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Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)
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Am vierten Sonntage nach dem Erscheinungsfeste.

Römer 13, 8–10.
8. Seid Niemand nichts schuldig, denn daß ihr euch unter einander liebet; denn wer den andern liebet, der hat das Gesetz erfüllet. 9. Denn das da gesagt ist: Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht tödten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis geben; dich soll nichts gelüsten; und so ein ander Gebot mehr ist, das wird in diesem Wort verfaßet: Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst. 10. Die Liebe thut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.

 DAs Evangelium des heutigen Tages handelt vom Schifflein Christi, und von der reichen Hilfe aus der guten Hand Deßen, der auf dem Meere fuhr und im Sturme schlief. Das Herz des Schlafenden war und ist eine Schatzkammer der Liebe und großer Barmherzigkeit, aus welcher zu allen Zeiten alle Bedürftigen ihren Antheil und ihren Segen nehmen konnten. Der HErr war niemanden etwas schuldig, auch keine Liebe; dennoch aber hat Er zu allen Zeiten allen Menschen Liebe erwiesen, wie wenn Ers schuldig gewesen wäre. Man könnte daher in der Liebe, die Er den Seinen auf dem galiläischen See erwies, den Punkt der Anknüpfung und des Zusammenhangs finden, der zwischen Evangelium und Epistel wäre. Allein, welches Evangelium, welche Erzählung aus dem Leben Jesu würde nicht auf diese Weise zu unserer heutigen Epistel paßen? Der HErr ist die Liebe und nach der Liebe sucht man in keinem Seiner Worte und Werke umsonst. Darum spart nur, meine lieben Brüder und Schwestern, den Scharfsinn, der nach dem Zusammenhang der Epiphanien-Evangelien und Episteln forscht, und erinnert euch daran, daß in den Evangelien dieser Sonntage sich der Lebenslauf Christi in seinem herrlichen Gedeihen entfaltet, in den Episteln aber der Lebenslauf und Wandel der Gemeinde. Wie wir in den früheren Festtexten neben der Geburt JEsu die Neugeburt Seiner Braut, neben Seinem Wachstum ihr Wachstum und ihren Eintritt in die Mündigkeit beschauten; so geht nun an Seinem Tagessonnengang der stille Glanz Seiner Gemeinde nebenher wie süßes Mondlicht, und wir gewöhnen uns je länger je mehr, Ihn und sie neben einander zu betrachten.

 Die heutige Epistel insonderheit ist kurz, umfaßt nur drei Verse. Die kurze Epistel handelt nur von einer Sache, von der Liebe, von der Bruderliebe, und auch von dieser nicht in der Wendung und Bewegung vieler Gedanken, sondern im Grunde nur in zweien. Die Liebe erscheint zuerst als des Christen bleibende Schuld; dann wird gezeigt, wie der des Gesetzes Fülle und ganzen Reichtum seinen Brüdern abträgt, welcher die Schuld der Liebe abträgt. Unsre Liebesschuld, und die Fülle des Gesetzes in der Liebe, das ist der Doppelgedanke, welcher unsern Text beherrscht.

 Wenn ich das Auge in diesen Text lenke, so bin ich in Versuchung zu vergeßen, wer ihn geschrieben hat. Ich weiß, daß ihn St. Paulus schrieb, aber ganz Johanneisch haucht er mich an. So verwandt ist der Geist der beiden so sehr verschiedenen heiligen Männer. Es ist euch, meine lieben Brüder, bekannt, daß der heilige Apostel Johannes in seinem hohen Alter seinen „Kindlein“ immer nur Eines predigte. „Kindlein“, sagte er in jeder Versammlung aufs| Neue, „liebet einander“. Fast wurde es den Jüngern zu viel, immer nur das Wort von der Liebe zu hören, und sie fragten daher den greisen Apostel, warum er ihnen denn immer nur das Eine sage. Seine große Antwort war: weil es genug sei, wenn nur das Eine geschehe. Was ist das anders, als unser heutiger Text in einer johanneischen Geschichte? Oder was sagt die Geschichte anders, als daß wir eine bleibende Schuld der Liebe gegeneinander haben, und daß es genug und das Gesetz erfüllt sei, wenn diese Schuld entrichtet wird? So einig also sind über den Inhalt unsres Textes die Apostel, und so gewis können wir also annehmen, ihnen allen zu genügen, wenn wir uns den Inhalt der heutigen Epistel für Herz und Leben aneignen.

