Meine Kinderjahre (Fontane)/Wie wir erzogen wurden

Wie wir in die Schule gingen und lernten Meine Kinderjahre
von Theodor Fontane
Wie wir draußen spielten, an Strom und Strand
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[237]
Vierzehntes Kapitel.
Wie wir erzogen wurden. – Wie wir spielten in Haus und Hof.


Wie wir erzogen wurden? Ich habe diese Frage schon an mehr als einer Stelle gestreift und bin ihr namentlich im vorigen Kapitel, wo sich’s um die Schule handelte, vergleichsweise nahe getreten. Indessen Erziehung und Schule, bei vielem was sie gemeinsam haben, sind doch auch wieder zweierlei; die Schule liegt draußen, Erziehung ist Innensache, Sache des Hauses und vieles, ja das Beste, kann man nur aus der Hand der Eltern empfangen. „Aus der Hand der Eltern“ ist nicht eigentlich das richtige Wort, wie die Eltern sind, wie sie durch ihr bloßes Dasein auf uns wirken, – das entscheidet. Es giebt unbestritten ausgezeichnete Schul- und Erziehungsanstalten, die, mit Rücksicht auf Charakterausbildung, vielfach erheblich mehr leisten mögen, als das elterliche Haus; aber in der Hauptsache [238] bleibt doch ein Manco. Der Charakter mag gewinnen, der Mensch verliert. Es giebt so viel Dinge, die mit ihrem stillen und ungewollten, aber eben dadurch nur um so nachhaltigerem Einfluß erst den richtigen Menschen machen. Das große, mit Pflicht-, Ehr- und Rechtsbegriffen ausstaffirte Tugendexemplar, ist unbedingt respektabel und kann einem sogar imponiren; trotzdem ist es nicht das Höchste. Liebe, Güte, die sich bis zur Schwachheit steigern dürfen, müssen hinzukommen und unausgesetzt darauf aus sein, die kalte Vortrefflichkeit zu verklären, sonst wird man all dieses Vortrefflichen nicht recht froh. Ich hatte das Glück, in meinen Kindheits- und Knabenjahren, unter keinen fremden Erziehungsmeistern – denn die Hauslehrer bedeuteten nach dieser Seite hin sehr wenig – heranzuwachsen und wenn ich hier noch einmal die Frage stelle „wie wurden wir erzogen“, so muß ich darauf antworten: „gar nicht und – ausgezeichnet“. Legt man den Accent auf die Menge, versteht man unter Erziehung ein fortgesetztes Aufpassen, Ermahnen und Verbessern, ein mit der Gerechtigkeitswage beständig abgewogenes Lohnen und Strafen, so wurden wir gar nicht erzogen; versteht man aber unter Erziehung nichts weiter, als „in guter Sitte ein gutes Beispiel geben“ und im Uebrigen das Bestreben, einen jungen Baum, [239] bei kaum fühlbarer Anfestigung an einen Stab, in reiner Luft frisch, fröhlich und frei aufwachsen zu lassen, so wurden wir ganz wundervoll erzogen. Und das kam daher: meine Eltern hielten nicht blos auf Hausanstand, worin sie Muster waren, sie waren auch beide von einer vorbildlichen Gesinnung, die Mutter unbedingt, der Vater mit Einschränkung, aber darin doch auch wieder uneingeschränkt, daß ihm jeder Mensch ein Mensch war. Noch weit über seine Bonhommie hinaus, ging seine Humanität. Er war der Abgott armer Leute.

So waren die zwei Persönlichkeiten, die wir tagaus, tagein vor Augen hatten und wie man mit Recht gesagt hat, das Wichtigste für den physischen Menschen sei die Luft, drin er lebe, weil er aus ihr mit jedem Athemzuge Gesundheit oder Nicht-Gesundheit schöpfe, so ist für den moralischen Menschen das, was er von seinen Eltern sieht und hört, das Wichtigste, denn es ist nicht eine von glücklichen Zufällen abhängige, vielfach unfruchtbare Belehrung, sondern ein Etwas, das in jenen Jahren, wo die Seele sich bildet, von Minute zu Minute seine Wirkung übt.

