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Inwieweit diese Ideen und Forderungen berechtigt waren bzw. sind, mag hier dahingestellt bleiben. Jedenfalls dürfte so viel zweifellos sein, daß die seit der französischen Revolution in allen Staaten in immer größerem Umfange eingetretene Demokratisierung des Verfassungsrechts große Nachteile gehabt hat. Namentlich hat vielfach die Autorität der Staatsgewalt Schaden gelitten und haben Bevölkerungsklassen im Staatsleben eine politische Macht erlangt, auf die sie nach ihrer sozialen Stellung und ihrer Bildungsstufe keinen begründeten Anspruch haben.

Wie seit der französischen Revolution eine immer größere Demokratisierung des gesamten öffentlichen Lebens in den meisten Staaten eingetreten ist, so macht sich vielfach im Anschlusse an die Ideen und Grundsätze der Revolution und der in derselben zutage getretenen kosmopolitischen Richtung namentlich seit einigen Jahrzehnten innerhalb der völkerrechtlichen Gemeinschaft eine „Flutwelle des Internationalismus“ geltend, der danach strebt, die Grundlagen des geltenden Völkerrechts vollständig zu verändern.

Das geltende Völkerrecht beruht auf dem Grundsatze der Souveränität und Unabhängigkeit der Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft, die als souveräne Gemeinwesen weder eine gesetzgebende noch eine richterliche Gewalt über sich anerkennen und anerkennen können. Allerdings bildet neben der Souveränität der Staaten eine weitere Grundlage der völkerrechtlichen Gemeinschaft und des in derselben geltenden Völkerrechts das Bewußtsein der Solidarität gewisser Interessen, da sich ohne dieses Bewußtsein weder die völkerrechtliche Gemeinschaft noch das Völkerrecht hätte bilden können; welche Interessen als gemeinsam zu betrachten sind, ergibt sich auch erst wieder aus der Anerkennung seitens der souveränen Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft.

Einfluß des Internationalismus und Pazifismus.

Demgegenüber strebt der Internationalismus, wie er namentlich durch die sog. Pazifisten vertreten ist, danach, die sämtlichen Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft in einer Weltförderation zu vereinigen, in der natürlich die einzelnen Staaten in ihrer Souveränität sehr erheblich durch die über ihnen stehende Zentralgewalt beschränkt wären. Da dieses Ziel nicht sofort zu erreichen ist, wird zunächst die Beseitigung des Krieges verlangt, weil gerade in dem Rechte der Kriegführung sich die Souveränität der Staaten am deutlichsten zeigt. Im Zusammenhange damit wird der Abschluß eines Weltschiedsvertrags erstrebt, des Inhalts, daß alle Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft sich verpflichten, ihre etwaigen Streitigkeiten nicht mehr auf dem Wege der Selbsthilfe zum Austrage zu bringen, sondern durch ein ständiges, ein für allemal bestelltes Schiedsgericht entscheiden zu lassen.

Diese internationale Strömung hat sich natürlich stark auf den beiden Friedenskonferenzen vom Jahre 1899 und 1907 geltend gemacht, auf denen über den Stillstand der Rüstungen bzw. Abrüstung als eine die Abschaffung des Krieges vorbereitende Maßregel und dann vor allem über die Erledigung internationaler Streitigkeiten durch schiedsgerichtliche Entscheidung und über Abschluß eines Weltschiedsvertrags lebhaft verhandelt wurde.

Über das Ergebnis dieser Verhandlungen ist bereits früher berichtet worden; hier mag nur hervorgehoben werden, in welcher mitunter bedenklichen Weise diese Verhandlungen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 338. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/354&oldid=- (Version vom 4.8.2020)