RE:Gandaritis
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft | |||
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Landschaft am Kabul | |||
Band VII,1 (1910) S. 696–701 | |||
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Gandaritis, Landschaft am Kabul, Strab. XV 697. Hekat. bei Steph. Byz. nannte den Volksstamm Gandarai, Gandarioi und sprach von der Γανδαριχὴ χώρα. Nach Herodot. III 91 und VI 66 bildeten im altpersischen Reich die Gandarioi zusammen mit den Stämmen der Sattagydai, Aparytai und Dadikai die 7. Satrapie, die im wesentlichen das vom Kophen durchflossene Alpengebiet Kabulistans zwischen Paropanisos (Hindukuš) und dem oberen Indus und das genannte Gebirge selbst umfaßte. Die erwähnten Stämme außer den G. und zahlreiche andere Stämme werden in der griechischen Literatur seit Alexander d. Gr. als Parapanisadai zusammengefaßt. Nur Strabon XV 724 dehnt diesen Namen auch über die G. aus – vielleicht nach Eratosthenes, dem er die Beschreibung Arianas entlehnt –, wenn er die Parapanisadai ,längs des Indus‘ wohnen läßt; sonst wird stets unterschieden. In den drei Völkerlisten des persischen Reichs, die Darius I. in seinen Keilinschriften mitteilt, erscheinen immer getrennt neben einander Gandāra und Thataguš. Das sind also die beiden Regierungsbezirke, in welche die Satrapie zerfiel; Thataguš = Sattagydien entspricht durchaus dem griechischen Parapanisadai und ist nicht bloß das Gebiet des gleichnamigen Stammes. Ebenso ist Gandara in der persischen Verwaltung nicht auf das kleine Gebiet der G. beschränkt, sondern umfaßt vielmehr ganz Ostkabulistan (noch bei Strabon XV 697, wohl nach Aristobulos, gehört zur G. das von Kophen und Choaspes durchflossene Gebiet). Das Land, soweit es der Kabul durchströmt, bildet ein geographisches Ganzes und muß als solches betrachtet werden, zumal es in der Völker- und Kulturgeschichte eine hervorragende Rolle gespielt hat.
Es ist ein dem 7700 m erreichenden Hauptkamm des Hindukuš nach Südosten vorgelagertes, stark gefaltetes, wildes Alpenland, das sich allmählich zum Indus absenkt; nur ungefähr dem Hauptkamm parallel in fächerartiger Anordnung nordöstlich bis nordnordöstlich gerichtet, folgen bis zum Indus mehrere Gebirgsketten von sehr bedeutender Höhe (im Norden zwischen 5000 und 6000 m hoch) aufeinander. Sie werden im Süden durch das enge Kophental von dem quer gerichteten, westöstlich streichenden ,weißen Gebirge‘ [697] abgeschnitten. Das ganze Bergland erhält dadurch die Form eines Dreiecks (◿), mit der Spitze westlich der Stadt Kabul und der Basislinie am Indus. Der in 4700 m gipfelnde Hauptkamm des Sefīd Kūh ist mit den zahlreichen Ketten des Suleimāngebirges, westlich vom Indus und diesem parallel, fest verbunden und bildet mit jenem eine sehr schwer übersteigliche Riesenmauer, die Ariana gegen das Indusgebiet völlig abschließt. Da den Suleimānketten im Norden des Kophen die Gebirgsfalten des Hindukušsystems entsprechen, so stellt das Tal des Flusses in Fortsetzung des leicht erreichbaren, nach Südwesten gerichteten Erymanthos (Hīlmend) den beinahe einzigen natürlichen Zugang von Iran nach Indien dar, dem darum eine ungewöhnliche Wichtigkeit zukommt: das hier betrachtete Gebirgsland ist ein Durchgangsgebiet ersten Rangs. Da die Endglieder der Hindukušfalten durch den Kophen gewaltsam von dem Sefīd Kūh abgesprengt sind, ist die Sohle des Flußtales zumeist schmal, an vielen Stellen sogar schluchtartig eng und völlig unpassierbar. Nur an den Einmündungsstellen der Längstäler zwischen den Gebirgsfalten entstehen Talerweiterungen und Gebirgskessel, die aber nur durch schwierige Pässe abseits vom Fluß miteinander kommunizieren. Es sind in der Hauptsache vier: an den beiden Quellflüssen des Kophen die Kessel der Städte Kabul und Alexandreia (dieser = Capisene); die Talsenkung von Djelālābād (im Altertum Nagara = Dionysopolis) an der Einmündung des Choaspes und durch eine lange Schlucht hiervon getrennt das sehr viel größere, ovale Becken von Pešawar (Peukelaotis), die eigentliche G., das Zentrum und wichtigste Kulturgebiet dieses Berglandes. Nur dieses öffnet sich an einer Seite, dem Indus, ganz und ungehindert; die Verbindung mit Nagara stellt der berühmte Khaiberpaß her, den die Hauptmasse des Heeres Alexanders d. Gr. passierte.
