Meine Kinderjahre (Fontane)/Was wir in Haus und Stadt erlebten

Große Gesellschaft Meine Kinderjahre
von Theodor Fontane
Was wir in der Welt erlebten
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[164]
Elftes Kapitel.
Was wir in Haus und Stadt erlebten.


Wie wir in unserem Hause lebten, das zu zeigen, war Aufgabe der beiden vorigen Kapitel; in diesem wird es sich um Dinge handeln, die, wenigstens zunächst, nicht durch unser Zuthun geschahen, sondern von außen her an uns herantretend, das von uns geführte häusliche Leben nur begleiteten, beziehungsweise modelten. „Was wir in Haus und Stadt erlebten“, habe ich drum als Ueberschrift genommen.

Es war des Guten und Nicht-Guten gerade genug.

Im Allgemeinen gilt das zwischen dem Sturze Napoleons und dem Tode Friedrich Wilhelms III. liegende Vierteljahrhundert als eine ereignißarme Stagnationsepoche, was, aufs Ganze hin angesehen, auch mehr oder weniger zutreffen mag, gerade das halbe Jahrzehnt aber (1827 bis 32) das ich in Swinemünde verbrachte, brachte, die Stagnation [165] unterbrechend, des Interessanten eine ganze Fülle: die Befreiung Griechenlands, den russisch-türkischen Krieg, die Eroberung von Algier, die Juli-Revolution, die Losreißung Belgiens von Holland und die große polnische Insurrektion. Ich werde denn auch weiterhin in einiger Ausführlichkeit zu berichten haben, wie diese fernen Ereignisse die Bewohnerschaft unseres Hauses berührten, vor allem aber mein eigenes junges Herz, das für solche Dinge von früh auf erglühte. Zunächst indessen laß ich die Staatsaktionen aus dem Spiel und erzähle von dem, was sich als Stadtereigniß unter unseren Augen zutrug. Allerdings trifft es sich dabei so, daß ich, um der Chronologie willen, meine beste Karte gleich zuerst ausspielen muß. Es war dies die Geschichte von „Mohr und seiner Frau.“

Wer war Mohr?

Kutscher Ehm hatte gleich am Tage nach unserer Ankunft, als wir den ersten Umgang durch unser Haus machten, die Frage gestreift, war aber nicht weit damit gekommen und erst etliche Wochen später, als ich von ungefähr wieder den Namen „Mohr“ hörte, frug ich Ehm, was es damit sei. Dieser, der nur zu gerne davon sprach, nahm mich auch gleich mit in seine Kammer hinein und während er sich da an die Häcksel-Lade stellte und zu schneiden begann, [166] saß ich auf einem Schemel neben ihm und hörte seiner Geschichte zu. „Ja,“ so schloß er, (natürlich alles in Plattdeutsch) nach einer Weile, „so war das mit Mohr und seiner Frau. Die sind nu Beid’ in Prison und die Frau is krank und verfallen und macht es woll nich lange mehr, er aber, er is oben auf und der alte Pietzker drüben meint auch, ‚an’s Leben gingen sie ihm nich.‘ Und das is auch richtig und is noch von Anno 6 her. Da war er Soldat in Regiment Möllendorf und Napoleon, als es bei Jena nich recht weiter wollte, soll da ganz wüthend gesagt haben: ‚wer is denn blos der Kerl da? So was hab’ ich ja in meinem ganzen Leben noch nicht gesehn.‘ Und unser König, als er wieder ein bischen in Ruhe war, hat auch an Mohr’n schreiben lassen, er könne sich eine Gnade ausbitten. Und die Gnade, die hängt noch, die is noch nich ’runter, und deshalb sagt Mohr immer: „sie können nich, auch wenn sie wollen; ich habe des Königs Gnade.“

