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Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)
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Am dritten Sonntage nach dem Erscheinungsfeste.

Röm. 12, 17–21.
17. Vergeltet niemand Böses mit Bösem. Fleißiget euch der Ehrbarkeit gegen jedermann. 18. Ist es möglich, so viel an euch ist, so habt mit allen Menschen Frieden. 19. Rächet euch selber nicht, meine Liebsten, sondern gebet Raum dem Zorn; denn es stehet geschrieben: Die Rache ist mein, Ich will vergelten, spricht der HErr. 20. So nun deinen Feind hungert, so speise ihn; dürstet ihn, so tränke ihn. Wenn du das thust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammlen. 21. Laß dich nicht das Böse überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

 WEnn ich, meine lieben Brüder, die heutige Epistel mit dem heutigen Evangelium in eine Beziehung setzen sollte, so würde mir das nicht ganz leicht werden. Die Epistel handelt ganz vom Adel des| christlichen Benehmens und zeigt denselben hauptsächlich in der Feindesliebe. Dagegen das heutige Evangelium legt uns zwei Heilungen des HErrn JEsu vor, die eines Aussätzigen, geschehen nach gehaltener Bergpredigt, beim Gang vom Berge herab, und die Heilung des gichtbrüchigen Knechtes des Hauptmanns von Kapernaum. Nun ist es zwar allerdings richtig, daß Christi Benehmen bei diesen Heilungen sehr edel ist, ja viel mehr als edel, majestätisch, königlich und göttlich. Auch kann man sagen, Er habe die heilsamen Wunder, von denen im Evangelium die Rede ist, und alle Seine Wunder an Menschen gethan, die man unter die Klasse Seiner Feinde rechnen könnte, obwol sie Ihn suchten und Seine Hilfe begehrten; denn allerdings sind sie ja alle Sünder und widerstreben Ihm alle mit ihren Sünden. Man könnte allenfalls auch noch auf die Priester hinweisen, denen sich der heil gewordene Aussätzige zum Zeugnis vorstellen soll, und könnte besonders in ihnen Feinde sehen, gegen welche JEsus Christus schön und edel handelt.

 Jedoch muß ich gestehn, daß mir diese Annäherungsversuche der beiden Texte zu künstlich und zu gesucht erscheinen, wie sie denn auch aus dem Bestreben hervorgegangen sind, die in der Epistel ausgesprochenen sittlichen Grundsätze im Evangelium wieder zu finden, während es doch würdiger erscheint, den Nachklang des Evangeliums in der Epistel zu suchen. Wollte man nun die letztere Regel festhalten, so könnte man allenfalls das folgende sagen. Im Evangelium erscheinen uns zwei Beispiele eines außerordentlichen Glaubens. Namentlich von dem zweiten sagt der HErr: Er habe solchen Glauben in Israel nicht gefunden. Es würden überhaupt vom Morgen und Abend viele Heiden kommen und mit den Erzvätern des heiligen Volkes im Himmelreich sitzen, während die geborenen Kinder des Reichs, die Israeliten, in die äußerste Hölle verstoßen sein würden. Der HErr zeigt also da, wie der Glaube ein größerer und seligerer Vorzug sei, als die irdische Abstammung der Juden. So wie nun der Glaube im Evangelium höheren Adels ist, als auch die edelste menschliche Abkunft, die von Abraham, Isaak und Jakob; so zeigt auch die Epistel ein adeliges Benehmen, durch welches der Mensch sich als ein Kind des höchsten Vaters ausweist und allen Glanz des Judentums, geschweige des Heidentums überstrahlt.

 Auf diese Weise reichen sich, wie mir scheint, die beiden Texte die Hände, und ich hoffe durch diese Bemerkungen euch wenigstens in so weit vorbereitet zu haben, daß ihr nun gerne mit mir in den edlen Paradiesgarten der Epistel hineintretet, um seine Früchte zu genießen. Der aufmerksame Hörer kann übrigens bei der Ankündigung meines Thema’s oder vielmehr des Thema’s unsres Textes sich ein wenig befremdet gefühlt haben, weil er vielleicht nicht auf der Stelle erkannte, wie ich sagen konnte, der Text handle vom Adel des christlichen Benehmens, da doch beim Verlesen desselben gewis keine Sylbe vom Adel des Benehmens, von edlem oder schönem Benehmen redet. Dieses Befremden wird auch dadurch keineswegs gemindert werden, daß ich euch die Worte anzeige, in denen ich, obgleich sie nicht völlig am Anfang des Textes stehen, sein Thema finde. Es sind nemlich diese „fleißiget euch der Ehrbarkeit gegen jedermann.“ Indes ist mir doch so wenig bange, mich vor euch zu rechtfertigen, daß ich es sogar wage, für einen Augenblick das Befremden noch zu verstärken, indem ich euch dicht neben der schon gelesenen Stelle eine andre lese und als eine Parallelstelle dem Wort und Sinne nach bezeichne, an welcher ihr vielleicht nicht so gar schnell das Parallele, Aehnliche, ja Gleiche findet. Die Stelle, welche ich meine, findet sich 2 Cor. 8, 21 und lautet so: „Wir sehen darauf, daß es redlich zugehe, nicht allein vor dem HErrn, sondern auch vor den Menschen.“ Das Wort, welches Martin Luther in unserm Texte mit Ehrbarkeit, in der Parallelstelle aber mit redlich übersetzt, ist nemlich eben das, welches man in dem neueren Deutsch mit edel oder geradezu mit schön übersetzen würde. „Fleißiget euch des Edlen gegen alle Menschen,“ lautete darnach unser Text, und seine Parallelstelle 2 Cor. 8, 21: „Wir fleißigen uns des Edlen, nicht allein gegen den HErrn, sondern auch gegen Menschen.“ Bei dieser getreuen Uebersetzung werdet ihr nun allerdings einsehen, meine lieben Brüder, daß die beiden Stellen nach Wort und Inhalt parallel sind, und mir bei einem Blicke über den Text hin vielleicht Recht geben, wenn ich die bezeichnete Stelle für die allgemeine nehme, und alles Uebrige| diesem Hauptgedanken untergeordnet finde. Es ist doch auch in Wahrheit so: der Apostel zeigt in unserm Texte das wahrhaft Edle und Schöne des christlichen Benehmens in der Feindesliebe. Die Feindesliebe gibt ihm zur allgemeinen Ermahnung das hohe, mächtig anziehende Beispiel. 