„Gar nicht erzogen und ausgezeichnet erzogen,“ so sagte ich und dies scheinbar sich Widersprechende paßte ganz vorzüglich zusammen. Es paßte zusammen [240] und hätte noch besser gepaßt, wenn der Zustand des sich gar nicht oder doch nur wenig um uns Kümmerns ein permanenter gewesen und jederzeit in seiner vollen Reinheit aufrecht erhalten worden wäre. Leider aber war dies nicht der Fall; vielmehr wurde durch dann und wann auftretende Versuche mit den herkömmlichen pädagogischen Mitteln einzugreifen, unser normaler Nicht-Erziehungsprozeß gestört, theils nutzlos, theils geradezu schädigend. Ich kann mich nämlich nicht entsinnen, jemals mit einem vollen Recht bestraft worden zu sein, entweder war es im Maaß verfehlt, oder ganz und gar ungerechtfertigt. Es traf sich dabei so sonderbar, daß alle diese Strafen durch meinen Vater vollzogen wurden, wobei jedoch zwei Gruppen unterschieden werden müssen, solche, zu denen der Vollziehende, mein Vater also, sich durch sich selber getrieben fühlte und solche, zu denen er blos abkommandirt wurde. Jene haben keinen großen Eindruck in meiner Seele hinterlassen, aber diese, die blos auf Befehl erfolgten, schmerzen mich bis diesen Tag.

Ich gebe ein paar Beispiele zur Charakterisirung der einen und der anderen Art und beginne mit den aus freiem Willen entsprossenen Strafen. Daß es überhaupt zu solchen kam, muß bei dem Charakter [241] meines Vaters überraschen, denn er war ganz ausgesprochen für leben und leben lassen und jedenfalls der unstraflustigste Mann von der Welt. Daß er nun, dem allen zum Trotz, doch gelegentlich zu Strafvollstreckungen aus eigener Initiative schritt, hatte in ganz kleinen Nebenzügen seines Charakters seinen Grund, in etlichen Sonderbarkeiten, die freilich ganz zu ihm gehörten und erst recht eigentlich das aus ihm machten, was er war, ein Original. Unter diesen kleinen Nebenzügen waren zwei, für mich wenigstens, von ganz besonderer Bedeutung: er war zunächst allemal außer sich, wenn eine Fensterscheibe neu eingesetzt werden mußte und gerieth zum zweiten und zwar weit über den Fensterscheiben-Ärger hinaus, in eine kleine Berserker-Rage, wenn ihn das Riesendach seines Hauses, weil es wieder mal durchgeregnet hatte, zu Einlegung von ein paar neuen Dachziegeln zwang. An diesen beiden Eigenthümlichkeiten ist der Frieden meiner Kinderjahre mehrfach gescheitert. Ich war ein eifriger Ballspieler und bevorzugte jene besondere Form des Spiels, wo sich einer meiner Kumpane mit dem Rücken an die Wand stellen und seine rechte Hand ausstrecken mußte. Nach dieser Hand zielte ich nun und war ich dabei nicht geschickt genug, so flog der Ball gelegentlich in eine Scheibe. Danach kam dann das Strafgericht. Aber [242] viel viel schlimmere[WS 1] Folgen entsprangen mir aus meines Vaters Antipathie gegen die vorerwähnten Dachreparaturen. Zu meinen Hauptspielvergnügungen, ich komme weiterhin ausführlich darauf zurück, zählte das Umherklettern und sich Verstecken auf dem Bodengebälk. Ich saß oder hockte da, meist mit dem Rücken an einen Rauchfang gelehnt, und war glücklich, wenn die Jungen, die nach mir suchten, mich nicht finden konnten. Aber gerade diese Momente höchsten Triumphs waren es doch auch, die zuletzt wieder eine Gefahr herauf beschworen. Wenn ich da, durch Mauer- und Lattenwerk verborgen, eine Stunde lang und oft noch länger gehockt hatte, kamen, wie sich denken läßt, kleine menschliche Schwachheiten über mich, denen ich so zu sagen auf ordnungsmäßige Weise nicht nachgehen konnte, weil ich mich dadurch meinen unten auf mich wartenden Feinden überliefert haben würde. So denn zwischen zwei Bedrängnisse gestellt, kroch ich zuletzt, aus meinem Halb-Versteck, auf einen möglichst im Schatten liegenden Balken hinaus und nahm hier die Stellung ein, wie die berühmte kleine Brunnenfigur in Brüssel, mich zugleich derselben Beschäftigung unterziehend. Gleich danach verbarg ich mich wieder so gut es ging und wartete da, bis ich, bei endlichem Dunkelwerden, meine Chance wahrnehmen und unten, am [243] Treppenpfeiler, unter 3 maligem Anschlag den Frei-Platz erreichen konnte. Das war dann jedesmal ein großer Sieg, aber eine schmerzliche Niederlage heftete sich nur allzu oft an meine Sohlen. Traf es sich nämlich so, daß mein Vater am anderen Tage sein Haus revidirte, vor allem aber die Böden, gegen die er immer ein besondres Mißtrauen unterhielt, so trat er alsbald sinnend an die Stelle, zu deren Häupten ich am Abend vorher gestanden und hielt hier eine seiner herkömmlichen, zunächst gegen das „verdammte Dach, das ihn noch aufzehren werde“, gerichteten Ansprachen, bis ihm mit einem Male der Gedanke kam, „sollte vielleicht wieder …?“ Und nun begann das Prozessualische. Wurde meine Schuld festgestellt, so traf mich eine Strafe, die die wegen Ball und Fensterscheibe mindestens dublirte.