Die aus den Längstälern des Hindukušsystems dem Kophen zuströmenden Flüsse haben sehr ansehnliche Lauflängen; von ihnen ist der Choaspes dem Kophen mindestens ebenbürtig. Westlich von ihm mündet der Fluß der Lambagai ein, weiter im Osten die sich vorher vereinigenden Längstäler des Guraios und Suastos. Bei einem Gefälle von mehreren 1000 m sind die Täler meist schluchtartig eng; die Alexanderhistoriker heben mehrfach hervor, wie dadurch eine westöstliche Kommunikation geradezu unmöglich gemacht wird; aber auch in der Nordsüdrichtung ist der Verkehr außerordentlich schwierig. Trotzdem führte hier der Hauptweg aus Tibet und dem östlichen China, namentlich von Kašghār her, entlang nach Indien hinüber. Vom 2. Jhdt. v. Chr. ab sind chinesische Abgesandte oft genug über den berühmten hängenden Paß der Pamir herabgestiegen. Nur in den Längstälern, vor allem aber in den Kophenbecken ist eine intensivere Bodenkultur möglich; sonst bietet das Gebirge prächtige Almen und Viehweiden. Im ganzen vereinigen sich hier auf engem Raum die mannigfaltigsten Natur- und Kulturgegensätze. Die Mannigfaltigkeit und Fruchtbarkeit, die landschaftliche Schönheit rühmen die arabischen Geographen mit hohen Worten, und auch aus dem Altertum fehlt es nicht an [698] derartigen Stimmen: die Gelehrten Alexanders beschrieben das Gebirge nördlich des Kophen als οἰκήσιμον μάλιστα καὶ εὔκαρπον und stellten dazu in Gegensatz die kahlen, öden Hochflächen Arachosiens mit ihrer Wasserarmut oder das ,brennend heiße‘ Hohlbecken der G., das schon die tropische Glut der großen hindostanischen Ebene aufweise und stetigen Überschwemmungen ausgesetzt sei (Strab. XV 697). Plinius (VI 79) rühmt die Reben, den Lorbeer und Buchsbaum, den Reichtum an Obstbäumen, die der Berglandschaft einen so vielfach an Griechenland und Europa erinnernden Charakter verleihen. Im ganzen hatten die Griechen wohl erkannt, daß Kabulistan ein ausgeprägtes Übergangsgebiet in Vegetation und Fauna von den Naturbedingungen der gemäßigten nördlichen Zone zu dem tropischen Charakter Indiens war.
Aber auch ethnographisch ist es ein Übergangsgebiet und zwar nach der Pamir das allerwichtigste Asiens, eine verbindende Brücke zwischen Hoch- und Vorderasien, zwischen Indien einerseits und Iran, Turkestan und Tibet China anderseits. Alle Wege konvergieren hierhin, und so schwierig auch die Pässe längs des Kophen sind, sie bilden die Hauptpforten zwischen West und Ost und Nord und Ost. Handel und Kultur sind hier immer durchgegangen, zuweilen wohlorganisierte Heere hier marschiert; zu Zeiten haben sich ganze Völker hindurchgedrängt, so zuerst wohl die arischen Inder, dann arische Skythen, dann Turkvölker und endlich die Mongolen. Lange Zeit war die G. im weiteren Umfang der älteste Sitz arisch-indischer Kultur, die ältesten vedischen Lieder sind hier entstanden, hier stählte sich die Kraft der nordischen Arier für die Unterwerfung ganz Indiens; noch die Epen feiern das Land hoch. Woher diese Arier kamen, zeigt das Fortleben des Namens der G. in Baktrien (Candari). Aber auch nach diesem Heldenzeitalter des ältesten Veda blieb G. lange Jahrhunderte ein Übergangsgebiet zwischen den beiden großen indogermanischen Sprachen, die einst Dialekte einer Sprache waren, dem Iranischen und Indischen. Die Ostiranier drängten gegen Indien vor, aber die arischen Inder verteidigten die Brücke. Nur auf den Almen des Hochgebirges selbst weideten neben den indischen auch ostiranische Clane ihre Herden. Über die indisch-arische Zugehörigkeit der Gandāra lassen die indischen Epen, vor allem das Mahabharata, keinen Zweifel, wenn sie ihnen auch allerlei Abweichungen vom reinen brahmanischen Glauben vorwerfen. Jene wird aber vor allem durch die Einstimmigkeit der griechischen Zeugnisse bestätigt, von dem ältesten Hekataios bis auf Ptolemaios; auch die Tabula Peutingeriana verzeichnet Gandari Indi. Nur darf man nicht glauben, daß der altarische Stamm der G. selbst noch am Kabul gesessen hätte; dieser war längst ins Panğāb und von dort weiter ins Gangesdelta gewandert (s. Gandaridai). Aber der Name war der Berglandschaft geblieben, auch als sie von anderen indischen Stämmen bewohnt wurde. So konnte es aber auch geschehen, daß die gleichzeitigen Alexanderhistoriker nur die einzelnen Stämme und nie den Landschaftsnamen G. nennen. Er ist dagegen noch gebräuchlich bei allen chinesischen Pilgern, welche vom 5.–7. Jhdt. die heiligen [699] Stätten des Buddhismus in Indien besuchen, und lautet in chinesischer Transkription Kan-to-lo. Dann kennen die arabischen Geographen G. als Qandahār, obwohl sich nicht an allen Stellen mit völliger Sicherheit entscheiden läßt, ob dieses oder die afghanische Stadt gemeint sei (vgl. Marquart Erānšahr 270ff.).