2 Cor. 8 ist es ein anderes Beispiel, das er vorlegt, nemlich das wahrhaft edle Benehmen im Betreff der Verwaltung fremder Güter. St. Paulus hat dort für die Heiligen in Palästina eine Collecte gesammelt; sie ist groß und reichlich ausgefallen, und nun wendet er allen Fleiß daran, die gesammelte Summe auf die öffentlichste, der Ueberwachung und Rechenschaft zugänglichste Weise an ihren Ort zu bringen. Er könnte doch jedenfalls das Vertrauen der Gemeinde in Anspruch nehmen, aber das thut er nicht; er wählt nicht das Verfahren, bei welchem die andern die Gelegenheit haben, sich ihm gegenüber edel und vertrauensvoll zu beweisen, sondern das demüthigste, mühevollste, bei aller Anspruchslosigkeit aber sicherste und geschickteste, um vor aller Augen sich zu bewähren. Ich gestehe es euch, meine lieben Brüder, daß es mir eine wahre Freude ist, vom edlen Benehmen nach Gottes Wort mit euch zu sprechen. Ich finde es ganz richtig, wenn man sich protestantischerseits geweigert hat, über die Gebote Gottes noch evangelische Räthe stellen, die zu einer höhern Vollkommenheit führen sollen. Es müßen alle das gleiche Ziel der Vollkommenheit haben, man kann nicht bei einem mit der minderen Stufe zufrieden sein, während man von dem andern das höhere verlangt; ein solcher Unterschied, wenigstens so fern er unter den Menschen eine niedrigere und höhere Klasse setzte, käme doch nicht aus der Liebe, die da weiß, daß wir alle von Einem Schöpfer stammen und zu Einem ewigen Vaterhaus berufen sind. Auf der andern Seite aber ist es doch wahr, daß die innere geistliche Stufe der Menschen eine sehr verschiedene ist, nicht weil es der HErr im Himmel so haben will, sondern weil es durch der Menschen Verschulden so geworden ist. Wer könnte es denn leugnen, daß es unter den Menschen, so wie sie sind, geringere und bedeutendere, niedriger und edler gesinnte gibt? Kann man doch nicht einmal leugnen, daß manche so gewohnt sind, mit dem Geringen und Unedlen sich genügen zu laßen, daß sie sich sogar schämen, zu einer höheren Stufe oder geistigeren und geistlicheren Bildung vorzuschreiten; daß sie sich mit einer gewissen Scham weigern von den Lagern der Niederträchtigkeit aufzustehen und das Edlere zu suchen. So bleibt der Landmann in unsern Gegenden, wenn er längst schon christlich geworden ist, und der Geist in ihm wohnt, dennoch unbeweglich im Schmutze seines Hauses und Haushalts, in der Unbeholfenheit seiner Sitte und Geberde und in der abscheulichen Aussprache und Betonung seines von Gott geschenkten schönen Dialectes. Er schämt sich der Reinlichkeit, der angenehmeren Sitte und Geberde und der richtigen Aussprache seines Dialectes, und erklärt es geradezu für Hochmut, wenn einer die angeerbte und anerzogne verderbte Weise der Väter gegen das Edle und Schöne eintauscht. Keusch, ehrlich und treu läßt er sich durch’s Evangelium machen, sich aber auch zum edleren Wesen und heiliger Bildung fortführen zu laßen, weigert er sich in verkehrter Demut. Er gleicht darinnen den Indianern Nordamerikas, die sich dem Geiste JEsu Christi, welcher sittlich umgestaltet, oft nicht entziehen, aber aus ihrem rohen Naturzustande zu dem edleren Leben der christlichen civilisirten Völker sich so ungerne erheben laßen, daß sie sich lieber mit ihren Büffeln und Schlangen immer weiter nach Westen zurückziehen, als daß sie dem Zuge nachgeben, der sie ergreifen und den christlichen Völkern des Ostens ähnlich machen will. Und doch sagt der Apostel, also der Geist Gottes, daß man sich eines edlen Benehmens gegen Gott und Menschen fleißigen solle, und es kann daher gewis nicht christlich, nicht Gotte wolgefällig sein, wenn man sich selbst eine Grenze und Stufe setzen will, bis zu welcher man dem Geiste Gottes zu folgen entschloßen ist, anstatt sich ihm rücksichtslos zu übergeben. Es wäre mir unlieb, meine theuren Freunde, wenn ihr aus meinen Reden schließen wolltet, daß es mein Wunsch sei, der Landmann möge die Sitten des Städters an sich nehmen. Da ich beiderlei Sitten kenne, lobe und tadle ich am Ende beide in gleichem Maße. Ja in manchem Betracht finde ich die Sitte des Städters unedler als die eurige, und habe mich je und je dagegen erklärt und gesetzt, wenn ich merkte, wie allmählig das städtische Wesen aufs Land heraus zieht und den Landmann vollends verdirbt. Eure Tracht, eure Lebenseinfalt und Bedürfnislosigkeit, die Zweckmäßigkeit eurer Lebenseinrichtung für euren herrlichen Beruf, eure Sprache und euren Dialect, und| alles, was nach Gottes Willen zwischen euch und euren Nachbarn den Unterschied macht und machen muß, das alles sollt ihr behalten; aber das kann ich nicht wollen, daß ihr es in der niederträchtigen, schmutzigen, linkischen und stöckischen Weise behaltet, wie ihr so häufig thut. Das alles läßt sich behalten und edel führen und wird auch ohne Zweifel verklärt und herrlich werden, so wie ihr euch nur dem Geiste Christi rücksichtslos überlaßet. Der Knecht bei seinen Pferden und am Pflug, die Magd bei ihren Kühen und im Grase, sie können beide durch die Macht göttlicher Gedanken zu jener Art und Weise, und zu jener edlen Einfalt gelangen, welche z. B. die ersten Missionare der Herrnhuter, obwol von Hause aus Handwerker, tüchtig und fähig gemacht hat, in der Könige Häusern sich zum Wolgefallen aller zu bewegen und die Geschäfte des allerhöchsten HErrn in fernen Landen zu führen. Doch bin ich mit alle dem, meine lieben Brüder, eigentlich auf ein anderes Gebiet des Lebens gerathen, als ich wollte; ein vieljähriges Verlangen und der herzliche Wunsch eurer Vollendung hat mich dahin verleitet, während ich doch gar wol weiß, daß ich das Edle im christlichen Benehmen nicht allein in der äußeren Umwandlung zu suchen habe, welche das Christentum auch bei vielen heidnischen Nationen, wenn auch nicht gerade bei den nordamerikanischen Indianern hervorbringt und hervorgebracht hat, also doch auch bei euch muß hervorbringen können. Ich weiß im Gegenteil, daß die äußeren Umwandlungen, von denen ich rede, sehr oft auch da erfolgen, wo nicht das Feuer des göttlichen Geistes vom Himmel gefallen ist, sondern blos die Waßer einer menschlichen Bildung fluthen; es gibt höhere Beweise von dem verklärenden und den Adel der menschlichen Natur wieder herstellenden Geiste des Christentums. Ich nenne euch z. B. mit zweien Worten einen großen Unterschied; die Worte heißen: gerecht und billig. Es kann einer gerecht sein, aber in der Ausübung seiner Gerechtigkeit ein roher Mensch, ein harter Mensch, ein abscheulicher Mensch, wie man denn im alten Sprüchwort sagt, daß der höchste Grad der Gerechtigkeit die größte Ungerechtigkeit erzeuge. Jeder Christ ehrt das Recht, aber wer immer und allezeit nur nach Rechten fragt, der ist, wie die Erfahrung beweist, kein Gerechter, sondern die Gerechtigkeit tritt in den Dienst der Selbstsucht. Daher ist die Billigkeit edler als die Gerechtigkeit, die Gütigkeit edler als die Billigkeit, die Barmherzigkeit edler als die Gütigkeit, und edler als die genannten Tugenden alle ist die Gnade, das ist die Feindesliebe, die da nicht liebt was liebenswürdig ist, sondern den Triumph der Liebe darinnen feiert, daß sie liebt was keine Liebe verdient, nicht Böses mit Bösem vergilt, sondern aufopfernd die Arme um den Dornstrauch schlägt, der sie verletzt hat und mit inbrünstigen Thränen dem verlornen Schafe nachgeht. Und das ist es eben, wovon unser Text heute redet, welcher das Edle im Benehmen in die Feindesliebe setzt, und das allgemeine Wort: „Fleißigt euch des Edlen gegen Jedermann,“ in seiner herrlichsten Anwendung, in der Feindesliebe zeigt. –
