac pacis“ behandelt, ausgehend vom Kriegsrechte, auf naturrechtlicher Grundlage, jedoch mit Benützung reichen positiven Materials, das gesamte Völkerrecht, in welchem Rechte Grotius die Rechtsordnung zum Schutze der Interessengemeinschaft der Staaten im Gegensatz zur egoistischen Herrschsucht einzelner Staaten sucht.
  4. Japan hat jedoch in der neuesten Zeit (seit 1900) die Aufhebung der Konsulargerichtsbarkeit in seinem Gebiete und die grundsätzliche Gleichstellung mit den christlichen Staaten dadurch erreicht, daß es sein Privatrecht und sein öffentliches Recht möglichst den europäischen Gesetzen anpaßte. Vgl. Ullmann, a. a. O. S. 65, 199, 226.
  5. Vgl. darüber: meine Schrift „Weltstaat und Friedensproblem“, S. 4 ff.
  6. Ullmann, a. a. O. S. 8.
  7. Ullmann, a. a. O. S. 72ff. – S. Brie, Die Fortschritte des Völkerrechts seit dem Wiener Kongreß (1890). – Gareis, a. a. O. § 7.
  8. Vgl. v. Holtzendorff, Handbuch des Völkerrechts, II. Bd., §§ 60ff. – Ullmann, a. a. O. §§ 105 und 106.
  9. Ullmann, a. a. O. S. 77. – Die Pariser Seerechtsdeklaration kann als der erste erfolgreiche Kodifikationsversuch auf dem Gebiete des Kriegsrechts bezeichnet werden.
  10. Vgl. Ullmann, a.a.O. S. 31. – Holtzendorff, Handbuch des Völkerrechts, Bd. I, S. 37ff.
  11. Vgl. über diese sog. offenen Vereinbarungen – conventions ouvertesmeine Abhandlung: „Die Haager Friedenskonferenz und das Völkerrecht“. Arch. f. öffentl. Recht, Bd. XV, S. 183ff.
  12. Vgl. Ullmann, a. a. O. S. 370ff.
  13. Zweifellos wird auch eine internationale Regelung der Rechtsverhältnisse der Luftschiffahrt notwendig werden, da der Natur der Sache nach durch eine nationale Regelung derselben die auf diesem Gebiete vorhandenen Schwierigkeiten nicht beseitigt werden können.
  14. Über sonstige internationale Kommissionen und Behörden vgl. Liszt, Völkerrecht, §§ 16–18. – Toll, Die internat. Bureaus der völkerrechtl. Verwalt.-Vereine 1910.
  15. Vgl. Lorenz v. Stein, Einige Bemerkungen über das internationale Verwaltungsrecht. Schmollers Jahrbuch, VI, S. 395ff.
  16. Fleischmann, Völkerrechtsquellen, S. 195ff. – Aktenstücke, betr. die Kongofrage von L. Friedrichsen, dem Bundesrat und Reichstag vorgelegt im April 1885. – Jooris, L’acte général de Berlin 1885. – Descamps, L’Afrique nouvelle (1903), S. 1ff.
  17. Fleischmann, a. a. O. S. 226ff.
  18. Meurer, Die Haager Friedenskonferenz, 2 Bde. 1905 und 1907. – Scott, The Hague Peace Conferences 1899 and 1907, 2 Bde., 1909. – Stengel, Die Haager Friedenskonferenz und das Völkerrecht, Arch. f. öff. Recht, Bd. XV., S. 139ff. – Philipp Zorn, Das völkerrechtliche Werk der beiden Haager Friedenskonferenzen. Zeitschr. f. Politik, Bd. II, S. 331 ff. – Derselbe, Die zweite Haager Friedenskonferenz. Marinerundschau, 18. Jahrg., 11. Heft, S. 1251 ff. – A. H. Fried, Die zweite Friedenskonferenz 1907. – Nippold, Die zweite Haager Friedenskonferenz 1908. – Ullmann, Die Haager Konferenz von 1899 und die Weiterbildung des Völkerrechts. Jahrbuch des öff. Rechts, Bd. I, S. 82ff.
  19. Deutsches Weißbuch über die Ergebnisse der im Jahre 1907 im Haag abgehaltenen Zweiten Internationalen Friedenskonferenz.
  20. Vgl. Ullmann, a. a. O. S. 482ff.
  21. Vgl. hierüber sowie über den Inhalt des Abkommens über den Internationalen Prisenhof. Stengel, Die Bedeutung des Seebeuterechts in der Gegenwart. Flotte vom Jahre 1911, S. 134ff.
  22. Vgl. über die Gründe, welche das ablehnende Verhalten Deutschlands bestimmten, das Weißbuch S. 3ff.
  23. Zorn, Das Deutsche Reich und die internationale Schiedsgerichtsbarkeit. Internationale Wochenschrift 1910, Nr. 48 und 49. – Stengel, Das obligatorische Schiedsverfahren und der Weltschiedsvertrag. Zeitschrift f. Politik, Bd. I, S. 553ff.
  24. Ullmann, Die Fortbildung des Seekriegsrechts durch die Londoner Deklaration vom 26. Februar 1909. Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Bd. IV (1910). – Deutsches Weißbuch über die Ergebnisse der Londoner Seerechtskonferenz (Akten des Reichstags, 12. Legislaturperiode, Nr. 33). – Vgl. auch den Aufsatz: „Das Kauffahrteischiff und seine Ladung im Seekrieg“. Nauticus 1909, S. 232ff.