Das klang so weit ganz gut, aber was diesen Schlußworten Ehms vorausging, also die eigentliche Geschichte, die klang schlimm und es lief mir dabei kalt über den Rücken. Mohr war ein Mann von Mitte 40, ein guter Lichterschiffer, der zwischen Stettin und Swinemünde fuhr und immer allerhand Kaufmannswaaren [167] mitbrachte, womit er dann Handel trieb. Er spielte sich auf den alten Soldaten aus, hielt auf Ordnung und Anstand und war groß und stark und wohlgelitten. Und auch gegen seine Frau lag nichts vor. Aber mit einem Male war er doch unter Bilanz oder vielleicht war es auch blos, daß er seine Habgier nicht bezwingen konnte, kurz und gut, als er in Erfahrung gebracht hatte, die Wittwe Lassahn, die mit einer jungen blonden Person am Rathhausplatze wohnte, habe 100 Thlr. in ihrem alten Uhrschrank versteckt, war es beschlossene Sache; die alte Frau mußte sterben und die junge Person mit. Mohr’s Frau war mit einverstanden, ja einige sagten, sie sei schuld. Das war wohl so um Fastnachten Anno 26. Mohr kam von Stettin zurück und legte am Bollwerk an, grad gegenüber von dem Olthoff’schen Gasthof. Es war schon dunkel. Und so ging er denn zu der Wittwe Lassahn und sagte dieser, sie solle nach dem Lichterschiff schicken, da sei seine Frau und warte und werde dem Mädchen den Sack Kaffee geben, den er für sie mitgebracht habe. Das Mädchen ging denn auch. Und nun war er allein mit der Alten. Mit der war er rasch fertig. Aber bald danach kam die junge blonde Person vom Bollwerk zurück. Was nun geschah, das weiß man blos aus Mohr’s eigener Beichte, [168] wenn er mitunter, von furchtbarer Angst gepackt, nach dem Geistlichen rief oder nach Justizrath Kirstein, dem er Alles sagen wolle. So stark er war, er hätte sie nicht bezwungen, wenn ihm seine Frau nicht zur Hilfe gekommen wäre: das war so der Hauptinhalt der Geschichte. Ich kenne auch die Einzelheiten, aber ich erzähle sie nicht. Nur soviel hier, sie geben ein furchtbar anschauliches Bild von der Macht und Kraft der Verzweiflung. Alle sollten sich das in allen Lebenslagen gesagt sein lassen, auch im Leben der Völker. An Verborgenbleiben oder an Ablenken auf Andere war nicht zu denken und eh’ ein Tag um war, waren Mohr und Frau in Fesseln. Darüber waren nun beinah anderthalb Jahre vergangen und noch immer schwebte die Sache. Sonderbarerweise kann ich mich nicht entsinnen, damals unter einem besonderen Angstgefühle gestanden zu haben, auch nicht einmal, als ich eines Tages, schon bei Dunkelwerden, an dem mit Eisentraillen versehenen Rathhausgefängniß vorüberging und die Straßenjungen mir zuriefen: „Kuck, da sitzt Mohr.“ Aus dieser meiner vergleichsweisen Ruhe wurde ich erst aufgestört, als es an einem Sonnabend, ich glaube es war im Frühjahr 28, hieß: „heute sind sie gekommen.“ Die, die gekommen sein sollten, waren der Scharfrichter und seine Knechte. Es [169] hatte auch seine Richtigkeit damit, wovon ich mich bald selbst überzeugen sollte. Jeden Nachmittag machten wir, mein Bruder und ich, einen Spaziergang an dem schon in den Dünen gelegenen Kirchhof vorüber, auf den Strand zu. So auch an jenem Sonnabend. Der Kirchhof lag bereits hinter uns und das Meer, wenn der Weg etwas anstieg, blitzte schon hier und da vor uns auf, als wir plötzlich einer Anzahl von Leuten ansichtig wurden, die, links ab vom Wege, in einer von Strandhafer überwachsenen Dünenschlucht ein sonderbares Gerüst aufschlugen, nicht viel größer als ein großer Tisch. Sie klopften gerade große Nägel, mit Eisenringen daran, in die Bretter des Podiums, darauf außerdem noch Holzklötze standen, ein halbes Dutzend oder ein paar mehr. Die Leute aber, die dabei beschäftigt waren, waren nicht Zimmerleute, sondern die, von denen es hieß „daß sie gekommen seien.“ Sie ließen sich nicht stören und wir unsererseits, nachdem wir das unheimliche Bild uns eingeprägt, gingen rasch weiter auf den Strand zu, wo der Blick auf’s Meer uns wieder frei machte.

Gegen Dunkelstunde waren wir, auf einem Umwege, wieder in unserer Wohnung zurück; aber da wurde nicht viel von dem, was bevorstand, gesprochen, und erst am Abend erfuhren wir, daß [170] mein Papa mit dabei sein werde und das Kommando habe. Richtig, es war so. Als großer stattlicher Mann und 1813er war er ausersehen, an der Spitze der bewaffneten Bürgerschaft zu marschiren und draußen, vor Beginn der Exekution, das Schaffot mit seinen Leuten kreisförmig zu umstellen.