 Fast, meine lieben Brüder, ist damit schon der ganze Text klar. Die Liebe wird von niemandem erklärt, so tief und reich ist ihr Wesen, und doch gibt es kein gemeinverständlicheres Wort, als das Wort „Liebe“. Andere Worte bedürfen Erklärung, bei diesem aber findet man sich gleich darüber beruhigt, wenn man schweigt und wenn man redet.

 Unser Text beginnt mit den Worten: „Seid niemand nichts schuldig, es sei denn, daß ihr einander lieb habet.“ Diese Worte, meine Brüder, sind meines Erachtens verwunderlich, nicht bloß rücksichtlich deßen, was sie gestatten und befehlen, sondern auch in Anbetracht desjenigen, was sie verbieten. Ganz überraschend ist es, den apostolischen Ausdruck zu hören: Seid niemand nichts schuldig. Man könnte versuchen, das Wort „schuldig“ allgemein zu deuten, wie wenn es sagen sollte, wozu wir verpflichtet seien, und wozu nicht. Aber wenn man nun übersetzen wollte „Seid niemand zu etwas anderem verpflichtet, als zur Liebe“, so würde man, auch wenn die Uebersetzung sonst möglich wäre, doch gleich merken, daß solch ein Satz kein apostolischer sein könnte. Hat man doch allerdings mehr Pflichten gegen den Nächsten, als blos die Liebe. Man kann daher gar nicht anders als den Satz so nehmen, wie er beim ersten Lesen lautet, also ganz in dem Sinn: Ihr sollt keine andern als Liebesschulden haben. Es beginnt also die heutige Epistel, kann und muß man sagen, mit einem Verbote der Schulden. Da nun aber das ganze zeitliche Leben, der ganze Handel und Wandel auf Erden, mit Kauf und Verkauf, mit Entäußerung und Aneignung von Eigentum durchwebt ist, so kann es auch ohne Borg und Anleihe nicht abgehen. Es ist ohne allen Zweifel richtig, daß Schulden, Geldschulden nicht blos der ehrlichste und sogar frömmste Mann haben kann, sondern daß viele tausend fromme Menschen ohne allen Vorwurf ihres Gewißens, ja ohne Unruhe im Leben und Sterben wirklich Schulden haben. Man kann die Sache noch weiter treiben und sagen: Ein Mensch kann nicht bloß Schulden machen, um sein eignes zeitliches Vermögen aufzubeßern, sondern auch in der Absicht, das Vermögen deßen zu erhalten und aufzubeßern, von dem er leiht. Kurz, es kann so viele verschiedene Fälle geben, in welchen es vollkommen gerechtfertigt ist, Schulden zu haben, daß man durch die apostolischen Worte unsers Textes ganz erschreckt werden könnte. Wenn der Apostel überhaupt und für alle Fälle verbieten wollte, Schulden zu haben oder zu machen, so müßten nicht blos aller Menschen und aller Christen Verhältnisse ganz anders geordnet werden, sondern man müßte auch über die Blindheit der Kirche staunen, die in so langen Jahrhunderten gar nicht gesehen hätte, was der Apostel verbietet, oder über ihren großen Leichtsinn, mit welchem sie sich über ein apostolisches Verbot weggesetzt hätte. Dazu kommen doch noch Zeugnisse genug aus dem alten und neuen Testamente, aus welchen man deutlich erkennen kann, daß der Geist Gottes sonst nicht in der rücksichtslosen gestrengen Weise gegen Schulden eifert. Ich erinnere euch z. B. an die Geschichte von dem Knecht, der seinem Herrn zehntausend Pfund schuldig war, die er nicht zahlen konnte. Er erlangte bekanntlich Vergebung für seine Zahlungsunfähigkeit, keine Vergebung aber für die Unbarmherzigkeit, mit welcher er von seinem Mitknechte die hundert schuldigen Groschen einforderte. Kann man nun allerdings sagen, es sei in dieser Geschichte von Barmherzigkeit und