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seiner Staatseinrichtungen zu seinem Vorteile noch nicht so weit vorgeschritten ist wie andere Staaten.

Jeder Staat, der auf seine Unabhängigkeit und die Freiheit in seinen Entschließungen Wert legt, sollte sich daher mit Entschiedenheit dagegen wehren, daß auf internationalen Konferenzen Beschlüsse gefaßt werden, durch die, ohne daß sie eine innere Berechtigung haben, lediglich gewissen, sich breitmachenden Strömungen nachgegeben wird. Ebenso sollte jeder Staat seine Beteiligung an derartigen Konferenzen wie den Friedenskonferenzen von der Aufstellung eines klaren und bestimmten Programms abhängig machen und darauf dringen, daß von diesem Programm im Laufe der Verhandlungen nicht abgewichen wird[1]. Bei der Beteiligung an Konferenzen muß ein Staat um so mehr mit Vorsicht verfahren, je größer die Zahl der Teilnehmer ist und je verschiedenartiger nach Größe, Zivilisation und maßgebenden Interessen die beteiligten Staaten sind.

Wenn an einer Konferenz, wie der zweiten Friedenskonferenz, Staaten aus allen Weltteilen, von verschiedenen Rassen, von verschiedener Kultur und verschiedener Größe teilnehmen, so können Unzuträglichkeiten nicht ausbleiben. Namentlich besteht die Gefahr, daß kleine Staaten in Abhängigkeit von Großmächten kommen, deren Gewicht vermehren und dadurch einen ihnen nicht zukommenden Einfluß erlangen. Ebenso kann aus anderen Gründen ein bedenklicher Zusammenschluß einer größeren Anzahl von Staaten erfolgen. So ist die Möglichkeit sehr naheliegend, daß, wenn die panamerikanische Bewegung an Stärke gewinnt, die sämtlichen amerikanischen Staaten unter Führung der Union als eine geschlossene Einheit den übrigen Mitgliedern der völkerrechtlichen Gemeinschaft gegenübertreten und versuchen werden, denselben ihren Willen aufzudrängen.

Unzweifelhaft hat, wie schon hervorgehoben, die Entwicklung im letzten Jahrhundert dahin geführt, daß die friedlichen Beziehungen der Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft zahlreicher, vielgestaltiger und inniger wurden und daß infolgedessen Anfänge einer gewissen Organisation der völkerrechtlichen Gemeinschaft in von einer größeren Anzahl von Staaten beschickten Kongressen und Konferenzen sich zeigten, und daß auf diesen Kongressen und Konferenzen, wie namentlich auf den beiden Friedenskonferenzen, die Regelung gemeinsamer Angelegenheiten der völkerrechtlichen Gemeinschaft teilweise in sehr umfassender Weise erfolgte.

Unter diesen Umständen wirft sich die Frage auf, welches das Ziel dieser Entwicklung sein wird und welche Maßregeln die Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft ergreifen sollen, um dieses Ziel so bald als möglich und so vollständig als möglich zu erreichen.

Weltstaat und Weltföderation.

Dabei kann vollständig von so phantastischen Ideen, wie der Idee eines alle Staaten und Völker der Erde umfassenden Weltstaates abgesehen werden, da dieser Gedanke, ganz abgesehen von sonstigen Erwägungen, schon deshalb undurchführbar wäre, weil ein


  1. Daß in dieser Beziehung bei beiden Friedenskonferenzen manches zu wünschen übrig war, ist wohl allgemein anerkannt. Namentlich war es im höchsten Grade auffallend, daß auf der ersten Friedenskonferenz im Widerspruch mit dem aufgestellten Programme plötzlich die Frage der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit aufgeworfen wurde.
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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 340. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/356&oldid=- (Version vom 4.8.2020)