Als der Montag da war, ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, sah ich denn auch meinen Vater in Pontifikalibus. Er hatte einen Hut mit einer Feder auf und trug einen kolossalen Schleppsäbel, dessen blanke Messingscheide mir noch in diesem Augenblicke vor Augen steht. Die Freiwilligenbüchse, die keine Büchse war, hatte ihren verstaubten Platz zwischen den Flurschränken nicht verlassen, denn, als Offizier, war es sein Recht und seine Pflicht, nur den Säbel zu führen. Wir Kinder schlichen uns bis in die Nähe des Rathhausplatzes, von wo aus der Zug sich alsbald in Bewegung setzte, erst eine Abtheilung Schützengilde, dann die Schleife mit den beiden Verurtheilten, rechts und links von ein paar der besten Schützen begleitet; abschließend dann die gesammte bewaffnete Bürgerschaft. Die Stadt war wie ausgestorben, Alles draußen oder im Gefolge. Wie die Letzten außer Sicht waren, zogen wir uns in unser Haus zurück. Einige befreundete Damen begleiteten meine Mutter, die merkwürdig ruhig [171] war; sie fand Alles, was vorging, nur in der Ordnung, Aug um Auge, Zahn um Zahn, und ließ den Damen, die mit bei uns eingetreten waren, ein Glas Portwein reichen. Dann sprach sie von ganz andern Dingen; sie wollte falsche Sentimentalität nicht aufkommen lassen und hatte Recht wie immer.

Inzwischen gingen die Dinge draußen ihren Gang. Mit der Frau ging es rasch. Dann kam Mohr an die Reihe. Man legte ihn auf die Klötze – denn die vorzunehmende Prozedur war die des Räderns – und schob ihm dann einen zur Schleife geschlungenen Strick rasch um den Hals, der nun, durch die Ringe hindurch, von zwei Seiten her fest angezogen werden sollte. Das war, damit er fester liege; aber eigentlich war es, um der Qual ein rascheres Ende zu machen; ein sehr zu billigendes Verfahren. Im selben Momente jedoch, wo die Knechte, die es gut meinten, den Strick scharf anzogen, riß dieser von der dabei angewandten Gewalt und Mohr, der bis zum letzten Augenblicke den unsinnigen Glauben an seine Begnadigung „noch von Jena her“ festgehalten hatte, richtete sich auf, fixirte den neben ihm stehenden Scharfrichter und sagte mit einem grausigen Freudenausdruck im Auge: „Wat wird nu aus Muhr’n?“ [172] Er hatte nicht lange zu warten. Eine neue, sich um seinen Hals legende Strickschleife war die Antwort auf seine Frage.

Gegen 11 waren Alle von der Exekution zurück, mein Vater in sichtlicher Erregung, aber diese doch auch wieder gedämpft durch das Gefühl der verantwortlichen Kommandorolle, die sein Theil bei der Sache gewesen war. Er erzählte den Hergang ziemlich ruhig, nur mit besonderer Betonung einzelner französischer Wörter wie Massacre, Sangfroid, pitoyable, zu denen er immer griff, wenn er etwas scharf markiren wollte. Mir war zu Muth als ob wenigstens ein Unwetter heraufziehen oder eine Sonnenfinsterniß stattfinden müsse; es kam aber nichts derart und in verhältnißmäßig kurzer Zeit – was mit dem langen Schweben des Prozesses zusammenhängen mochte – war alles vergessen.

Indessen bei dem geringsten Anstoß, und der kam öfter als mir lieb war, war die Sache doch wieder da. Das Mohr’sche Ehepaar hatte einen Sohn hinterlassen, einen schwarzen, etwas sonderbaren Jungen in meinem Alter, der wie ein Igel aussah, so standen ihm die kurzen starren Haare vom Kopf ab. Er merkte auch, daß ich ihm nach Möglichkeit aus dem Wege ging, aber er war mir darum nicht gram, denn er hatte bei den Begegnungen doch wohl [173] herausgefühlt, daß sich in mein Entsetzen viel Theilnahme über sein Geschick einmischte.

Schließlich war ich wohl nur noch der Einzige, der sich mit der Sache, wenigstens vorübergehend, beschäftigte. Und das kam so. Jahre lang hatte das kleine Staketenzaun-Haus, drin der Mord geschehen war, leer gestanden und die Blumen in dem halb verwilderten Vorgarten blühten für Niemanden. Da, im Sommer 30, als ich bei untergehender Sonne mit meinem Papa vom Seebade zurückkam und bei der Gelegenheit auch den Rathhausplatz und das Staketenzaun-Haus passirte, sah ich mit einem Male, daß die bis dahin geschlossenen grünen Jalousien aufgemacht und die kleinen Fenster des Wohnzimmers geöffnet waren. An einem derselben aber saß ein Gerichts-Aktuarius, ein fideler Herr, den ich sehr gut kannte, und blätterte, während er Tabakswolken in die Luft blies, in einem vor ihm liegenden Aktenbündel. Er saß so, daß er eine gelbe Malvenstaude links und eine rothe rechts hatte. Das Ganze war ein Bild äußersten Behagens. Ich wies darauf hin und sagte zu meinem Vater: „Das ist ja gerade die Stube …“ „Ja, das ist die Stube“ wiederholte er, „mein Geschmack wär’ es auch nicht“. Aber mit dieser kurzen Bemerkung war es abgethan und ich empfand an jenem Tage zum ersten Male, [174] was ich seitdem so oft empfunden habe, daß es mit den Schreckensdingen eine eigene Bewandtniß hat, gerade so wie mit der Einwirkung von Sturm und Unwetter auf uns. Einige können bei Sturm nicht schlafen, Andere aber schlafen dann am besten und wickeln sich mit einem ganz besonderen Behagen in ihre Decke.