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 Es ist ein Stufengang in den Ermahnungen des heutigen Textes zu bemerken, den wir vor uns haben. Wenn derselbe mit den Worten beginnt: „Vergeltet nicht Böses mit Bösem“, oder genauer: Vergeltet niemand Böses mit Bösem; so muß das nicht einmal von Feindesliebe handeln, weil ja derjenige, der mir Böses thut, nicht einmal mein Feind sein muß, nicht notwendig das Böse, welches er mir thut, aus einem feindseligen Herzen und in feindlicher Absicht vollbringen muß. Es ist ja sogar möglich, daß er das Böse nicht einmal für böse, daß er es für etwas Gutes und Rechtes hält. Müßte ich aber auch zugeben, daß bei all diesen Voraussetzungen ein Mensch, der mir Böses thut, doch immer mein Feind sei, und daß ich also Feindesliebe ausübe, wenn ich ihm nicht Gleiches mit Gleichem vergelte; so wird man doch umgekehrt auch mir wieder zugestehen müßen, daß damit nur die erste und allgemeinste Stufe der Feindesliebe angedeutet sei. Der Apostel bestreitet den Wahn, als dürfe ein Mensch allezeit dem andern begegnen, wie ihm begegnet wird, einen Wahn, der in der Welt mit einem gewissen Scheine der Gerechtigkeit sich Geltung verschafft hat, und in allen Klassen der Bevölkerung, in allen Altern und auf allen Lebensstufen zahlreiche Anhänger hat. Nicht das ist die Meinung des HErrn und Seines Geistes, daß wir andre sollen behandeln dürfen, wie sie uns behandeln; sondern das ist die Lehre Christi, daß ein jeder seinen Bruder so behandeln solle, wie er wünschen muß, von ihm behandelt zu werden. Wer dieser Lehre nachlebt, der säet Gutes aus, und das in einer| reinen, Gott wolgefälligen Absicht auch Gutes zu ernten; denn wie kann Einer, der Gutes thut, anders wünschen, als daß ihm auch Gutes geschehe, da er ja sonst wünschen müßte, daß andre Böses thun. So haben wir also hier die erste Stufe der Vermahnung St. Pauli. Nicht Böses mit Bösem vergelten, das ist das erste Zeichen eines Herzens, das sich des Edlen vor allen Menschen befleißigt.

 Wenn nun aber Jemand weiter nichts thun wollte, als das, so bliebe er damit ganz am Anfang des Weges stehen, so daß man auch zweifeln könnte, ob das überhaupt schon ein edles und schönes Benehmen sei. Es könnte ja auch Schwachheit sein, oder berechnende Klugheit, Vorsicht, List, Untreue gegen die eignen Grundsätze u. dgl. mehr, was einen Menschen abhielte, Böses mit Bösem zu vergelten. Es muß daher, nachdem der eine Fuß auf diese erste Stufe der Feindesliebe gesetzt ist, alsbald der andre zur nächsten Stufe greifen, wenn man erkennen soll, daß ein Mensch den edlen Weg der Verläugnung geht. Diese zweite Stufe aber liegt in den Worten ausgesprochen: „Ist es möglich, so viel an euch ist, so habt mit allen Menschen Frieden.“ Hat dir also auch jemand Böses gethan, so darfst du ihn nicht blos deinerseits unangefochten und ohne Erwiederung seines eignen Benehmens und Handelns stehen laßen, du darfst ihn nicht meiden, sondern du mußt, so viel dir möglich ist, mit ihm Frieden halten. Du hast allerdings ganz recht zu glauben, daß in manchem Verhältnis und gegen manchen Menschen dem Worte des Apostels nur dadurch genügt werden kann, daß man sich von ihm scheidet und ihn meidet. Du magst dabei vielleicht gerne auf den Frieden, der zwischen Abraham und Lot bestand, hinweisen. Doch wird die Berufung auf dieses Beispiel nicht völlig statthaft sein. Zwischen den beiden Männern gab es wol ein Scheiden, aber wie sich’s nachher auswies, kein Meiden. Sie hielten nicht den Frieden der lieblosen, grollenden Feindschaft, ihre Scheidung war nicht durch Haß verursacht, sondern im Gegenteil durch Liebe; sie reichten sich nicht allein über die Scheidewand hinüber die Hände, sondern es wandelte auch ein und derselbe Gott und HErr mit Seinen heiligen Engeln zwischen ihnen; und das ist es eben, was ich in den Worten des Apostels ausgesprochen sehe. Er will nicht blos, daß der Christ das Böse nicht erwiedere, sondern daß er Liebe gegen diejenigen übe, die ihm Böses thun, und den Frieden der Liebe baue. Die Liebe soll so vollständig alles Böse und jede Beleidigung in ihren Folgen aufheben und austilgen, daß man mit dem Beleidiger zusammenlebt, als hätte er nicht beleidigt, ja daß man in der Beleidigung einen Grund mehr finden kann, in Liebe und Frieden mit ihm zusammen zu leben. Es läßt sich das allerdings leicht sagen, oft aber sehr schwer üben, auch wenn man selbst in sich den Willen und die Kraft des heiligen Geistes dazu spürt. Der Apostel selbst erkennt und lehrt das; er sagt ja nicht geradezu: habt Frieden mit Jedermann, sondern er leitet die Ermahnung mit den beschränkenden Worten ein: „Ist’s möglich, so viel an euch ist.“ Der Christ soll zu einem solchen Leben der Liebe und des Friedens allerdings Kraft und Willen haben, das liegt in den Worten: „So viel an euch ist“; aber es liegt ja bei Liebe und Frieden nicht blos an einem Teil, sondern mindestens an zweien, ja zuweilen an mehreren. Du kannst mit deinem Beleidiger in Fried und Liebe zu leben bestrebt sein; wie oft aber geschieht es, daß ein Mensch über gar nichts mehr empört wird, und gar nichts so übel nimmt, als wenn der Mensch, den er vielleicht mit Wißen und Willen beleidigt hat, ihm wie ein Engel Gottes in Friede und Liebe entgegenkommt. Es ist ein tödtlicher Stich in’s Fleisch des alten Adams, mit Menschen umzugehen, die man nicht beleidigen, nicht in Unruhe und Aufregung versetzen kann, die bei allem, was man ihnen anthue, doch in ihrem göttlichen heiteren Frieden verharren. Benimm dich nur so, und du wirst’s oft genug inne werden, daß du dafür gehaßt wirst, je klarer und unverkennbarer dem Andern dein heiliger, seliger Zustand in’s Auge tritt. Wer unüberwindlich in Lieb und Frieden ruht, der wird zwar selbst manchen überwinden, und zu Lieb und Friede bringen, zuweilen aber wird er es schon erfahren müßen, daß die Bosheit nichts in der Welt schwerer vergibt, als die Tugend und sich gegen niemand feindseliger abschließt, als gegen die friedfertige Liebe des Christen. Schon daraus kann man erkennen, daß es für einen Menschen ein sehr zweifelhafter Vorwurf ist, zu sagen: er habe Feinde; es kann das ebensowol ein Zeichen sein, daß er von der edelsten und heiligsten Gesinnung durchdrungen ist.

