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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

reinen, Gott wolgefälligen Absicht auch Gutes zu ernten; denn wie kann Einer, der Gutes thut, anders wünschen, als daß ihm auch Gutes geschehe, da er ja sonst wünschen müßte, daß andre Böses thun. So haben wir also hier die erste Stufe der Vermahnung St. Pauli. Nicht Böses mit Bösem vergelten, das ist das erste Zeichen eines Herzens, das sich des Edlen vor allen Menschen befleißigt.

 Wenn nun aber Jemand weiter nichts thun wollte, als das, so bliebe er damit ganz am Anfang des Weges stehen, so daß man auch zweifeln könnte, ob das überhaupt schon ein edles und schönes Benehmen sei. Es könnte ja auch Schwachheit sein, oder berechnende Klugheit, Vorsicht, List, Untreue gegen die eignen Grundsätze u. dgl. mehr, was einen Menschen abhielte, Böses mit Bösem zu vergelten. Es muß daher, nachdem der eine Fuß auf diese erste Stufe der Feindesliebe gesetzt ist, alsbald der andre zur nächsten Stufe greifen, wenn man erkennen soll, daß ein Mensch den edlen Weg der Verläugnung geht. Diese zweite Stufe aber liegt in den Worten ausgesprochen: „Ist es möglich, so viel an euch ist, so habt mit allen Menschen Frieden.“ Hat dir also auch jemand Böses gethan, so darfst du ihn nicht blos deinerseits unangefochten und ohne Erwiederung seines eignen Benehmens und Handelns stehen laßen, du darfst ihn nicht meiden, sondern du mußt, so viel dir möglich ist, mit ihm Frieden halten. Du hast allerdings ganz recht zu glauben, daß in manchem Verhältnis und gegen manchen Menschen dem Worte des Apostels nur dadurch genügt werden kann, daß man sich von ihm scheidet und ihn meidet. Du magst dabei vielleicht gerne auf den Frieden, der zwischen Abraham und Lot bestand, hinweisen. Doch wird die Berufung auf dieses Beispiel nicht völlig statthaft sein. Zwischen den beiden Männern gab es wol ein Scheiden, aber wie sich’s nachher auswies, kein Meiden. Sie hielten nicht den Frieden der lieblosen, grollenden Feindschaft, ihre Scheidung war nicht durch Haß verursacht, sondern im Gegenteil durch Liebe; sie reichten sich nicht allein über die Scheidewand hinüber die Hände, sondern es wandelte auch ein und derselbe Gott und HErr mit Seinen heiligen Engeln zwischen ihnen; und das ist es eben, was ich in den Worten des Apostels ausgesprochen sehe. Er will nicht blos, daß der Christ das Böse nicht erwiedere, sondern daß er Liebe gegen diejenigen übe, die ihm Böses thun, und den Frieden der Liebe baue. Die Liebe soll so vollständig alles Böse und jede Beleidigung in ihren Folgen aufheben und austilgen, daß man mit dem Beleidiger zusammenlebt, als hätte er nicht beleidigt, ja daß man in der Beleidigung einen Grund mehr finden kann, in Liebe und Frieden mit ihm zusammen zu leben. Es läßt sich das allerdings leicht sagen, oft aber sehr schwer üben, auch wenn man selbst in sich den Willen und die Kraft des heiligen Geistes dazu spürt. Der Apostel selbst erkennt und lehrt das; er sagt ja nicht geradezu: habt Frieden mit Jedermann, sondern er leitet die Ermahnung mit den beschränkenden Worten ein: „Ist’s möglich, so viel an euch ist.“ Der Christ soll zu einem solchen Leben der Liebe und des Friedens allerdings Kraft und Willen haben, das liegt in den Worten: „So viel an euch ist“; aber es liegt ja bei Liebe und Frieden nicht blos an einem Teil, sondern mindestens an zweien, ja zuweilen an mehreren. Du kannst mit deinem Beleidiger in Fried und Liebe zu leben bestrebt sein; wie oft aber geschieht es, daß ein Mensch über gar nichts mehr empört wird, und gar nichts so übel nimmt, als wenn der Mensch, den er vielleicht mit Wißen und Willen beleidigt hat, ihm wie ein Engel Gottes in Friede und Liebe entgegenkommt. Es ist ein tödtlicher Stich in’s Fleisch des alten Adams, mit Menschen umzugehen, die man nicht beleidigen, nicht in Unruhe und Aufregung versetzen kann, die bei allem, was man ihnen anthue, doch in ihrem göttlichen heiteren Frieden verharren. Benimm dich nur so, und du wirst’s oft genug inne werden, daß du dafür gehaßt wirst, je klarer und unverkennbarer dem Andern dein heiliger, seliger Zustand in’s Auge tritt. Wer unüberwindlich in Lieb und Frieden ruht, der wird zwar selbst manchen überwinden, und zu Lieb und Friede bringen, zuweilen aber wird er es schon erfahren müßen, daß die Bosheit nichts in der Welt schwerer vergibt, als die Tugend und sich gegen niemand feindseliger abschließt, als gegen die friedfertige Liebe des Christen. Schon daraus kann man erkennen, daß es für einen Menschen ein sehr zweifelhafter Vorwurf ist, zu sagen: er habe Feinde; es kann das ebensowol ein Zeichen sein, daß er von der edelsten und heiligsten Gesinnung durchdrungen ist.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/118&oldid=- (Version vom 1.8.2018)