Solcher Art waren die Vollstreckungen aus der freien Initiative meines Vaters, kleine Exekutionen, die vielleicht auch hätten wegbleiben können, aber gegen die ich, wie schon gesagt, in meinem Gemüthe nicht länger murre. Sehr anders verhielt es sich mit den Strafen, an die mein Papa, wie in Ausführung eines richterlichen Befehls, heran mußte. Diese waren schmerzlich und nachhaltig. Eine davon ist mir besonders stark im Gedächtniß geblieben.

[244] Es war schon im Oktober, ein heller, wundervoller Tag, und wir spielten in unserem Garten ein von uns selbst erfundenes, aber freilich nur einmal gespieltes Spiel: „Bademeister und Badegast.“ An der Gartenthür standen Tisch und Stuhl, auf welch letztrem der Bademeister saß und gegen gesiegelte Marken Zutritt gewährte. War diese Marke gezahlt, so schritt der Badegast über eine auf Holzkloben liegende Bretterlage hin und kam schließlich an den Badeplatz. Dies war ein vorher gegrabenes riesiges Loch von wenigstens 4 Fuß im Quadrat und eben so tief. Das Wasser fand sich von selbst, denn es war Grundwasser, und in diesem Grundwasser stapften wir nun, nach Aufkrempelung unserer Hosen und wie in Vorahnung der Kneipp’schen Heilmethode, glückselig herum. Aber nicht allzu lange. Meine Mutter hatte, vom Wohnzimmer meines Vaters aus, diesen Badejubel beobachtet und aus Gründen, die mir bis diesen Augenblick ein Geheimniß sind, entschied sie sich dahin: „daß hier ein Exempel statuirt werden müsse.“ Hätte sie sich der Ausführung dieses Entscheids nun selber unterzogen, so wäre die Sache nicht schlimm gewesen, die Hand einer Mutter, die rasch dazwischen fährt, thut nicht allzu weh; es ist ein Frühlingsgewitter und kaum hat es eingeschlagen, so ist auch die Sonne schon [245] wieder da. Leider jedoch hatte meine Mutter, und zwar schon Jahr und Tag vor Eröffnung dieser „privaten Badesaison“, den Entschluß gefaßt, nur immer Strafmandate zu erlassen, die Ausführung aber meinem Vater, wie einem dafür Angestellten, zuzuweisen. Das Heranreifen eines solchen Entschlusses in ihr, kann ich mir nur so erklären, daß sie davon ausging, mein sehr zur Bequemlichkeit neigender Vater sei eigentlich „für gar nichts da“ und daß sie mit dem allen den Zweck verband, ihn auf den Weg des Pflichtmäßigen hinüber leiten zu wollen. Treff ich es damit, so muß ich sagen, ich halte das von ihr eingeschlagene Verfahren für falsch. Wer die Unthat entdeckt und als Unthat empfindet, der muß auch auf der Stelle Richter und Vollzieher in einer Person sein. Vergeht aber eine halbe Stunde oder eine ganze und muß nun ein vom Frühschoppen heimkehrender Vater, der eigentlich sagen möchte „seid umschlungen Millionen“, muß dieser unglückselige Vater, auf einen Bericht und eine sich daran knüpfende Pflicht-Ermahnung hin, den Stock oder gar die Reitpeitsche von seinem verstaubten Schreibpult herunternehmen, um nun den alten König von Sparta zu spielen, so ist das eine sehr traurige Situation, traurig für den mit der Exekution Beauftragten und traurig für den, an dem sich der [246] Auftrag vollzieht. Kurz und gut, ich wurde ganz gründlich in’s Gebet genommen und als ich aus der Marter heraus war und total verbockt (ein Zustand, den ich sonst nie gekannt habe) in unserer schüttgelben Kinderstube mit dem schwarzen Ofen und dem Alten-Geislerstuhl auf- und abging, erschien meine Mutter und forderte von mir, daß ich nun auch noch hinübergehen und meinem Vater abbitten solle. Das war mir über den Spaß und ich weigerte mich. Schließlich aber redete sie mir freundlich zu und ich that es. Ich glaube, sie fühlte in ihrem Gerechtigkeitssinne, daß sie viel zu weit gegangen war und weil ihr mein Vater, dem die Sache gewiß geradezu gräßlich war, schon Aehnliches gesagt haben mochte, so lag ihr daran, alles baldmöglichst wieder beglichen zu sehn.