|  Da haben wir nun erst noch kein Wort von jenen großen Gegensätzen gesprochen, welche einmal auf Erden bestehen und bis ans Ende bestehen werden. Du sollst mit allen Menschen Frieden halten, aber die Schrift sagt ja selbst: „Der Welt Freundschaft ist Gottes Feindschaft“; Christus redet von Schwert und Feuer, das Er allenthalben anzünde, und die Kirche ist und bleibt bis ans Ende der Tage eine streitende. Es wird daher dem Christen, je lauterer sein Christentum ist, doch gar oft nicht möglich gemacht werden, gegen alle Menschen im Frieden zu sein; Gott erlaubt es hie und da nicht, und der Friedefürst Christus verwehrt es. Daher man ein liebevolles und friedenreiches Herz vor allen Dingen sammt Willen und Kraft zu Lieb und Frieden haben soll, aber nicht erschrecken, wenn die Dornen des Unfriedens auf allen Wegen emporschießen. Es ist genug, wenn Ursach und Grund des Krieges nicht in dir und deiner Selbstsucht, sondern entweder im Abgrund fremder Herzen, oder im Lichte Gottes liegen. Das von der zweiten, mit der ersten notwendig verbundenen Stufe der Feindesliebe. – Wenn man die dritte Stufe lediglich im Sinne einer Entwicklung nimmt und sich denkt, daß nach dem Frieden halten gegen die Beleidiger nunmehr irgend etwas folgen müße, was noch lieblichere Verklärung als das Wort Friede offenbart, so wird man freilich überrascht, die dritte Stufe mit den Worten bezeichnet zu sehen: „Rächet euch selber nicht, meine Liebsten, sondern gebet Raum dem Zorn, denn es stehet geschrieben: Die Rache ist mein, Ich will vergelten, spricht der HErr.“ Allein, meine lieben Brüder, einerseits kann man sagen, daß die heiligen Schriftsteller nicht eben in der Weise jetziger Theologen geschrieben, wol auch nicht geglaubt haben Besonderes zu thun, wenn sie ihre Gedanken, geschweige ihre praktischen Vermahnungen ängstlich nach dem scheinbar alleine richtigen Stufengang der menschlichen Denkweise einrichteten. Andrerseits aber ist es die Frage, ob nicht gerade eine solche Gesinnung, wie sie in diesem 19. Vers gefordert wird, doch eine Stufe aufwärts ist, und eine höhere Verklärung der Seele verlangt. Es scheint zwar so, als wenn der, welcher in Liebe Frieden hält, geförderter sein müßte im inwendigen Leben, als derjenige, welcher dem Zorne Raum gibt und dem HErrn die Rache überläßt. Aber wir können uns in diesem Scheine schon dadurch irre machen, daß wir an jene berühmte Stelle der Offenbarung Johannis denken (Kap. 6, 9–11), wo die Seelen der um des Wortes Gottes willen Erwürgten unter dem großen Altare der Ewigkeit versammelt sind, mit großer Stimme schreien und sprechen: HErr, Du heiliger und wahrhaftiger, wie lange richtest und rächest Du nicht unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen. Die Seelen der heiligen Märtyrer sind heilig und selig, und was thun, was sagen sie? Sie stellen nicht blos die Rache Dem heim der recht richtet, und spricht: „Die Rache ist mein, Ich will vergelten,“ sondern sie beten um Rache, die Zeit der Rache bleibt ihnen lange aus. Nun wird man doch offenbar zugeben müßen, daß die Seelen der verklärten Märtyrer in einem heiligeren und reineren Zustande sind, als auch der lauterste Christ hier auf Erden. Man liest ja auch, daß der HErr die Seelen keineswegs um ihrer Gebete willen strafte oder sie zurecht wies, sondern daß sie vielmehr von Ihm selbst durch Darreichung eines weißen Kleides ein Zeugnis der Unschuld in ihrem Leiden und Sterben bekamen, bei dem sie sich beruhigen konnten bis zum Tage der allgemeinen Rechtfertigung. Ja man liest, daß Gott ihnen sogar den Grund des Aufschubs der Rache angibt, den nämlich, daß auch die Märtyrer der künftigen Zeiten erst müßten zu ihnen versammelt werden. Daraus sieht man die große Anerkennung, die ihnen und ihrem Gebete von Gott selbst zu Teil wird. Man kann also ein verklärter Geist, man kann selig und heilig sein, und um Rache beten für erlittenes Unrecht. Daraus muß man doch abnehmen, daß Friedfertigkeit, wie sie im 18. Verse unseres Textes gepredigt wird, und eine rachelose Seelenruhe, ja eine Hingabe der Rache in Gottes Hände, ein Gebet um Rache keine Gegensätze bilden und zusammen gehen können. Man wird zwar allerdings, bevor man zugibt, daß hier eine höhere Stufe als der pure Friede des 17. Verses angegeben ist, noch manches aufzuräumen haben. Da erinnert man an das Gebet des Erlösers am Kreuz: „Vater vergib, sie wißen nicht, was sie thun,“ auch an das Gebet Stephani in seinem Tode: „HErr behalte ihnen diese Sünde nicht.“ Beide Gebete wird man schöner finden als das Gebet der Märtyrer um Rache. Dazu kann man aus den Märtyreracten hie und da eine Geschichte anführen,| wo der heimfahrende sterbende Märtyrer mit großem Ernste von der kommenden Rache Gottes über die Tyrannen und Feinde des christlichen Namens predigt, und das in einer Weise, die dem lauschenden Ohre deßen, der die Geschichte lesen hört, keineswegs recht und ganz nach dem Sinne des neuen Testamentes zu sein scheint. Das Gebet um Verzeihung von sterbenden Lippen für die Beleidiger gethan, ist so überaus lieblich und schön, daß man kaum etwas anderes an seiner Stelle haben und hören will. Allein es legt sich doch am Ende alles ganz anders zurecht. Was willst du das Beispiel des sterbenden Hohenpriesters und Gotteslamms anführen, der Seine besonderen Wege geht, auf welchen du Ihm eben so wenig nachfolgen kannst, als der Wurm im Staube dem Adler in den Lüften nachfolgt? Und warum soll Sein Gebet am Kreuze mehr Recht haben, als z. B. Seine gewaltigen Worte vom Gericht und von der Rache, die Er im Bewußtsein der Todesnähe, in der Woche vorher im Tempel, und in den Stunden vorher vor den Hohenpriestern und auf dem Kreuzeswege gesprochen hat? Und warum setzest du das letzte Gebet Stephani nicht in Vergleich mit den gewaltigen, zürnenden Worten, die er vorher nach Apstlg. 