Unbarmherzigkeit die Rede, nicht vom Recht und Unrecht der Schulden; so ist doch zu sehr vom Unrecht der Schulden geschwiegen, und die Forderung nicht der Gerechtigkeit, sondern der Barmherzigkeit eine so gewaltige und starke, daß man wohl sagen kann, der HErr würde in beiden Fällen anders verfahren sein, wenn es überhaupt und in allen Fällen Unrecht wäre Schulden zu haben. Eine ähnliche Bemerkung könnte man aus dem Briefe Pauli an Philemon beibringen. Da| heißt es nemlich im 18. und 19. Verse von Onesimus: „Hat er dir Schaden gethan oder ist er dir etwas schuldig, das rechne mir auf. Ich Paulus hab’s mit eigener Hand geschrieben, ich wills tilgen.“ Nimm diese Verse wie du willst, im Ernst oder im feinen Scherze geschrieben, immerhin ist Paulus im Begriff eine Schuld zu übernehmen und einen Schuldbrief zu schreiben; immerhin geht daraus hervor, daß die heilige Schrift die Auffaßung unseres heutigen Textes nicht begünstigt, nach welcher es in allen Fällen verboten wäre, Schulden zu haben oder zu machen. Es wird daher die richtige Auffaßung sein, wenn wir sagen, der Apostel spricht: „Bleibet niemand etwas schuldig.“ Bei dieser Auffaßung erkennen wir deutlich, daß der Apostel von allen Christen, die Schulden haben, verlangt, daß sie dafür sorgen, und darum bemüht sind, ihren Gläubigern gerecht zu werden. Es kann wohl jemand Schulden haben, aber der Gläubiger soll nicht in Gefahr gebracht werden, sein Eigentum zu verlieren, er soll gedeckt sein. Die Schrift spricht nicht, „Der Gottlose borget“, wie wenn das Borgen schon eine Sünde wäre: sondern sie spricht: „Der Gottlose borget und bezahlet nicht,“ was eins ist mit dem Ausdruck: „Der Gottlose bleibt schuldig.“ Nun ist, es zwar gewis, daß manchmal ein Unglück herein fällt, dem Schuldner es unmöglich macht, zu zahlen, den Gläubiger um das Seine bringt, ohne daß weder dem einen noch dem andern eine Sünde oder Schuld beigemeßen werden kann. Das ist dann eben ein Unglück, für welches dem Schuldner zur Demüthigung ein getroster, stiller Muth, dem Gläubiger aber ein fröhliches, gütiges Verzichten zu wünschen ist. St. Paulus verbietet nicht das Unglück, sondern Sünde und Schuld, und will, daß niemand seinem Nächsten etwas schuldig bleibe aus Leichtsinn, Trägheit, Bosheit oder andern schlechten Gründen. Es soll ein jeder die heiligste, treueste Sorgfalt auf das Eigentum verwenden, das andre bei ihm stehen haben, und seine Rechnung und Wirtschaft also führen, daß er allezeit ruhig sterben, andre aber seinem Tode der Schulden halben ruhig zusehen können. Dabei ist es allerdings keinem unbenommen nach völliger Schuldenfreiheit zu streben. Wo Schulden, da ist oftmals Versuchung zur Sorge und Unruhe, da wächst leicht das Dorngestrüpp, das jede beßere Pflanze erstickt. Ist dir’s also vergönnt, erlaubt es irgend dein Geschäft und Beruf, so mache dich völlig los von Sorgen, von Schulden, und stelle dich so hinein in’s Leben, daß du die Last des Eigentums am leichtesten und fröhlichsten tragen kannst. Denn Eigentum ist Last; viel Eigentum bringt große Last; am glücklichsten und freiesten ist immer der Mensch, der nichts hat und nichts braucht, oder beßer der nichts hat, als was er braucht, am Ende auch nichts braucht, als was er hat. Das war der Weg des HErrn und Seiner Apostel, der auch vielen Heiligen so wohl gefallen hat, daß sie ihn aus eigner Liebe ohne Gottes Gebot und besondere Fügung betraten.
