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Auch im Mittelalter waren die Verhältnisse der Ausbildung des Völkerrechts insofern nicht günstig, als die Anschauung in Geltung war, daß die sämtlichen christlichen Staaten ein einheitliches Weltreich unter Kaiser und Papst bildeten, da diese Idee an und für sich die Existenz von voneinander unabhängigen und gleichberechtigten Staaten ausschloß. In der Praxis konnte freilich die Idee eines einheitlichen Weltreichs nicht verwirklicht werden; im Gegenteil bildeten sich gerade im Mittelalter die Nationalstaaten (Frankreich, England, Spanien usw.) aus, die, die Unterordnung unter Kaiser und Papst bestreitend, ihre Unabhängigkeit gegenüber jeder höheren Gewalt geltend machten und daher die Anerkennung als souveräne Gemeinwesen beanspruchten, eine Entwicklung, welche die Voraussetzung der heute geltenden Völkerrechtsordnung schuf. Immerhin hatte die vorerwähnte Idee die Bedeutung, daß die christlichen Staaten sich als eine geschlossene Gemeinschaft gegenüber den nichtchristlichen Völkern betrachteten, denen zunächst die Anerkennung und Gleichberechtigung versagt wurde.

Nachdem die Reformation mit der Idee eines christlichen Weltreichs mit dem Papste als Spitze und Oberhaupt endgültig gebrochen hatte, trat mit dem westfälischen Frieden die Entwicklung und Ausbildung des modernen Völkerrechts ein, das durch Hugo Grotius auch seine theoretische Begründung fand[1].

Daß von dieser Zeit an eine neue Periode der Entwicklung des Völkerrechts zu rechnen ist, liegt namentlich auch darin, daß der westfälische Friedensvertrag ein gleichberechtigtes Nebeneinanderbestehen von Staaten verschiedener christlicher Konfessionen anerkannte und den Gedanken der internationalen Gemeinschaft insofern zum Ausdruck brachte, als alle bedeutenderen Mächte Europas an demselben beteiligt waren und gemeinsam wichtige, ganz Mitteleuropa berührende Fragen regelten.

Die völkerrechtliche Gemeinschaft.

Die völkerrechtliche Gemeinschaft, die so im Anschlusse an die Entwicklung im Mittelalter und auf der Grundlage des westfälischen Friedens entstanden war, umfaßte zunächst nur die auf europäisch-christlicher Kultur beruhenden Staaten, nämlich die christlichen Staaten in Europa und die aus ehemaligen Kolonien europäischer Staaten entstandenen staatlichen Gemeinwesen. Diese Staaten bilden auch gegenwärtig noch den Kern der völkerrechtlichen Gemeinschaft.

An diese, den Kern der völkerrechtlichen Gemeinschaft bildende Staatengruppe haben sich im Laufe des vorigen Jahrhunderts verschiedene nichtchristliche Staaten angeschlossen, die gegenwärtig ebenfalls als Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft betrachtet werden.

Zuerst wurde im Jahre 1856 durch den Pariser Frieden die Türkei mit ihren Vasallenstaaten „in das europäische Konzert aufgenommen“, später folgten andere nichtchristliche Staaten, wie Persien, China, Japan, Siam usw.


  1. Das bekannte Wert von Hugo Grotius „De jure belli ac pacis“ behandelt, ausgehend vom Kriegsrechte, auf naturrechtlicher Grundlage, jedoch mit Benützung reichen positiven Materials, das gesamte Völkerrecht, in welchem Rechte Grotius die Rechtsordnung zum Schutze der Interessengemeinschaft der Staaten im Gegensatz zur egoistischen Herrschsucht einzelner Staaten sucht.
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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 319. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/335&oldid=- (Version vom 31.7.2018)