7, 51–53. den Juden zugerufen hat, die ihm die Steinigung zu Wege brachten. Und wenn auch manchesmal ein Märtyrer in seinen Leiden dem Geiste des himmlischen Vaters sich entzog, und andere Worte redete, als solche, die ihm eingegeben wurden nach der Verheißung JEsu: hast du denn deshalb die Erlaubnis, jeden Märtyrer, der sterbend Gottes Gericht und kommende Rache verkündigt, zu tadeln und seine Worte hinter die Gebete derer zu setzen, die um Verzeihung für ihre Beleidiger bitten? Ist es doch Ein Geist, der JEsum und Stephanum gewaltig predigen und am Ende für die Beleidiger beten heißt! Kann es doch Ein Geist sein, der den einen Märtyrer zum Fürbitter seiner Feinde, den andern aber zum ernsten Bußprediger macht! Kann doch beides nützen, beides von Segen sein, beides von verschiedenen Personen, beides von einer und derselben Person zu verschiedenen Zeiten, mit reinem Herzen und im reinen Geiste geschehn. Ja ich könnte mir denken, und sehe es ja auch an dem Gebete der Märtyrer unter dem Altare, daß die reinste, gottverlobteste, heiligste Seele glühende Gebete um Rache betet, und das gerade, weil sie alle Dinge, auch die Beleidigungen der eigenen Beleidiger im Lichte Gottes ansieht, völlig eines Willens mit Gott geworden ist, und alles, was Er will, also auch die Rache, mit der innersten Kraft, aus dem tiefsten Grunde ihres Wesens umfaßt. Es ist das allerdings eine cherubinische Verklärung der Seele und eine hohe Stufe, aber eben von der ist ja die Rede, und das ist ja eben die Meinung, daß die Hingabe der Rache in die Hände Deßen, der gesagt hat: „Die Rache ist mein, ich will vergelten,“ eine hohe Stufe des inwendigen Lebens voraussetzt. Du kannst zwar sagen: Ich will es zugeben, daß es eine hohe Lebensstufe sei, ich will mir die Fluchgebete in den Psalmen so zurecht legen, und sie in der Einheit des Willens der Beter mit dem göttlichen Willen und in dem ihnen geschenkten göttlichen Lichte der Offenbarung begründet finden; aber wenn ich auch eine höhere Lebensstufe darinnen finde, so finde ich doch keine höhere Stufe der Feindesliebe, und davon redet ja der Text. Allein, mein Freund und Bruder, vergiß doch nicht, daß keine Rede ist von dem Gebete einer racheschnaubenden Seele, keine von einem Gebete, in welchem sich vielleicht die Rache selbst ausspricht und sich eben damit in ihrer häßlichsten Form offenbart. Die Seele, welche die Rache Gott anheim stellt, ist zugleich eine solche, die ohne alle persönliche und fleischliche Rachsucht ist. Sie rächt sich selbst nicht; sie ist nicht schnell zu Rede und Zorn; sie gibt dem Zorne Raum, dem eignen, unter Bußethränen zu verrauchen, dem Zorne Gottes, Seine Zeit und Stunde einzuhalten; sie weiß, daß die Rache Gottes ist, sie setzt sich nie an Gottes Stelle, des alleinigen Rächers, sie rächt sich nicht und eifert auch nicht in Seinem Namen; sie ist ganz stille zum Gotte ihres Lebens, sie kann auch zu Ihm um Vergebung beten, die höchste Geduld und Mildigkeit üben, bei den empfindlichsten Beleidigungen die eigne Sache zu führen unterlaßen, kein Recht vor Menschen suchen, ja wie wir bald sehen werden, dem Feinde wohlthun. Schon nach dem Gesagten kannst du’s faßen, daß eine solche Gesinnung nicht blos eine hohe Stufe des geistlichen Lebens überhaupt, sondern auch der Feindesliebe insbesondere voraussetzt. Dazu kommt noch ein weiteres. Frage dich einmal, was im Menschen ist, der diese Gesinnung im Herzen trägt, die Rachsucht tödtet und jene Geduld wirkt, die dem Zorne Raum läßt? Du wirst doch nicht der Meinung| sein, daß es der Natur zuzuschreiben sei, oder dem Temperamente, wenn einer von Natur keine Reizung zur Rache hat; weil er phlegmatisch, stumpf und fühllos ist, übt er doch keine Tugend! Was überwindet er denn, wenn ihn nichts anficht? In welchem Streit wird er Herr, wenn gar kein Streit da ist? Von der phlegmatischen Ruhe bei Beleidigungen ist ja gar keine Rede. Es ist im Gegentheil von solchen Herzen die Rede, die die Beleidigung spüren, nach langem Friedehalten gegen immerwährende Beleidigungen die Reizung in sich finden, derselben müde zu werden, die Versuchung zur Rache fühlen, und eine Lockung, das Böse mit Bösem zu vergelten. Sie thun es aber nicht, es regiert der HErr in ihnen; sie rächen sich nicht, es drängt und brennt sie nicht, wieder heimzugeben, wie sie empfangen haben, sie stellen Gott die Rache heim und beten zugleich für den Beleidiger. – Setz dich einmal in den Fall, daß du es so machen solltest. Denke an die vielleicht unzähligen Fälle, in welchen dich der Geist Gottes einlädt, so zu handeln. Frag dich, ob du so handelst, und warum du es weder thust, noch kannst, warum dir das Herz schwillt, wenn es lang her geht mit der Beleidigung, warum du so aufgeregt wirst, daß du vor Unmuth schiltst und schmähst und drohst und fluchst, und weder eßen noch schlafen kannst? Feindesliebe ist es doch nicht; wohl aber kannst du merken, daß das entgegen gesetzte Benehmen in der That Liebe ist, Feindesliebe einer leidenschaftlosen, verklärten Seele, die nicht blos nach dem 17. Vers Frieden hält, wenn sie den Feind in Liebe überwinden kann, sondern auch entschloßen ist, willig und kräftig jeder Reizung zu Zorn und Rache zu widerstreben und des Feindes bitterste Unart hinzunehmen, ohne ihm Gleiches mit Gleichem zu vergelten und ihm den Segen des edlen Beispiels zu verkümmern, das sie ihm gibt. Uebrigens dürfen wir auch nicht vergeßen, daß der Zusammenhang unsers Kapitels uns anleitet, unter den Beleidigungen, die zum Zorne und zur Rache reizen könnten, uns zunächst nicht solche zu denken, die einem jeden im menschlichen Leben begegnen. Es ist wohl von Beleidigungen der Heiden gegen die Christen, der Feinde des Evangeliums gegen die Kinder Gottes die Rede, vom Leiden der Verfolgten, der Confessoren und Märtyrer, vom schwersten Unrecht, von Ertragung der schmählichsten, schmerzlichsten Pein. Dahinein muß man sich denken, um den vollen Eindruck des Verses und all die Hochachtung vor einem Menschen zu bekommen, der kann und will und thut, was St. Paulus im 19. Vers verlangt. Auf diesem Wege wird man sicher auch finden, wie ungemein edel und schön das Verhalten eines solchen Menschen ist, und wie aus dem Brunnen solcher Ruh und Liebe das kommen kann, was wir im 20. Vers von einer neuen Stufe der Feindesliebe lesen. Wer nicht die Werke des 19. Verses in selbstsuchtloser Liebe üben kann, der wird, denke ich mir, auch am zwanzigsten Verse zu Schanden werden.