All das waren so Proben aus dem verunglückten Detail der Erziehung oder ich könnte auch sagen unerwünschte Leistungen auf dem von beschränkten Leuten so recht eigentlich als „Erziehung“ angesehenen Gebiete, weil beschränkte Leute von der Erziehungsvorstellung die Vorstellung der Strafe nicht trennen können. Glücklicherweise kam es zu solchen Scenen nur sehr ausnahmsweise, was ich hier nochmals von ganzem Herzen preise. Regel war, unsere Kreise nicht zu stören und wenn ich nicht in die [247] Schule ging oder gerade Schillersche Balladen lernen mußte, so gehörte meine Zeit der Beschäftigung nach freier Wahl an, der Ungebundenheit, dem Spiel.


* * *


Mein Vater hing dem Spiel nach; ich auch. Aber während seine Spiele L’hombre, Whist und Boston hießen, des edlen Pharaos ganz zu geschweigen, hießen die meinigen, um nur ein paar zu nennen, Klinker und Knut und Anschlag und Versteck. Kartenspiel, wie’s auch Kinder spielen, war mir immer höchst langweilig, wogegen ich all das, was ich meine Spiele nannte, mit einer Lust und Leidenschaft spielte, die weit über die Kartenspiellust meines Vaters hinausging. Ich war der geborne kleine Akrobat. Von Schulgerechtem konnte dabei keine Rede sein; aber in allem, was einem auf diesem Gebiete, wenn man leidlich gesund ist, von Mutter Natur als Voranlage mitgegeben wird, war ich sehr glücklich ausgestattet. Ich war stärker und gewandter als die Schul- und Straßenjungen, mit denen ich anfänglich (später änderte sich’s) in Berührung kam und diese Kraft und Gewandtheit zu zeigen, war ich in so hohem Maaße beflissen, daß ich, im Rückblick auf meine Kinderjahre, diese [248] ganze Zeit nicht als eine Schul- und Lernezeit voll Gequält- und Gedrilltwerdens, sondern als eine Zeit unausgesetzten Spielens vor Augen habe, so sehr überwogen die Spielstunden alles andere, sowohl dem Zeitmaaße wie dem Interesse nach.

Noch einmal, es war zumeist meine natürliche Veranlagung für das Turnerische, was mich die gewöhnlichen Knabenspiele mit so viel Lust und Liebe spielen ließ und ich werde davon in diesem und den folgenden Kapiteln noch mancherlei zu berichten haben. Aber in jenem wohlbekannten Widerspruche, der nun mal, einem räthselhaften Naturgesetze folgend, unser Leben und unsere Neigungen durchzieht, in diesem auch bei mir zu Tage tretenden Widerspruche traf es sich so, daß meine zwei leidenschaftlichsten Spielbeschäftigungen in dem einen Falle gar nichts und in dem andern sehr wenig mit Akrobatik und halsbrecherischen Kunststücken zu thun hatten. Denn diese zwei leidenschaftlichsten Beschäftigungen waren: die Buchbinderei (richtiger noch, bloße Papparbeit) und das Versteckspielen.