* * *


Mein Vater, als wir vom Rathhausplatze sammt seinem, seine Pfeife schmauchenden Aktuarius wieder nach Hause kamen, erzählte natürlich von meinem Entsetzen über das wieder bewohnte Haus. Alle lachten mich aus, besonders die Dienstleute, und die gute Schröder sagte: „das fehlte auch noch, daß solch Kerl wie Mohr arme Leute um ihre Miethe bringt.“ Ich mußte mir den Spott gefallen lassen und mein Vater, der guten Schröder zustimmend, sprach von Weichlichkeit und Schwäche. Trotzdem traf es sich so, daß dasselbe Jahr noch, mir und meinem Angstgefühle zu einer Art Rechtfertigung verhalf und zwar war es mein Papa selber, den die längst abgethane Geschichte, sehr gegen seinen Willen, doch wieder gepackt haben mußte.

Der November hatte mit einem richtigen Nordwester eingesetzt und was nicht hinaus mußte, saß [175] am warmen Ofen. Mein Vater aber, der sich sagen mochte, daß sein Schimmel, der überhaupt immer über sein Thun und Lassen entschied, schon seit einer halben Woche nicht aus dem Stall gekommen sei, setzte sich in den Sattel und ritt auf den Strand zu. Spätnachmittag war es stiller geworden und die Mondsichel stand schon blaß zwischen zerrissenem Gewölk, als er, die Dünen passirend, plötzlich in unmittelbarste Nähe der Stelle kam, wo sie „Mohr und seine Frau“ eingescharrt hatten. Und jetzt sah er auch, dicht neben sich, den kleinen Schlängelpfad, der auf die Stelle zuführte. Da mit einem Male wollte der Schimmel nicht weiter, bog nach rechts hin aus und prustete und schäumte so, daß es die größte Mühe kostete, an der Stelle vorbeizukommen. „Ich wette, der Schimmel hat gewußt, da liegt Mohr; oder er hatte wenigstens die Witterung.“ Meine Mutter aber lachte: „Wenn sich doch Alles so leicht erklären ließe. Du hast dich geängstigt und als das Thier deine Angst merkte, da kam es auch in Angst. Ich glaube nicht an Spuk; aber eh’ ich glaube, daß sich Dein Schimmel um Mohr und seine Frau kümmert, da glaub’ ich doch noch eher an den alten Geisler oben.“

Die Schlußworte waren scherzhaft gemeint; ich nahm sie aber sehr ernsthaft und hörte nur heraus, [176] daß es mit dem alten Geisler doch auch etwas auf sich haben müsse. Trotzdem konnt’ ich nicht davon lassen, mich immer wieder an die Stelle zwischen Ofen und Schrank zu setzen, von der es hieß, da sei er gestorben.


* * *


Die Geschichte mit Mohr blieb für mich das große Stadtereigniß und nur Einzelnes, bei dem die Elemente eine Rolle spielten, prägte sich mir mit ähnlicher Lebendigkeit ein. Ein paar Vorkommnisse der Art will ich erzählen.