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 Dieser zwanzigste Vers deutet uns die vierte Stufe der Feindesliebe. Nicht Böses mit Bösem vergelten, – so viel an uns liegt Frieden halten, – sich nicht erbittern laßen zur Rache, diese drei Stufen sind doch sämmtlich von der Art, daß man sich die Möglichkeit denken kann, der Feind merke gar nicht, was ihm alles geschieht. Auch auf diesen dreien Stufen ist allerdings das Aeußere des Menschen ein Spiegel des Innern, und wer die Werke dieser drei Stufen übt, läßt gewis ein heiliges Licht von sich leuchten. Doch strahlt dies Licht mehr unwillkürlich aus dem lichten, liebevollen Herzen, es gehören Augen dazu, es zu bemerken, wie sie in der Regel ein Feind nicht hat, und überhaupt geht die Uebung der drei genannten Verse hauptsächlich im Innern des Herzens vor sich. Dagegen aber tritt nun die Feindesliebe nach dem 20. Verse heraus in die Oeffentlichkeit und auf freien Plan, und zwar in einer Weise, zu deren Lob und Preis das alte mit dem neuen Testamente sich vereinigt, und ganz dieselben Worte gebraucht. „So nun deinen Feind hungert, so speise ihn, dürstet ihn, so tränke ihn, denn wenn du das thust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln.“ So sagt St. Paulus, und ebenso ganz mit denselben Worten sagt das alte Testament Spr. S. 25, 21. 22. St. Paulus entlehnt ganz offenbar die Worte aus dem alten Testament. So ist uns also die thätige Feindesliebe, die vierte Stufe, mit doppelter Kraft empfohlen, und wir können uns in der That nicht eher die wahre Feindesliebe zuschreiben, bis wir auch diese Stufe unter den Füßen haben. Bist du im Herzen ein Freund deines Feindes, so sei es auch mit der That; fehlt die That, so fehlt dir vielleicht auch das Herz. Kannst du dich nicht überwinden,| deinem Feinde zu nahen und persönlich mit ihm umzugehen, ihn zum Gegenstande deiner Liebeswerke zu machen, so wird dir kein Mensch glauben, daß dein Herz zu ihm stehe, jedermann wird sagen: deine gegentheiligen Versicherungen seien Heuchelei und Gleißnerei. Man muß die Macht über sich selber haben, wenn das Herz in Fried und Liebe steht; man muß den Blick, die Zunge mühelos bewegen können, zur Sanftmuth und Güte, zum Verzeihen und Vergeßen; die Last, die einem der Feind durch sein Unrecht auferlegt hat, muß abgeworfen werden können, sonst ist auch das rechte innere Leben nicht da. Wer so hochmüthig ist, daß er mit seinem Feinde nicht verhandeln mag, sondern sein Leid und seinen Grimm in sich frißt, und an seinem Unmuthe kaut, der sage nur nicht, daß er die Worte seines HErrn verstanden habe, und Seinem Willen gleichförmig geworden sei. Es muß dir leicht gehen, dem Feinde zu nahen, und ein friedfertiges Benehmen muß dir süß sein, eine heilige Lebenspflicht, die du nicht fliehst, sondern suchst. Gott und Menschen freuen sich noch nach Jahrtausenden über den König David, der seinem Todfeinde Saul, und zwar unter welchen Ungerechtigkeiten und Beleidigungen! allezeit ein süßes Herz bewahrte und ihm mühelos Fried und gute Werke bot. Dagegen ist der König Saul, und wer Irgend gleich ihm die Feindschaft liebte, weder Gott noch Menschen zur Freude, und sogar die Welt, so verderbt sie ist, stimmt darin mit Gott überein, daß Feindesliebe schön sei. Selbst wo man den Haß und die Vergeltung für Recht gehalten hat oder hält, und die Rache vertheidigt, wird dennoch der Muth fehlen, zu behaupten, daß der Haß schöner sei, oder auch nur gleich schön, wie die Feindesliebe; so unverkennbar hohen Adels ist die letztere. Uebrigens lehrt uns die heilige Schrift nicht blos im Allgemeinen die thätige Feindesliebe, sondern sie lehrt uns dieselbe in Beispielen, die besonders lieblich sind, zugleich aber auch anzeigen, wie weit der Mensch in dieser Liebe gehen müße. Man findet dies, wenn man es mit den Worten des 20. Verses in unserm Texte genau nimmt. Der selige Prälat Bengel bedient sich einmal des Ausdrucks: „Man müße die Worte der heiligen Schrift preßen“; er empfiehlt damit eine Kunst, in welcher er selber Meister ist, und wer sich dieselbe aneignet, hat von ihr süßen Lohn. Nicht bloß wird dadurch mancher, außerdem verhüllte Gedanke Gottes an’s Tageslicht gefördert, sondern mancher, der offenbar liegt vor jedermanns Augen, bekommt dadurch neue Schönheit, Form und Glanz. So ist es auch bei einer genauen Betrachtung unsres Textes. „So nun deinen Feind hungert, so speise ihn, dürstet ihn, so tränke ihn“; so spricht der Apostel. Nimmst du seine Worte so wie sie stehen, so kannst du sie nicht zunächst so faßen, als solltest du irgend wie aus der Ferne her für die Bedürfnisse deines Feindes sorgen; du sollst für seine Bedürfnisse sorgen, aber sie auch persönlich stillen, Speise und Trank schaffen, und ihm dieselben reichen, ja in dem griechischen Worte, welches St. Paulus für das alttestamentliche gebraucht, liegt der Sinn: du sollest deinem Feinde die Speise klein machen und ihn bißenweise speisen und nähren, wie eine Mutter das Kind, oder eine Krankenpflegerin den matten schwachen Kranken nährt. Da sieht man also die Feindesliebe in der Gesellschaft des Feindes als eine Schwester, eine Pflegerin, eine Mutter des Feindes stehen, und in vergnügter Ruhe Kosten, Zeit, Mühe und Sorgfalt an denjenigen wenden, der von alle dem nichts verdient hat als das Gegentheil.