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 Da hätten wir nun, so hoffe ich, verstanden, was das heißt: „Seid niemand nichts schuldig.“ Nun aber heißt der Satz im Texte vollständig: „Seid niemand nichts schuldig, es sei denn, daß ihr euch unter einander lieb habet.“ Was soll das heißen? Sollen und dürfen wir das so verstehen, als sagte der Apostel: „Nichts dürft ihr eurem Nächsten schuldig bleiben, aber die Liebe dürft ihr ihm schuldig bleiben?“ Darf man denn die Liebe schuldig bleiben? Ist die Liebe ein Capital, das nicht uns, sondern andern gehört, so dürfen wir doch nicht inne halten, muthwillig, aus eignem Entschluß, was andern zugehört! Wenn aber das ist, warum sagt dann der Apostel nicht lieber: „Bleibt keinem etwas schuldig, am allerwenigsten die Liebe“; warum sagt er denn: „Bleibt niemand etwas schuldig, als die Liebe“? Weil die Liebe ein so großes Capital ist, daß wir, auch wenn wir immer daran zahlen, nimmer mit der Zahlung fertig werden, immer schuldig bleiben. Wenn der Mensch in die Welt kommt, so hat Gott dafür gesorgt, daß die Liebe, die er schuldig ist und die Ursache der Liebe immer größer wird, und in starken Progressionen dermaßen vorwärts schreitet, daß man diese Schuld auch im Lande der Ewigkeit, wo alle andern Schulden aufhören, nicht los wird, sondern ewig daran zahlen muß. Die Liebe ist für einen jeden eine ewige Schuld, sie zu behalten ist ganz unvermeidlich. Wenn jemand sagen wollte, man sollte keine Liebe schuldig bleiben, keine Liebesschuld mit in die Ewigkeit nehmen, so gäbe er damit schon zu erkennen, daß er weder ein Apostel, noch ein Schüler des apostolischen Glaubens sei. Wer da weiß, wie es um die Liebe gethan ist, der erkennt die Ewigkeit seiner Liebesschulden und ergibt sich mit Freuden darein, immer und ewig zu| zahlen, nimmer und niemals dieser Schulden los zu werden. Eben damit wächst auch seine Zahlungsfähigkeit. Da geht es nicht wie bei Geldschulden, die man oft um so weniger zahlen kann, je mehr man sorget, sondern da kommt durch Erkenntnis der Schuld ein reicher Zufluß an Vermögen; die Erkenntnis der Armuth und Schuldigkeit zieht die Schleußen des Reichtums auf, daß sich die Waßer ergießen. Wer immer schuldig bleibt und immer zahlt, dem wird auch immerzu gegeben, daß er zahlen kann. Da hat Liebe, wer seine Liebesschuld erkennt; wer aber hat, dem wird gegeben, und die Liebe geht so am meisten im Schwange bei denen, die im tiefsten Bewußtsein der Liebesarmuth stehen. Daher ist es eine herrliche, schöne Lehre des Apostels, und wir dürfen sie tief in unsre Seelen schließen, wenn er spricht: „Seid niemand nichts schuldig, denn daß ihr euch unter einander lieb habet.“ Er lehrt uns damit nichts anderes, als daß die Liebe ein reiches, wallendes Meer sei, das nicht blos die Erde, sondern als ein himmlischer Ocean Himmel und Erde, Zeit und Ewigkeit umschlingt.
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 Der Apostel Paulus macht den Uebergang von dem ersten zum zweiten Hauptgedanken des Textes mit dem Wörtchen „denn“. Seid niemand nichts schuldig, spricht er, denn daß ihr euch unter einander lieb habet; „denn der den Andern liebet, hat das Gesetz erfüllt.“ Wozu nun dies „denn“? Es gibt den Grund an, weshalb man dem Nächsten nur die Liebe schuldig bleiben, d. h. immerfort zahlen soll. Der Grund aber beantwortet mögliche Einwürfe. Man konnte ja sagen, der Mensch ist seinem Nächsten nicht blos die Liebe schuldig; die zweite Tafel des Gesetzes enthält sieben Gebote; ja man könnte selbst die drei ersten, wenn man wollte, im Sinne der Pflichten deuten, die wir gegen den Nächsten zu erfüllen haben; der Mensch ist dem Menschen gar vieles schuldig. Auf diesen Einwand antwortet nun der Apostel, indem er sagt: „Wer den andern lieb hat, der hat das Gesetz erfüllt; alle andern Gebote sind in dem einen begriffen, du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst.