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die schließlich zu einer bedenklichen Beeinträchtigung der Souveränität der Staaten führen müsse.

Andererseits ist freilich durch Ablehnung des Projekts des Weltschiedsvertrags auf der zweiten Friedenskonferenz der Streit über diese Frage keineswegs endgültig erledigt. Im Gegenteil dauert dieser Streit fort, da die Anhänger des Pazifismus in dem Abschlusse eines Weltschiedsvertrags auf Grundlage der obligatorischen Schiedssprechung eine Vorbereitung für die von ihnen erstrebte Weltförderation erblicken.

Vom Ausgange dieses Streites wird es zum großen Teile abhängen, ob mit den beiden Friedenskonferenzen eine neue Ära in der Entwicklung des Völkerrechts im Sinne des Pazifismus begonnen hat und in welchem Umfange die Ziele der sog. Friedensfreunde werden erreicht werden.

III. Würdigung der Entwicklung des Völkerrechts im letzten Jahrhundert. – Ausblick in die Zukunft

Ausdehnung der völkerrechtlichen Gemeinschaft.

Wenn man die Entwicklung des Völkerrechts seit einem Jahrhundert überblickt, so ergibt sich vor allem die bemerkenswerte Tatsache, daß in diesem Zeitraume die völkerrechtliche Gemeinschaft weit über ihren ursprünglichen Umfang hinaus ausgedehnt worden ist. Anfänglich umfaßte die völkerrechtliche Gemeinschaft bloß die westeuropäischen Staaten, später trat Rußland hinzu, am Ende des 18. und im Anfange des 19. Jahrhunderts wurden die Staaten stillschweigend in die völkerrechtliche Gemeinschaft aufgenommen, die, wie die Vereinigten Staaten von Nordamerika, Mexiko, Brasilien, Chile, Peru usw. aus ehemaligen, vom Mutterlande abgefallenen Kolonien europäischer Staaten in Amerika entstanden waren. Die Aufnahme dieser Staaten erfolgte stillschweigend, weil angenommen wurde, daß dieselben in der Hauptsache auf der gleichen Kulturgrundlage beruhen, wie die christlichen Staaten in Europa.

Dagegen erfolgte die Aufnahme der Türkei im Jahre 1856 ausdrücklich und in formeller Weise, da hier ein Staat in Frage war, dessen Zivilisation und Rechtseinrichtungen auf ganz anderer Grundlage beruhen, wie die der christlichen Staaten. Nachdem aber einmal die Türkei in die völkerrechtliche Gemeinschaft aufgenommen war, unterlag die stillschweigende oder ausdrückliche Aufnahme anderer nichtchristlicher Staaten in die völkerrechtliche Gemeinschaft keinem grundsätzlichen Bedenken, da durch die Aufnahme der Türkei anerkannt war, daß es für den Eintritt in die völkerrechtliche Gemeinschaft genüge, wenn der betreffende Staat die für den internationalen Verkehr der christlichen Staaten geltende Rechtsordnung auch für sich als verbindlich betrachte. Infolge der Zugehörigkeit zahlreicher nichtchristlicher Staaten in Asien und Afrika zur völkerrechtlichen Gemeinschaft, erstreckt sich, wenn man die Kolonien europäischer Staaten in Betracht

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 335. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/351&oldid=- (Version vom 31.7.2018)