Es war ein sehr heißer Sommer, ich glaube 29 oder 30, und so weit sich’s ermöglichte, waren wir im Freien oder machten auch wohl Partieen. Unter diesen war auch eine nach der Oberförsterei Pudagla, der, wie schon erwähnt, zu jener Zeit der Oberförster Schröder, ein Bruder unserer Mamsell Schröder, vorstand, ein vorzüglicher Herr, gütig, gewissenhaft, gastlich. Und eines Sonntags fuhren wir da hinaus: meine Mutter und ich und noch zwei jüngere Geschwister. Die Schröder blieb zu Haus, ich weiß nicht weßhalb, ebenso mein Vater, der nicht dabei sein konnte, weil er „Wache“ hatte. „Wache haben“ war ein terminus technicus und hieß soviel, wie, statt des Gehülfen, der seinen [177] „freien Sonntag“ hatte, das Geschäftliche persönlich übernehmen, also statt seiner auf „Wache zu ziehn“. Mein Vater fand dies immer etwas „inferior“ für einen Mann von seinen Qualitäten, jedenfalls aber sehr langweilig, weßhalb er nie unterließ, sich für die Nachmittags- und Abendstunden eine Spielpartie einzuladen. Da zu dieser, wenn irgend möglich, auch die beiden Doktoren der Stadt gehörten, so war er auf diese Weise ziemlich sicher, vor Mixturenmischen und Aehnlichem bewahrt zu bleiben. Solche Einladung an zwei, drei Freunde war auch an dem hier zu schildernden Tage ergangen, wir aber fuhren, in aller Frühe schon, auf die Oberförsterei zu, denn es war ein weiter Weg, erst Ahlbeck, dann Heringsdorf, dann Gothen und zuletzt Pudagla selbst, das in einem weiten Bezirk kostbarer alter Buchen lag. Nach dem Strand hin, in einiger Entfernung, erhob sich der Streckelberg, der höchste Berg dieser Gegenden, zu dessen Füßen Vineta gelegen haben soll. Um 10 waren wir draußen, frühstückten, und bewunderten zunächst ein junges Reh, das man, in einem Abschlag des großen Gemüsegartens, eingehegt hatte. Dann gingen wir zu Tisch. Gegen 4 Uhr, so war das Nachmittagsprogramm, wollten wir in den Wald und [178] dort Kaffee trinken. Es war inzwischen aber so heiß geworden, daß wir den Schatten des Hauses vorzogen und uns in Flur und Küche vergnügten, bis wir aus des Oberförsters Munde hörten, daß ein schweres Gewitter im Anzuge sei. „Dann wollen wir eilen,“ sagte meine Mutter, „wir fahren gute 3 Stunden, bei Dunkelwerden vielleicht noch länger, und mein Mann wird in Unruhe sein, weil er weiß, daß die Kinder sich ängstigen“. Ob sie dies Alles glaubte, denn mein Papa ängstigte sich wenig um uns, weiß ich nicht. Der gute Oberförster aber gab nach und um 6 fuhr der Wagen vor. Ich kam vorn zu dem Kutscher, einen Strauß mit Erdbeeren in der Hand, der mich zunächst tröstete. „Viel vor 9 kommt es nicht herauf“ waren des Oberförsters letzte Worte gewesen und er schien auch Recht behalten zu sollen. Wir litten zunächst wenig von der Schwüle, bis wir, nach fast anderthalbstündiger Fahrt am Strand hin, in den Wald einbogen. Es war zwischen Gothen und Heringsdorf. Und nun änderte sich die Situation sehr schnell, denn kaum, daß wir unter den Bäumen waren, so fuhr auch schon ein heller Blitz durch das Dunkel. Von Donner hörten wir nichts. In der That, es war zunächst nur Wetterleuchten, aber von solcher Intensität, daß der [179] Wald wie in Feuer stand. Die Pferde wurden immer unruhiger und als wir bis an die ersten Häuser von Ahlbeck gekommen waren, wandte sich der Kutscher in den Fonds des Wagens hinein und fragte, ob wir nicht vor dem Dorfkruge halten und das Wetter abwarten wollten. Aber meine Mutter, in der ihr eigenen Resolutheit, wollte davon nichts wissen. „Nur zu“. Und so ging es denn weiter. Zunächst zwischen den Häusern und Hütten hin und dann wieder in den jenseits des Dorfes sich fortsetzenden Wald hinein. Das Wetter hielt sich noch immer und erst als wir wieder im Freien und schon in Nähe des zwischen den Dünen gelegenen, mehrerwähnten Kirchhofs waren, hörten wir ein dumpfes Rollen und sahen wie sich etliche, vereinzelt umherstehende Kiefern im Winde zu beugen begannen. Es war sicher, das Losbrechen war nur noch eine Frage von Minuten. „Vorwärts.“ Aber die Pferde konnten kaum noch und immer langsamer mahlte der Wagen in dem tiefen Sande. Trotzdem schien Alles gut für uns ablaufen zu sollen, das Unwetter gab uns erneuert eine Frist und als wir unser Haus und die Kirche schon in Sicht hatten, war noch kein Tropfen Regen gefallen. Im selben Augenblicke jedoch, wo wir hielten, gab es Blitz [180] und Schlag zugleich, so mächtig, daß wir erschreckt in unsere Sitze zurückfielen; es mußte ganz in der Nähe eingeschlagen haben und wolkenbruchartig stürzte der Regen auf uns nieder.

In der Gehilfenstube, soviel sahen wir wohl, war Licht, aber Niemand kam, um uns behilflich zu sein, und zu rufen oder mit der Peitsche zu knipsen, konnte bei dem Wetter, das tobte, nicht viel helfen. Ich sprang also vom Bock und half meiner Mutter und den Geschwistern so gut es ging, aber trotzdem, als wir kaum zwei Minuten später in den dunklen Hausflur eintraten, waren wir total durchnäßt und stapften auf den Fliesen umher, um den Regen abzuschütteln. Aus der Küche kam jetzt eins der Mädchen, einen Blaker in der Hand. „Gott, Madame …“ Aber unser in seine Whistpartie vertiefter Vater erschien noch immer nicht und wurde erst sichtbar, als meine Mutter, die mit einem Male klar in der Sache sah, die zur Gehilfenstube führende Thür hastig aufriß und mit nicht mißzuverstehender Ausgesprochenheit hineinrief: „Guten Abend, Louis; wir sind da.“

„Nun, das ist ja gut; eben muß es eingeschlagen haben.“

Und während er diese Betrachtungen anstellte, legte er die letzten Trumpfkarten auf den Tisch und [181] sagte: „drei Trick, macht einen Rubber von 7; Doktor, Sie geben.“

An Begrüßung war nicht zu denken und meine Mutter zog sich empört in ihre Stube zurück.