Die Zerrissenheit des Alpengebiets hindert eine Einigung von innen heraus, eine solche mußte immer von außen durch Eroberung kommen, gegen die sich indessen die kriegerischen, freiheitsliebenden Bergstämme verzweifelt wehrten (vgl. namentlich Arrian. anab. V 21, 7); Alexander mußte das erfahren. Das Land wurde zuerst von Kyros unterworfen und dem persischen Reich angegliedert (Plin. VI 92. Arrian. Ind. I 1ff.) als Provinz Gandāra. Als Darius I. 519/18 das Reich neu einteilte, vereinigte er G. mit Arachosien (Paktyike bei Herodot) und den kurz vorher eroberten indischen Distrikten der Kaspier gegenüber der Kophenmündung und der Stadt Kaspapyros zu einer Satrapie (wie sich aus Hekat. frg. 178, verglichen mit Herodot. III 102 und IV 44 ergibt). Wenige Jahre später änderte er nochmals und vereinigte G. mit den Parapanisadai. Alexander machte aus diesen beiden Gebieten selbständige Regierungsbezirke; die amtliche Bezeichnung für G. war τὰ ἐπὶ τάδε τοῦ Ἰνδοῦ (Arrian. anab. IV 28, 6. III 28, 4 und IV 22, 5). Die Grenze zwischen beiden verlief westlich von dem Talkessel von Nagara, die beiden Hohlbecken der Städte Kabura und Alexandreia (dieses = Kapisene) gehörten schon zu Parapanisadai (vgl. Strab. XV 697. Arrian. a. a. O. Diod. Sic. XVII 82. Ptolem. VI 18. VII 1, 42). Seleukos trat kurz vor 302 G. an Candragupta von Indien ab (vgl. v. Gutschmid Iran 24), es heißt darum bei Polyb. XI 34, II geradezu Ἰνδική und gehört noch 206 den indischen Großkönigen. Dann wurde es von Demetrios, dem Sohn des griechisch-baktrischen Königs Euthydemos erobert. Als Demetrios durch Eukratides aus Baktrien verdrängt wurde, gründete er in G. ein selbständiges Reich, das auch das Panğāb umfaßte; das Hohlbecken von Kabul gehörte nicht dazu, sondern zu einem Arachosien und Drangiana umfassenden griechischen Königreich. Dann eroberte Eukratides kurz vor seiner Ermordung, etwa 159, auch G. und vereinigte es wieder mit Baktrien. Nach seinem Tode, etwa 155, bildete G. von neuem ein eigenes kleines griechisches Königreich, wie die Münzen erweisen (vgl. v. Gutschmid Iran 48). Schon vorher hatte sich der Schwerpunkt der griechischen Herrschaft im äußersten Nordosten immer mehr nach den Ländern südlich des Hindukuš verschoben; als dann die westtibetanischen Tocharen, Asier (chinesisch Jüeh-či) u. a. Sugdiana und Baktrien überfluteten, wurde G., das besonders reich an griechischen Städten war, das eigentliche Zentrum der griechischen Macht und Kultur. Von hier aus entstand ein ansehnliches griechisch-indisches Reich, das auch das Panğāb und das ganze Industal bis zum Ozean umfaßte und sich über ein Jahrhundert erhielt. Der mächtigste König war um 100 v. Chr. Menander.