Die Papparbeit! Mir ganz unerfindlich jetzt, wie mich diese langweiligste Beschäftigung durch Jahre hin, so ganz in Anspruch nehmen konnte, daß ich mindestens ein Drittel meiner freien Zeit damit verbracht und mindestens zwei Drittel meines [249] Taschengeldes für Pappe, marmorirtes Papier und Goldborten ausgegeben habe. Nun darf ich zwar hinzusetzen, daß ich den Kleisterpinsel im Dienst einer höheren Idee schwang und daß der meiner Leimtopfarbeit dienende Stubenwinkel eine Art Schutzwaffenfabrik war, wo meine Völker, ich komme weiterhin darauf zurück, wehrhaft gemacht und mit Schilden und Brustharnischen ausgerüstet wurden; aber wiewohl das Alles zutrifft, so kann ich doch das Entschuldigungsmoment, das darin liegt, vorm Richterstuhl der Wahrheit kaum gelten lassen, weil ich deutlich fühle, daß ich, auch wenn die Volksausrüstungsfrage mir fern gelegen hätte, dennoch dieselbe Klebebeschäftigung geübt haben würde. Dann freilich wahrscheinlich als Domarchitekt und Kathedralenbauer in Pappe. Ich kann es mir nur so erklären, daß sich ein gewisser Gestaltungsdrang darin aussprach. Es prickelte mich, etwas entstehen zu sehen. Aber vielleicht ist diese Erklärung auch noch zu schmeichelhaft.

Aehnlich rathlos steh ich der Versteckspiel-Passion gegenüber. Denn wenn auch die darauf verwendete Zeit – weil ich die sechs, acht Jungen, die mich aufsuchen mußten, nicht immer zur Hand hatte – viel geringer war, so war doch die Leidenschaft dafür noch viel, viel größer und am größten [250] da, wo sie am unverständlichsten war. Das schon vorgeschilderte Herumklettern in dem in tiefem Schatten liegenden Sparrenwerk des Daches, auch wenn ich dabei, hinter einem Rauchfang oder Lattenverschlag, auf Augenblicke nach Schutz oder Deckung suchen mußte, – war kein eigentliches Versteckspiel, trotzdem etwas davon mit vorkam; eigentliches Versteckspiel, nach meiner damaligen Anschauung, war etwas viel Großartigeres, Poetisch-phantastischeres und jedenfalls gleichbedeutend mit einem völligen stundenlangen Verschwinden, wozu der riesige Heuboden, den wir auf unserem Hofe hatten, eine nicht zu übertreffende Gelegenheit bot. Bis unter den First eines langen Stallgebäudes lag das Heu dicht aufgeschichtet und in die tiefen und engen Löcher, die sich hier und da zwischen den Dachbalken und der Heumasse befanden, ließ ich mich leise hinabgleiten. Da saß ich dann endlos, unter beständigem Herzklopfen, vor Enge und Schwüle beinahe erstickend und immer nur durch die glückselige Vorstellung aufrecht erhalten „und wenn sie dich suchen bis an den jüngsten Tag, sie finden dich nicht.“ Und sie fanden mich auch wirklich nicht, gaben zuletzt alles Suchen auf, brachen das Spiel ab und gingen in die Küche, wo sie, Schemel und Fußbänke an den Herd rückend, unter Verwünschungen gegen [251] mich ihr Vesperbrot verzehrten. Ich aber, wenn ich an dem Stillwerden in Hof und Garten merkte, daß man die Jagd auf mich aufgegeben hatte, wand mich aus meinem Heuloche wieder heraus und erschien nun unter ihnen mit dem Ausdruck höchster Geringschätzung. Ich thue wieder die Frage, worin wurzelt da das Glück?