Und nun sollten wir zu Bett gebracht werden: ich bat aber aufbleiben zu dürfen, was mir auch gewährt wurde. Das Gewitter – eins von den ganz schweren, wie sie sich auf Inseln einstellen, wo der einschließende Wassergürtel sie festhält – nahm inzwischen seinen Fortgang. Mich fröstelte und ich wußte nicht recht, wo ich hin sollte. Da stahl ich mich unbemerkt wieder nach vorn in die Stube, wo die vier Whistspieler noch immer saßen und dann und wann in ihrer Spielerregung so scharf auf die Tischkante schlugen, daß die Glasmanschetten auf den Messingleuchtern schwirrten und klirrten. Die Lichter waren fast schon niedergebrannt. „Ich denke noch einen Rubber.“ Und dabei fuhr mein Vater mit dem Daumen über die Seitenwand der wieder zusammengerafften Karten. „Nimm ab, Werkenthin“. Ein greller Schein leuchtete durch die Ritze der Fensterladen und mir war als müsse der Blitz zwischen die Spieler fahren. Das Wetter war aber schon im Schwinden und ich ging in meine Kammer, wo meine Geschwister bereits schliefen. Was eine halbe Stunde später drüben auf der andern [182] Seite des Flurs zur Sprache kam, lag mir zum Glück außer Hörweite.


* * *


Wenn ich nicht irre, war es in demselben Jahre, daß die Herbsttage mit starkem Sturm einsetzten und als wir Kinder, eines Abends, auf Schemeln und Fußbänken in der Küche saßen, um uns an dem großen Herdfeuer zu wärmen, erschien mit einem Male mein Vater und sagte: „Nun wird es Ernst; der Wind steht gerade auf die Molen und kein Tropfen Wasser kann heraus. Bleibt es so, so können wir morgen Kahn fahren oder vielleicht sitzen wir auch auf dem Dach.“ Er glaubte es Alles selber nicht recht, aber etwas, was vom Alltäglichen abwich, in Sicht zu stellen, war ihm ein besonderes Vergnügen und wir Kinder waren, wenigstens in diesem Stück, Alle so sehr nach ihm geartet, daß wir ihm Dank dafür wußten und unsere Mutter nicht begriffen, die von solcher Phantasiebelastung nie was wissen wollte.

„Können wir untergehen?“ fragte ich.

„Ja, mein lieber Junge, wer will so was sagen. Möglich ist Alles. Uebrigens ist es ein Glück, daß unsere Küste den Alluvial-Charakter hat, kein [183] ewiges Rumoren in der Erde, nichts Feuerspeiendes. Andre Gegenden sind schlimmer daran. In Caracas, einer südamerikanischen Stadt, deren Einwohnerzahl nicht genau feststeht, hat neulich eine Welle eine französische Brigg gepackt und von der Rhede her auf den großen Marktplatz der Stadt gestellt. Und dann zog sich die Welle wieder zurück und ließ die Brigg genau da, wo sie stand, so daß die Bewohner von Caracas hinaufsteigen und den französischen Capitän besuchen konnten. Das ist aber nur, weil da Alles vulkanisch ist; gerade da, wo das Schiff vor Anker lag, ging es los, eine sogenannte Eruption.“ Er sprach dann noch eine Weile so weiter und hinterließ uns in einem sehr aufgeregten Zustande. Dann und wann, wenn ein Windstoß kam, fielen große Stücke Ruß aus dem Rauchfang auf den Herd und wenn dann die glimmenden Scheite aufflackerten und auseinander flogen, fuhren wir zusammen und ich meinerseits dachte: „Wenn es hier doch vielleicht vulkanisch wäre!“

