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einer höheren Gewalt nicht unterstehen, sie haben keinen Gesetzgeber und keinen Richter über sich. Allerdings sind die zur völkerrechtlichen Gemeinschaft gehörenden Staaten an die Vorschriften des Völkerrechts gebunden; diese Vorschriften beruhen aber nicht auf Gesetzen, die von einer über den Staaten stehenden höheren Gewalt gegeben sind, sondern auf dem Herkommen, das sich in der völkerrechtlichen Gemeinschaft, der Rechtsüberzeugung der Mitglieder dieser Gemeinschaft entsprechend, gebildet hat, oder auf den von den Staaten selbst getroffenen Vereinbarungen, denen sie sich freiwillig unterwarfen.

Wie über den Staaten keine gesetzgebende Gewalt steht, so sind sie auch keiner Gerichtsbarkeit unterworfen, die im Namen und Auftrage einer höheren Gewalt befugt wäre, Streitigkeiten unter den Mitgliedern der völkerrechtlichen Gemeinschaft zu entscheiden. Derartige Streitigkeiten können von den Beteiligten gütlich beigelegt werden. Eine Art der gütlichen Beilegung besteht darin, daß sich die streitenden Staaten darüber einigen, ihren Streit durch ein von ihnen bestelltes Schiedsgericht, das seine Gerichtsbarkeit lediglich aus dem Willen der Streitsteile herleitet, entscheiden zu lassen und dann dessen Entscheidung freiwillig vollziehen.

Gelingt die gütliche Beilegung des Streites nicht, so bleibt den Streitsteilen nur der Weg der Selbsthilfe offen. Sie können versuchen, den Gegner durch Retorsionen oder Repressalien zur Anerkennung ihrer Ansprüche zu veranlassen. Äußersten Falles haben die Streitsteile nur die Möglichkeit, ihre Rechte oder Interessen durch Waffengewalt, also durch Krieg zur Geltung zu bringen, der sich als der bewaffnete Kampf zwischen zwei oder mehreren Staaten darstellt und ebenso unter Rechtsregeln steht, wie der friedliche Verkehr unter den Staaten.

Die Grundlage des Völkerrechts bildet auch gegenwärtig noch die Souveränität der Staaten und die sich daraus ergebende Unabhängigkeit und grundsätzliche Gleichberechtigung der Mitglieder der völkerrechtlichen Gemeinschaft. Als zweites die Entwicklung des Völkerrechts beeinflussendes Element kommt aber das Bewußtsein der Gemeinsamkeit vieler Interessen unter den Mitgliedern der völkerrechtlichen Gemeinschaft in Betracht [1].

Dieses Gefühl hat im verflossenen Jahrhundert bewirkt, daß eine große Anzahl die gemeinsamen Interessen regelnder Vereinbarungen unter den Mitgliedern der völkerrechtlichen Gemeinschaft abgeschlossen worden ist, die das Völkerrecht nach verschiedenen Richtungen ausgebaut haben.

Alle diese Vereinbarungen haben aber den Grundsatz der Souveränität der Staaten nicht beseitigt, sie setzen ihn vielmehr voraus. Eine Antastung dieses Grundsatzes wäre nur dann gegeben, wenn es gelingen würde, alle zur völkerrechtlichen Gemeinschaft gehörigen Staaten in eine, ihre Mitglieder in der Souveränität beschränkenden, wenn nicht dieselbe ganz aufhebenden Weltföderation zu vereinigen.


  1. Ullmann, a. a. O. S. 8.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 321. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/337&oldid=- (Version vom 31.7.2018)