“ Man zahlt also allerdings alles ab, was man schuldig ist, wenn man die Liebe zahlt. Um so größer und höher erscheint die Liebe selber, und damit wir nun diese Tugend der Tugenden in ihrem vollem Glanze sehen, so laßt uns einmal den Gedanken, mit welchem der Apostel seinen ersten Hauptgedanken von der Liebesschuldigkeit begründet, genauer erwägen. – Wir dürfen hiebei vielleicht auf den doppelten Ausdruck des heiligen Apostels aufmerksam machen, da er zuerst sagt: Wer den andern liebet, hat das Gesetz erfüllt; im 10. Verse aber: Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung, oder, wie es eigentlich heißt: „Fülle des Gesetzes ist die Liebe“. Der doppelte Ausdruck Pauli begründet einen doppelten Gedanken. Wer den andern lieb hat, der erfüllt das Gesetz, er vollstreckt die Gebote, er thut, wie St. Paulus Vers 10 sagt, dem Nächsten kein Uebel, die Liebe leitet ihn an, nicht blos alles zu unterlaßen, was die zweite Tafel des Gesetzes verbietet, weil es böse ist, sondern auch all das Gute zu thun, was als Gegentheil des Verbotenen in die zehn Worte vom Sinai mit eingeschloßen ist. Da erscheint also die Liebe als Vollstreckerin des Gesetzes. Nun könnte aber ein Mensch alle äußern Werke des Gesetzes thun, unsträflich leben, wie St. Paulus 1 Cor. 13 schreibt, seine Habe den Armen zur Speise, seinen Leib den Flammen übergeben, um andre zu retten; dennoch aber könnten bei den außerordentlichsten Anstrengungen seine Werke hohl und ohne Inhalt, er selbst ein tönendes Erz und eine klingende Schelle und innerlich nichts sein; es könnte ihm der Inhalt fehlen, weil er die Liebe nicht hätte. Daher sagt der Apostel: „Fülle des Gesetzes ist die Liebe.“ Da erscheint das gesammte Gesetz und dazu alle äußerliche Gesetzeserfüllung als eine hohle Form, als eine Schale, welche beide leer und werthlos sind, wenn nicht die Liebe als Inhalt hinein gegoßen wird. Während also zuerst die Liebe als die beste Vollstreckerin des Gesetzes erscheint, so sehen wir sie zuletzt als den Inhalt des Gesetzes und aller Thaten, als die süße, selige Fülle aller Lebensformen. Können wir leugnen, daß das eigentlich zwei verschiedene Gedanken sind, und möchten wir einen davon missen? Wird die Liebe das Gesetz vollstrecken, wenn sie nicht Herz und Gesetz zuvor mit ihrem treuen Willen und heiligen Drang erfüllt hat? Kann auch eins ohne das andre nur sein? Könnte man eines wählen, das andre verschmähen? Die Vollstreckung des Gesetzes ist der Leib, und die innere Fülle der Meinung und Absicht, der innere Drang des Wohlwollens ist die Seele der Liebe: kann ich den Leib wählen ohne die Seele, oder die Seele ohne den Leib, muß ich nicht| beides wählen, wenn ich eines will, und kann ich anders als beides bekommen, wenn ich eines bekomme? So kann und darf und soll ich wohl mit den Gedanken beides scheiden, Leib und Seele, aber auch beides vereinen in meiner Begier, beides lieben und wünschen.

 Es sind aber allerdings die beiden Gedanken sehr werth und würdig, gesondert betrachtet zu werden. Wenn wir die Sonderung vorgenommen haben, wird uns die Vereinigung desto beßer gelingen, daher wir auch die nöthige Zeit und Aufmerksamkeit den beiden Gedanken noch zukehren wollen.

 Die Liebe ist eine Vollstreckerin der Gebote und zwar eine solche, die schon aus Gründen der Nächstenliebe zu dem HErrn spricht: „Dein Joch ist sanft und deine Last ist leicht.“ David wandelt auf der Höhe seiner Burg, unbewachten Gemüthes; in ihm regt sich die böse Lust, und der heilige große König geräth in Widerstreit gegen das ihm wohlbekannte sechste Wort vom Sinai. „Du sollst nicht ehebrechen,“ spricht dies Wort. Regt sich in Davids Seele die Liebe zu Gott dem HErrn, so schließt sich sein Auge für Bathseba, der Nebel der bösen Lust sinkt hin, und aus ist der Kampf. Ebenso, regt sich in ihm die Liebe zu Uria dem Mann Bathsebas oder die geistliche Liebe zu Bathseba selbst, so legt sich auch der Sturm und das Waßer wird spiegelglatt. Regt sich hingegen nur die Gerechtigkeit oder die Klugheit oder die Liebe zum eigenen innerlichen unangefochtenen Dasein und Seelenzustand, so gibts einen harten Strauß, und ob auch dem armen Fleische die Frucht der Enthaltung abgezwungen wird, so ist es doch eine bittre Frucht, die Wogen der Aufregung legen sich schwer, können sich schnell wieder erheben, und bringen auch, wenn sie sich legen, die Seele doch nicht zur Ruhe, laßen den Seelenhimmel trüb, bereiten nicht die reine Lust des guten Gewißens, weil es ohne Wunden und Striemen nicht abgeht. „Die Liebe thut dem Nächsten kein Böses,“ sie thuts nicht, sie mag nicht, sie will nicht, und sie ist mächtig genug, zu thun, was sie will; alles andre aber ist zu schwach, wenn die Hölle mit ihrer Anfechtung kommt, und der Geist des Menschen umnebelt wird. Ebenso ist es mit den andern Geboten, mit dem Gebote: „Du sollst nicht tödten, nicht stehlen, dich nicht laßen gelüsten.