Wie die Nacht verging, weiß ich nicht mehr, aber das weiß ich, daß wir am andern Tage sehr enttäuscht am Frühstückstische saßen. Der Wind, ein richtiger Nordwester, war ganz nach Westen herumgegangen, die Stauung hatte aufgehört und das Wasser im Strom stand nicht viel höher als [184] gewöhnlich. Es blieb uns also nichts Anderes übrig, als unsere Mappen zu packen und unsern Schulgang ganz alltäglich zu Fuß anzutreten, während wir doch mit Sicherheit darauf gerechnet hatten, in einem Boot in die Schule fahren und unterwegs bei Bäcker Woltermann unsere Frühstücksbrödchen kaufen zu können. Ein kleiner romantischer Hang saß uns Allen tief im Geblüt und blieb uns auch für manches weitere Jahr. 1848, wo wir Kinder doch Alle schon erwachsen waren, kriegten wir noch einmal einen starken Anfall von dieser Lust am Abenteuerlichen. Wir lebten damals im Oderbruch und verfolgten die durch die Märztage auch in der Provinz Posen heraufbeschworenen Vorgänge. Eines Tages hieß es: „Die Polen kommen: sie stehen schon südlich von Küstrin und wollen auf Berlin zu, um mit dem Berliner Volk zu fraternisiren“. Ich hielt es eigentlich für Unsinn, trotzdem regte mich die Nachricht angenehm auf, meine Geschwister noch viel mehr, und alle Stunden gingen wir auf die höchstgelegene Bodenstube, um von dort aus Ausschau zu halten. Als es zuletzt hieß „sie kommen nicht“, waren wir eigentlich traurig; Confederatka, rothe Schärpe, Uebungsversuche im Französischen, all das wäre doch mal was anderes gewesen.

[185]

Ach Gott, wie einem die Tage
Langweilig hier vergehn,
Nur wenn sie einen begraben
Bekommen wir was zu sehn…

Es liegt eine furchtbare Wahrheit in der Einsamkeits- und Verlassenheitsstimmung dieser Heinischen Strophe. Wir wenigstens waren damals ihrer Wahrheit unterthan.


* * *


Zwei Jahre später, Anfang Januar 32, hatten wir wieder ein am Strom spielendes Ereigniß. Aber diesmal war es keine Sturmfluth, sondern ein kleines Eis-Abenteuer. Die Tage nach Weihnachten waren ungewöhnlich milde gewesen und das Eis, das schon Anfang Dezember das Haff überdeckt hatte, hatte sich wieder gelöst und trieb in großen Schollen, die übrigens den Bootverkehr nach der Insel Wollin hinüber nicht hinderten, flußabwärts dem Meere zu. Sylvester war wie herkömmlich gefeiert worden und für den zweiten Januar stand ein neues Vergnügen in Sicht, von dem ich mir ganz besonders viel versprach: mein Freund Wilhelm Krause, der schon als Schüler und Pensionär des bekannten Direktors v. Klöden die Gewerbeschule besuchte, mußte [186] am 3. Januar wieder in Berlin sein und seitens seines Vaters, des Kommerzienraths, war mit einigen Freunden verabredet worden, dem liebenswürdigen Jungen, bis nach dem jenseitigen Ufer hinüber, von wo dann die Fahrpost ging, das Geleit zu geben. In einem sichren Eisboote wollte man, zwischen den Schollen hindurch, die Partie machen, Alles in Allem 8 Personen: erst zwei Bootsleute, dann der Kommerzienrath und sein Sohn, dann Konsul Thompson und Sohn und schließlich mein Vater und ich. Ich freute mich ganz ungeheuer darauf. Einmal weil es was Apartes war und nicht minder, weil eine glänzende Verpflegung in Aussicht stand. Es verlautete nämlich, daß drüben im Fährhause gefrühstückt und wir drei Jungens mit Eierpunsch und holländischen Waffeln regalirt werden sollten. Ich nahm mir vor, weil mir dies männlicher erschien, mich ausschließlich an den Eierpunsch zu halten, blieb aber später nicht auf der Höhe dieses Entschlusses. Um 9 sollte das Boot von „Krausen’s Klapp“ abgehen. Wir waren auch alle pünktlich da, nur das Boot nicht, und als wir eine Weile gewartet, erfuhren wir, wovon uns übrigens der Augenschein bereits überzeugt hatte, daß der über Nacht eingetretene starke Frost die Schollen zum Stehen gebracht und die kleinen Wasserläufe dazwischen [187] mit Eis überdeckt habe. Das hätte nun nichts auf sich gehabt, im Gegentheil, wenn nur die Eisdecke um einen Zoll dicker gewesen wäre; sie war aber sehr dünn und so standen wir vor der Erwägung, ob ein Ueberschreiten des Flusses überhaupt möglich sei. Der Kommerzienrath, dem daran lag, keine Schulversäumniß eintreten zu lassen, war entschieden für das kleine Wagniß und als die in langen Pelzjacken dastehenden Bootsleute dies erst sahen, meinten sie sofort auch ihrerseits „es werde schon gehen und wenn was passire, so wäre es auch so schlimm nicht … ein bischen naßkalt …“ „Ja, Kinder“, sagte Thompson „wie denkt ihr euch das eigentlich? das heißt doch soviel wie ’reinfallen und da hat man seinen Schlag weg, man weiß nicht wie. Oder die Eisscholle schneidet einem den Kopf ab.“