  25. Selbstverständlich sind die im vorstehenden aufgeführten Entwürfe von Vereinbarungen nur bindend für diejenigen Staaten, die sie ratifiziert haben. Diese Ratifikation ist keineswegs in bezug auf alle Abkommen von allen Staaten erfolgt, bei einzelnen Abkommen, wie dem über den Prisenhof, sogar sehr zweifelhaft. Trotzdem mußten alle diese Abkommen hier erwähnt werden, um zu zeigen, in welcher Richtung sich die Tätigkeit der beiden Friedenskonferenzen und der Seerechtskonferenz bewegt hat, zumal zu erwarten ist, daß doch die Ratifikation bei den meisten Abkommen erfolgen wird.
  26. Druckfehlerberichtigung im 3. Band: lies: „besonderen“ statt „beson- deren“
  27. War ja doch auch in dem geplanten Weltschiedsvertrage eine Bestimmung vorgesehen, daß die Vertragsmächte nicht verpflichtet sein sollen, ihre Streitigkeiten der Schiedssprechung zu unterstellen, wenn die Lebensinteressen oder die Unabhängigkeit oder die Ehre einer der streitenden Teile in Frage stehen.
  28. Vgl. darüber Zorn, Zeitschrift f. Politik, Bd. II, S. 362, und Pohl, Zur Ratifikation des Prisenhofabkommens, Marine-Rundschau, Mai 1912, S. 620ff.
  29. In England ist bisher die Ratifikation am Widerstande des Oberhauses gescheitert. Vgl. über die Haltung Englands die Schrift: „Baty, Britain an the sea law“, 1911. – Die übrigen Staaten warten offenbar ab, ob England, die am meisten bei dem Abkommen interessierte Macht, dasselbe ratifiziert. Nicht recht verständlich ist, daß die deutschen Delegierten, nachdem sie mit Recht gegen den Abschluß eines Weltschiedsvertrags Einspruch erhoben hatten, zu dem viel bedenklicheren Abkommen über den Prisenhof gemeinschaftlich mit den englischen Delegierten sogar die Anregung gaben.
  30. Sehr interessant ist, was Zorn, „Das völkerrechtliche Werk der beiden Friedenskonferenzen“ (Zeitschrift f. Politik, Bd. II, S. 328) ausführt. Er weist darauf hin, daß auf der zweiten Friedenskonferenz die Pazifisten vollständig hoffähig geworden waren und einen sehr selbstbewußten Bestandteil der Konferenz bildeten. Auch gibt Zorn den Einfluß der Pazifisten auf die Einberufung und die Verhandlungen der beiden Friedenskonferenzen zu, indem er sagt: „Die Pazifisten erklärten bei jedem Anlaß: alle Beratungen über Kriegsrecht seien nur leeres Stroh; nur Abrüstung und Schiedsgerichte seien der Konferenz würdige Beratungsgegenstände. Diesem starken inoffiziellen Drucke nachgebend, hatte Rußland auf der ersten Konferenz die Abrüstung als Beratungsgegenstand aufgenommen.“
  31. Daß in dieser Beziehung bei beiden Friedenskonferenzen manches zu wünschen übrig war, ist wohl allgemein anerkannt. Namentlich war es im höchsten Grade auffallend, daß auf der ersten Friedenskonferenz im Widerspruch mit dem aufgestellten Programme plötzlich die Frage der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit aufgeworfen wurde.
  32. Vgl. über die Idee eines Weltstaats: Bluntschli, Die Lehre vom modernen Staat, 6. Aufl., S. 26ff. – Bluntschli hat übrigens selber (später 1878) einen europäischen Staatenbund vorgeschlagen. Vgl. Schücking, Die Organisation der Welt, Festgabe für Laband, I. Bd., S. 896.
  33. Vgl. darüber namentlich die in der vorigen Note angeführte Schrift von Schücking, Die Organisation der Welt, S. 590ff.
  34. Bezeichnend ist, daß sich bei keinem Vertreter des Förderationsgedankens irgendein brauchbarer Vorschlag über die Organisation der Weltförderation findet.
  35. J. Novikow, Die Förderation Europas, 1901. – Fried, Handbuch der Friedensbewegung, S. 7ff. – Übrigens scheint jetzt auch dieser Plan mehr und mehr aufgegeben zu sein und die Pazifisten sich mit einer losen vertragsmäßigen Verbindung der Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft begnügen zu wollen. Vgl. Fried, Kurzgefaßte Geschichte der panamerikanischen Bewegung, 1912. – Damit wäre nicht viel mehr erreicht, als was in der völkerrechtlichen Gemeinschaft im wesentlichen schon besteht.
  36. Vgl. Spielmann, Arier und Mongolen, 1905.
  37. Es ist eine psychologisch merkwürdige Erscheinung, daß in einer Zeit, die, wie man sagt, auf dem Individualismus beruht und in der so viel davon gesprochen wird, daß die Einzelindividuen sich entwickeln und ausleben sollen, eine Bewegung Einfluß gewinnen konnte, die schließlich auf Vernichtung der Selbständigkeit und Eigenartigkeit der einzelnen Staaten und Nationen abzielt und alles in ein Völkergemisch verwandeln möchte, wie es schließlich im römischen Weltreich herrschte und sehr viel zu dessen Untergang beitrug, wie dies Chamberlain, „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“, nachgewiesen hat.
  38. In der bemerkenswerten Abhandlung: „Friedensbestrebungen und Rüstungsbeschränkung“ in der vom Deutschen Flottenverein herausgegebenen Schrift: „Deutschland sei wach!“ (1912) heißt es mit Recht S. 118: „Noch traut kein Staat dem andern und die internationale Lüge ist ein Charakteristikum der Gegenwart. Während überall hochtönende Friedensversicherungen erklingen, ist die Unsicherheit des Friedens größer denn je, wie die jüngste Vergangenheit zur Genüge bewiesen hat.“