Begreiflicher als die Versteckspiel-Freude war die Lust am Klettern, wozu, neben anderem, die dicht vor unserem Hause stehenden Kastanienbäume mich geradezu herausforderten. Auf den unteren Aesten sich einlogieren, das konnte jeder; aber von der höchsten Spitze her einen blühenden Zweig herunterholen, das war ein lohnender Ehrgeiz, dem ich beinahe mal zum Opfer fiel. Unter dem Baume stand der alte Pietzker, unser Nachbar, ein Holländer, der einen Handel mit Eidamer Käse trieb und nach Art der französischen Bauern immer in einer weißen Zipfelmütze einherging. Er war mein guter Freund und rief mir, in den Baum hinauf, zu „ich sollte mich in Acht nehmen, Kastanienholz bräche leicht.“

Es war gut gemeint, aber kam zu spät. Denn im selben Augenblicke gab es auch schon ein Knicken und Knacken und ganz zuletzt noch einmal auf den Hauptast des Baumes aufschlagend, stürzte ich, von oben herab, auf den steinharten Boden, steinhart, weil [252] 10 Fuß breit um das Haus herum Müll und Ziegelschutt aufgeschüttet war. Ich lag da für todt und rührte mich nicht, der Umstand indeß, daß das viele kleine Gezweige zunächst die Vehemenz des Sturzes gemindert hatte, hatte mich doch gerettet und nach kurzer Zeit schlug ich die Augen auf und Pietzker trug mich in die Apotheke, wo man mir mit Salmiakgeist weiter aufzuhelfen trachtete. Geschah auch. Als ich aber über Rücken- und Rippenschmerzen klagte, sagte Pietzker: „Da hilft blos Mierenspiritus.“ Und ehe ich „ja oder nein“ sagen konnte, wurde ich damit übergossen. Ich hatte immer noch Schmerzen, war jedoch wieder beweglich geworden und konnte, wenn auch freilich nur mit Anstrengung, beim Abendbrot, bei dem die Eltern glücklicherweise fehlten, erscheinen. Es war gerade die schon in einem früheren Kapitel erwähnte Milchsuppenzeit, was an und für sich gut paßte. Zugleich aber war es auch der Tag, wo aus der herkömmlichen Folge von Reis, Grieß, Hirse, gerade die Hirse an der Reihe war, und mit einem Male merkend, daß sich, wohl in weiterer Folge meines Sturzes, die Vorderhälfte des einen Backzahns ablöste, fühlte ich auch schon, wie sich ein Hirsekorn in die offene Stelle einsenkte. Unter furchtbaren Schmerzen verbrachte ich die Nacht und war am andern Tag ein Bild des Jammers. Dazu kam noch die beständige Furcht, [253] ich könnte wegen Kletterns, das natürlich verboten war, abgestraft werden. Das unterblieb aber. Mein Vater trat vielmehr, als ich unglücklich dasaß, zu mir heran und sagte: „Pietzker hat mir Alles erzählt. Du wirst noch den Hals brechen. Wo thut’s denn weh?“

Er hatte geglaubt, daß ich auf Kopf und Rücken zeigen würde, ich zeigte aber auf den Zahn und erzählte ihm, daß die Vorderhälfte abgebrochen sei.

„Nun das ist nicht schlimm. Da muß die andere Hälfte auch ’raus. Dann bist Du’s los. Weh thut es. Aber das ist die Strafe.“



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: schlimmerere


Kapitelübersicht: Meine Kinderjahre

· 1 – Meine Eltern · · 2 – Gascogne und Cevennen - Französische Vettern - Unsere Ruppiner Tage · · 3 – Unsere Übersiedelung nach Swinemünde - Ankunft daselbst · · 4 – Unser Haus, wie wir's vorfanden · · 5 – Unser Haus, wie's wurde · · 6 – Die Stadt, ihre Bewohner und ihre Honoratioren · · 7 – Die Schönebergs und die Scherenbergs · · 8 – Die Krauses · · 9 – Wie wir in unserem Hause lebten - Sommer- und Herbsttage - Schlacht- und Backfest · · 10 – Wie wir in unserem Hause lebten (Fortsetzung) - »Große Gesellschaft« · · 11 – Was wir in Haus und Stadt erlebten · · 12 – Was wir in der Welt erlebten · · 13 – Wie wir in die Schule gingen und lernten · · 14 – Wie wir erzogen wurden - Wie wir spielten in Haus und Hof · · 15 – Wie wir draußen spielten, an Strom und Strand · · 16 – Vierzig Jahre später ·  17 – Allerlei Gewölk · · 18 – Das letzte Halbjahr ·

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