„Ih, Herr Konsul, so schlimm wird es ja woll nich kommen.“

„Ja, so schlimm wird es ja woll nicht kommen, … das klingt ganz gut, aber daraus kann ich mir keinen Trost nehmen. ‚Oskar…‘ und dabei nahm er seinen Jungen bei der Schulter „wir zwei bleiben hier; Onkel Krause ist ein Windhund, der kann es riskiren. Und Du Bruder, wie steht es mit Dir?“

Diese Schlußworte richteten sich an meinen Vater, der ohne Weiteres erklärte, Thompson habe [188] recht. In diesem Augenblick aber traf ihn ein so wehmüthiger Blick aus meinen Augen, daß er in’s Lachen kam und hinzusetzte: „Nun gut, wenn der Kommerzienrath Dich mitnehmen will, meinetwegen … ich bin der Schwerste von Euch Allen … und von Verpflichtung kann keine Rede sein, eher das Gegentheil …“ Und bei diesem Entscheide blieb es.

Einer der Bootsleute, mit einem 8 oder 10 Fuß langen Brett auf der Schulter und einem Tau um den Leib, ging vorauf, an dem nachschleifenden Tauende aber hielt sich der Kommerzienrath mit der Linken, während er seinen Jungen an der andern Hand führte; gleich dahinter folgte der zweite Bootsmann, ähnlich ausgerüstet, aber statt des Taus mit einer Eispieke, dran ich mich hielt. So ging es los. Es war zauberhaft und wohl eigentlich nicht sehr gefährlich. Die beiden Bootsleute waren immer vorauf und erfüllten mich mit dem angenehmen Gefühl, „wenn die überfrorne Stelle den Bootsmann getragen hat, Dich trägt sie gewiß.“ Und das war richtig. Freilich kamen Stellen, wo der Strom so stark ging, daß nicht einmal Schülbereis das Wasser bedeckte, aber solche freie Strömung war immer nur zwischen zwei verhältnißmäßig naheliegenden Eisschollen, so daß das Brett, das der Bootsmann trug, vollkommen ausreichte, einen [189] Uebergang von einer Scholle zur anderen zu schaffen. War er drüben, so reichte er mir die lange Piekenstange oder richtiger hielt die Stange so, daß sie mir als ein Geländer diente. Kurzum, ich empfand nur soviel von Gefahr, wie nöthig war, um den ganzen Vorgang auf seine höchste Genußhöhe zu heben und als ich, nach dem Frühstück drüben, wieder glücklich zurück war, betrat ich das Bollwerk wie ein junger Sieger und schritt in gehobener Stimmung auf unser Haus zu, wo meine Mutter, die von einem sehr erregten Gespräch zu kommen schien, schon im Flur stand und mich erwartete. Sie küßte mich mit besonderer Zärtlichkeit, dabei immer vorwurfsvoll nach dem Vater hinübersehend und fragte mich, ob ich noch etwas wolle.

„Nein,“ sagte ich „es gab Eierpunsch und Waffeln und ich wollte auch welche für die Geschwister mitbringen; aber mit einem Male gab es keine mehr.“

„Ich weiß schon. Du bist Deines Vaters Sohn.“

„Da hat er ganz gut gewählt,“ sagte mein Vater.

„Meinst Du das wirklich, Louis?“

„Nicht so ganz. Es war nur eine façon de parler.“

„Wie immer.“




Kapitelübersicht: Meine Kinderjahre

· 1 – Meine Eltern · · 2 – Gascogne und Cevennen - Französische Vettern - Unsere Ruppiner Tage · · 3 – Unsere Übersiedelung nach Swinemünde - Ankunft daselbst · · 4 – Unser Haus, wie wir's vorfanden · · 5 – Unser Haus, wie's wurde · · 6 – Die Stadt, ihre Bewohner und ihre Honoratioren · · 7 – Die Schönebergs und die Scherenbergs · · 8 – Die Krauses · · 9 – Wie wir in unserem Hause lebten - Sommer- und Herbsttage - Schlacht- und Backfest · · 10 – Wie wir in unserem Hause lebten (Fortsetzung) - »Große Gesellschaft« · · 11 – Was wir in Haus und Stadt erlebten · · 12 – Was wir in der Welt erlebten · · 13 – Wie wir in die Schule gingen und lernten · · 14 – Wie wir erzogen wurden - Wie wir spielten in Haus und Hof · · 15 – Wie wir draußen spielten, an Strom und Strand · · 16 – Vierzig Jahre später ·  17 – Allerlei Gewölk · · 18 – Das letzte Halbjahr ·

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