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 Schöner könnte dir allerdings die Feindesliebe nicht dargestellt werden. Was für ein Bild soll schöner sein, als: die Liebe eine mütterliche Nährerin und Pflegerin des Feindes? Kein schöneres Bild, aber auch kein beschämenderes für denjenigen, der so etwas nie vermocht und nie gethan hat. – Jedoch sind wir noch nicht völlig mit dem Verse am Ende, sondern die Feindesliebe im Dienst der Barmherzigkeit muß uns noch erst in ihrer heiligen Absicht gezeigt werden, und in der Verheißung, die ihr gegeben ist; dann erst sehen wir sie in ihrem ganzen Glanze. Die Absicht und Verheißung liegt aber in den Worten: „So du das thust, wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln.“ Was die Verheißung des HErrn ist, soll auch die heilige demuthsvolle Absicht des Christen bei seiner thätigen Feindesliebe sein. Was Gott darbeut, nach dem soll man sich auch ausstrecken und es ergreifen. Um aber das recht zu thun, um die Verheißung recht zu ergreifen und nach ihr zu ringen, muß man sie vor allem recht verstehn. Darum wir uns die Frage lösen wollen, was doch die Worte bedeuten sollen: „So du das thust, wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln.“ Kohlen aufs| Haupt – wer wird sich die wünschen? Sie können nicht wohl thun, sie müßen schmerzlich wehe thun. Dazu heißt es: Kohlen aufs Haupt sammeln, häufen, wie eine glühende Last, die sich immer mehr erhitzt und die Schmerzen des Hauptes also nothwendig immer empfindlicher machen muß. Wenn also gleich die Feindesliebe dem Feinde nur Wolthaten erweist, so werden die Wolthaten dennoch mit feurigen, brennenden Kohlen verglichen, und die Wolthaten verursachen also Schmerzen. Sie sind und bleiben Wolthaten, die unter andern Umständen keineswegs schmerzen, dem aber Schmerzen bereiten sollen, der sie als Feind aus der Hand der Feindesliebe empfängt. Die Schmerzen, welche die Wolthat verursacht, sind von Gott gewollt, gewollt zu einer heiligen Absicht, um der Rettung willen des Menschen, über welchen sie kommt. Wie die Kohlen nicht auf die Hand, sondern aufs Haupt gedacht werden, so sollen auch die Wolthaten der Feindesliebe dem ungebeugten Feindeshaupte Schmerzen verursachen, nemlich Schmerzen des reuevollen Andenkens und bitteren bußfertigen Ueberlegens und Insichgehens. Die Wolthaten, die dem Feinde zukommen, müßen ihm unwiderstehliche Beweise gegen den satanischen Irrtum sein, in dem er gefangen war, nemlich den als Feind behandelt zu haben, der sich doch als treuster Freund und hingebendster Versorger und Pfleger erweist, den Hungernden speist, den Dürstenden tränkt. Eine solche gewaltige Zurechtweisung soll nach des HErrn Verheißung auch auf den eine Wirkung ausüben, der eines harten Herzens ist. Selbst wenn er sich die Last der glühenden Kohlen umsonst brennen und schmerzen läßt, so soll doch in seinem Herzen die Feindesliebe in ihrer Glorie offenbart und der Mensch vor seinen Augen gerechtfertigt werden, welcher sie erweist. Die Wolthaten der Feindesliebe sollen wo möglich ein rettendes Zeugnis, wenn aber das nicht, so doch ein Zeugnis über und wider das harte Herz ablegen, dem sie erwiesen werden. Das werden sie auch, denn sie sollen es nach Gottes Wort, und die feurige Sprache der Feindesliebe soll und muß verstanden werden von allen, denen sie ein Christ erweist. Ob das Herz bricht, auf deßen Haupte die Kohlen brennen, das ist eine andre Frage; ob der Mensch den Feuerzeichen Gehorsam leistet oder nicht, das ist seine Sache; aber deutlich, mit feuriger Schrift, unwiderstehlich wirkt jedenfalls die edle Feindesliebe auch auf ein hartes Herz. Das verheißt Gott, und der reine Wille der Heiligen Gottes ergreift die Verheißung und drängt nach demselben Ziele. Die Feindesliebe thut allerdings sich selbst eine Genüge, indem sie den Feind speist und tränkt; aber sie gibt sich mit dieser Genüge nicht selbstsüchtig zufrieden, sondern sie will mehr, eben weil sie eine wahre Liebe ist, und darum Einwirkung auf andre und Verbindung mit andern sucht. Sie will retten, und im Fall sie nicht retten kann, so will sie doch den Rettungsversuch machen und wo möglich dem Satan die Seele des Feindes entreißen; da das ohne Buße nicht sein kann, und die Buße nicht ohne Schmerzen, so will die Liebe auch die Schmerzen deßen, den sie liebt, und scheut die Mittel nicht, sie hervor zu rufen. Die Mittel aber sind ja eben Wolthaten, nicht Schwerter und Spieße, süße Liebesäußerungen, nicht Hohn und Spott, – und wenn nun diese wehe thun, hitzen und brennen, so kann man sich dabei desto eher beruhigen, theils weil die Hitze nicht in der Absicht liegt, theils weil die süße Labung und edle Wirkung, die rechte Folge der Wolthat, hernach kommt. – Da siehst du nun also die Feindesliebe absichtsvoll stehen, und gute Werke wirken; du siehst die Liebe in ihrer schönsten Gestalt, denn die absichtsvolle Liebe, wenn ihre Absicht groß und heilig ist, ist schöner als die absichtslose Liebe; diese ist nicht heiliger als jene, weil sie dem bloßen Triebe folgt, auch nicht einfältiger deshalb, weil sie gar nichts will als sich äußern, sondern eben weil sie nicht genug daran hat, sich selbst das Vergnügen zu machen, das in der Wolthat liegt, eben weil sie das Beste des Feindes so eifrig sucht, erweist sie sich als die heilige einfältige Tochter jener göttlichen Liebe, von welcher geschrieben steht: „Weißest du nicht, daß dich Gottes Güte zur Buße leitet?“.