Das nördliche Bergland bis zum Hauptkamm des Hindukuš gehörte freilich nicht mehr zum Reich. In diesen noch eben von indischen Stämmen [700] bewohnten Tälern vollzog sich nach der Mitte des 2. Jhdts. eine einschneidende ethnographische Umwälzung, wie namentlich aus chinesischen, im übrigen durch Münzfunde bestätigten Berichten bekannt geworden ist. Der Vorstoß der Jüeh-či (Asioi) setzte im Norden des Iaxartes die iranischen Saken (chinesisch Ssĕ, nach der älteren Aussprache Sak!) in Bewegung; ihre Hauptmasse zog über den ,hängenden‘ Paß nach Kašmir (wo 400 Jahre früher bis über die Pamir hin bereits iranische Skythen gesessen hatten, die Darius I. Sakā Homavargā, Herodot Amyrgioi nennt), eroberten von hier aus die Berglandschaft nördlich des Kephen (darnach Ki-pin bei den Chinesen genannt) und drangen sogar bis Arachosien, Drangiana (Sakastāna) und über den Bolanpaß ins Indusdelta vor (vgl. teilweise v. Gutschmid Iran 106ff. und Marquart Ērānšahr 156f.), Damals erhielt die nördliche G. eine iranische Bevölkerung an Stelle der indischen. Die Sakenherrschaft bestand neben der griechischen südlich des Kophen bis auf den letzten Griechenkönig, Hermaios, der nach chinesischen Berichten mit Hilfe der Chinesen Ki-pin = G. noch einmal gewann; da die indischen Gebiete verloren gegangen waren, wurde die G. im weiteren Umfange noch einmal das letzte Bollwerk der Hellenen im äußersten Osten – aber nur für kurze Zeit. Von Baktrien her erfolgte der erste Einfall der tibetischen Tocharen (Ta-Jüeh-či), nach dem das griechische Königreich für ein halbes Jahrhundert in mehrere Kleinstaaten auseinanderfiel, die der anonyme Periplus des Erythraeischen Meeres § 47 aufführt: es sind im Panğāb Aratrioi und Gandaritai; das untere Kophenbecken von Proklaïs (= Peukelaotis) bildet ein kleines Reich, das sich bis Taxila und Bukephalos im Panğāb erstreckt und offenbar dem aus indischen Berichten und aus Münzen bekannten Staate entspricht, den ein namenloser indischer König beherrschte (über diesen s. v. Gutschmid Iran 136f.).
Um 50 n. Chr. dringen die Tocharen zum zweitenmal vor und besetzen nunmehr und endgültig G., außerdem Kašmir, Panğāb und Westhindostan = Reich der Kaspeiraioi bei Ptolemaios (in Persien usw. Kušanreich genannt); aber das Zentrum dieses neuen Staates war wiederum die G. Die herrschende Bevölkerungsschicht wird jetzt an Stelle der arisch-indischen und iranisch-sakischen eine westtibetische.
Der anfänglich sehr starken hellenistischen Kultur wirkte seit dem 2. Jhdt. v. Chr. die indische energisch entgegen; schon damals wurde im obersten Kophental der Buddhismus eingeführt und begann die indische Sprache neben der griechischen durchzudringen (vgl. v. Gutschmid Iran 49. 105). Der berühmte König Menander wird von den indischen Schriften als eifriger Buddhist gefeiert. Immerhin war die hellenistische Kultur noch stark genug, die eingewanderten Saken weitgehend zu beeinflussen. So bildete sich in der G. aus griechisch-indischen, west- und nordostiranischen Elementen eine seltsame Mischkultur aus, die den Höhepunkt barbarischer Buntheit in der Periode der Tocharenherrschaft erreichte, als sich noch westtibetische Einflüsse dominierend hinzugesellten; sie spiegelt sich am [701] deutlichsten in dem tocharischen Pantheon wieder (über dieses vgl. v. Gutschmid Iran 164ff.), das den Königen erlaubte, sich offiziell zum Buddhismus zu bekennen.
Das Tocharenreich besteht mehrere Jahrhunderte und macht während dieser Zeit denselben Prozeß durch wie vorher das hellenistische: der Schwerpunkt verschiebt sich aus Baktrien immer mehr südlich des Hindukuš. Hier erliegt es schließlich im 5. Jhdt. einem wiederum aus Baktrien eindringenden, verwandten Volk, den ,kleinen‘ Jüeh-či (Οὖννοι Κιδαρῖται), die dem Drucke der in der Tatarei angesiedelten ,echten‘ Awaren (Žuan-žuan) wichen. Jenen folgten noch im selben Jahrhundert die hephtalitischen Hunnen, deren Reich sich vom Iaxartes bis G. (Ki-pin) und Kašmir erstreckte, und endlich im 10. Jhdt. die Westtürken (vgl. Marquart Ērānšahr 211ff.).