 Erinnert ihr euch, meine lieben Brüder, wie unser Text begonnen hat? „Vergeltet Niemand Böses mit Bösem,“ und wie schließt er? „Laß dich nicht das Böse überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ Der Schluß kehrt mit Nachdruck zum Anfang zurück, und wiederholt ihn in derjenigen Form, welche nach Darlegung einer vierfachen Stufe der Feindesliebe völlig gerechtfertigt erscheint. Wohl ist| es wahr, daß alle guten Früchte nicht Erzeugnisse eines Kampfes sind, sondern die stille Wirkung einer innern, übernatürlichen Gnade. Der Trieb und das Werk des heiligen Geistes ist still, und wie die Blüten und Früchte geräuschlos wachsen, so offenbart sich alles Gute im Frieden. Aber der Mensch trägt seine alte Natur noch in sich: und wie sich Gottes Geist in der neuen kund gibt und zur Verklärung treibt, so vereinigt sich der Geist der Bosheit oftmals mit der alten Natur, regt alle bösen, niedern Kräfte derselben auf, legt sich dem Fortschritt der Verklärung in den Weg und erzeugt in uns einen Kampf und Streit, so daß die friedevollen Früchte der Gerechtigkeit nicht kampf- und mühelos wachsen und reifen können. Und weil das so ist, so tritt der HErr hilfreich in unsern Kampf ein, und ruft uns durch seinen Apostel zu: „Laß dich nicht das Böse überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

 Wer im Falle des Kampfes, wenn ihn der Satan zur eignen Rache und grimmigen Festhaltung der Feindschaft zu reizen sucht, je einmal durch einen Seelsorger oder Freund zur rechten Stunde das apostolische Wort zur Beständigkeit und Treue vernommen hat, der weiß auch, was so ein gewaltiges Wort für eine Hilfe thut. Und wer je die Hilfe gehorsamlich angenommen und sich der Liebe zugeneigt und die Reizung des Bösen überwunden hat, der weiß auch, was für ein süßes, himmlisches Leben es ist, das zu können, und in solcher Uebung zu stehen. Wenn man von irgend einem guten Werke sagen kann, was Jakobus in seinem Briefe Kap. 1, 25 überhaupt von dem Gehorsam des göttlichen Wortes sagt, nemlich, „daß man „selig“ ist in seiner That“; so kann man es von den Werken der Feindesliebe sagen. Der Friede Gottes geht mit denen, die ihre Feinde lieben. Und eine Freudigkeit zu Gott sammt Lust und Muth zu Ihm, durchdringt die Seele deßen, der sich den finstern Mächten des Zornes und der Feindschaft entwindet, und unbekümmert um Dank und Undank mit seinen Feinden den liebevollen Weg geht, den Gott mit uns einschlägt, gnädig und hold ist den armen Beleidigern, so lang noch in ihnen der Geist ist, und der Odem ein- und ausgeht.

 So lange ich unter euch predige und des HErrn Werk treibe, habe ich immer die Erfahrung gemacht, daß ich von zweien Tugenden nicht reden kann, ohne daß mir das Herz warm wird, und meine Seele lebendig wird. Die beiden Tugenden sind: die Liebe zu den Eltern und die zu den Feinden. Und wenn ich von wegen der elenden Art, die mir anhängt, dem heiligen Zorne selten zugänglich gewesen bin, und ich mir die träge Nachläßigkeit und Gleichgiltigkeit vielfach vorzuwerfen habe, so hat michs doch oft wie Zorn und Feuer durchzuckt, wenn ich gottlose Kinder vor mir sah, oder ein Zeuge sein mußte von der verdammten höllischen Lust der Feindschaft und der wilden Rachbegier, die euch so oft um der nichtswürdigsten Ursachen willen ergreift. Ihr, von Jugend auf genährt und groß gezogen durch die Gnade Deßen, den ihr stündlich mit euren Sünden beleidigt, in der ununterbrochenen Erfahrung der himmlischen Feindesliebe des Dreieinigen, lernt so gar wenig vom Beispiel eures HErrn und Gottes, grollet und murret, scheltet und streitet, haßet und neidet, und prozeßiret und kämpfet und brennet in dem höllischen Feuer eures Grimms und eurer Bosheit bei jedem kleinen Anlaß. Wie wenn es ein Glück wäre, im höllischen Feuer zu brennen, taumelt ihr ein ums andermal hinein, lebet in einer beständigen Aufregung, werdet dabei immer mismuthiger, unglücklicher, boshafter und schlechter, verläugnet und verlieret endlich alles Gefühl für den Adel der Sanftmuth und Demuth, die Christo nach, willig untergeht, um dermaleins mit Früchten der Bekehrung und Rettung andrer wieder aufzustehn. „Sanftmuth sieget, Demuth überwindet“ – eine Wahrheit, die man in der ganzen Kirche singt und sagt! Und ihr nehmet sie nicht an, sondern ihr liebet die Werke der rohen, boshaften Finsternis mehr, denn das Licht. Kraft des mir zustehenden Amtes, im Namen des HErrn, der für euch geblutet, und eure Seelen erkauft hat, ermahne ich euch hiemit zum Gehorsam gegen Gottes Wort und warne euch vor den zeitlichen und ewigen Folgen des Ungehorsams. Der HErr stehet und richtet; seinem Gedächtnis entfällt nichts, er ahndet alte Schulden und Sünden. Wagt es mit Ihm nicht; es ist Wahnsinn, wider Gott zu streiten. Da der Geist des HErrn und Seine Gabe in uns ist von der Taufe her, und die Stimme des göttlichen Wortes sie aufweckt und ihre Brunnen öffnet, so können wir, was wir von Natur nicht können, nemlich Gutes thun. So laßet uns also Gutes thun, Gottes Werke wirken, Gottes Wege| gehen, und eilen, daß uns nicht, wenn der HErr kommt, oder wir zu Ihm, das unbarmherzige Gericht überfalle, das über alle unbarmherzigen und harten Seelen kommen wird. –

 Der HErr sei uns armen Sündern gnädig, und schenke uns allen den Adel selbstsuchtsloser Feindesliebe. Amen.




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