“ Es ist und bleibt in den Anfechtungen des Christen nur der Liebe, der Gottesliebe und Bruderliebe ein kurzer Siegeskampf beschieden; mühselig aber, ächzend und elend ist jeder Kampf mit der pur menschlichen Kraft guter Grundsätze und Vorsätze. Wer ihn wagt, geht eine dornenvolle Bahn und seine Seele leidet Schiffbruch, auch wenn sie landet. Wer es erfahren hat, der weiß es, und wer je irgend eine Liebe, von der größten und besten gar nicht zu reden, in seinem Herzen getragen hat, der kann es aus Vergleich der geringeren Liebe mit der größeren gar wohl schließen, wie wahr es sein muß. Auch der Heide hat seine Tugend. Wie große Beispiele aus der Geschichte der Römer und Griechen erzählt man hie und da in Schulen der Jugend zur Nachahmung! Auch der Heide kennt eine Entsagung, auch der Heide eine Aufopferung. So ohnmächtig der Wille des Menschen im Geistlichen ist; so nichts er leistet, wenn es gilt einen Sünder selig zu machen; so ist und bleibt es doch immerhin eine gewisse Sache, daß der menschliche Wille auf Erden und in allen menschlichen Dingen das größte und unter allen vorhandenen Kräften die wirksamste ist. Sieh einmal hin, was der Mensch im Bösen vermag, und du wirst erstaunen über die Macht seines Willens. Sieh aber auch hin auf dasjenige, was er nicht im Bösen, sondern in dem ausrichtet, was er nach seiner natürlichen Einsicht für gut hält, und auch da wirst du erstaunen, welcher Thaten und Erfolge er fähig ist. Das „einigermaßen“ der augsburgischen Confession, wo sie vom freien Willen redet und sagt, der Mensch habe einigermaßen einen freien Willen in den Dingen, die der Vernunft unterworfen sind, ist sehr gering, ein außerordentlich kleines Maß, wenn von göttlichen Dingen die Sprache ist; aber es ist auch in anderem Betracht ein großer, weiter Kampfplatz aller Heiden und aller von Gott entfremdeten Menschen, auf welchem sich die ganze Weltgeschichte mit allen berühmten Thaten und großen Namen bewegt hat und noch bewegt. Allein was ist die Tugend des Heiden, auch wenn sie mit dem natürlich größten Wohlwollen verbunden ist? An ihrem Innersten nagt der Wurm der Selbstsucht, ihr Ziel und Kleinod ist klein, ihr Gang ist schwer und wie schon mehrfach gesagt, ein Kampf. So wird zwar von vielen, welche das Christentum nicht richtig kennen, auch die christliche Tugend bezeichnet. Da singt einer, der selbst an den Altären stand: „Tapfer ist der Löwen-Sieger, tapfer ist der Weltbezwinger, tapfrer| wer sich selbst bezwang.“ Aber wer sich selbst bezwang, ist ein trauriger, thränenreicher Held und die Tugend der Selbstbezwingung eine seufzende, weinende Sklavin des Rechtes und Gesetzes, während die Liebe alles leicht macht und den Menschen in großem Frieden mit Lust und Gesang, mit Psalm und Gotteslob zur Heiligung geleitet. Was der Natur schwer wird, wird der Liebe leicht; sie ist stark und stärker als der Tod, ihr Weg ein Weg der Freuden, ein Gang von Licht zu Licht. Wer daher einem Menschen die Liebe in die Seele geben kann, der löscht die Flamme der Versuchung aus, verleiht dem Kind der Erde Flügel, sich über alle Hindernisse empor zu schwingen, und eine Kraft, das Gute zur Ehre Gottes mit leichtem Muth und sichrer Hand zu thun.

 Die Liebe ist also eine Vollstreckerin des Gesetzes, und zwar eine fröhliche, – mühelose, sie kann, was aller Natur zu schwer ist. Sie vollstreckt nicht allein Gebote wie die: Du sollst nicht ehebrechen, nicht tödten, nicht stehlen. Diese könnten, weil sie dem Wortlaute nach so äußerlich klingen, leichter erscheinen. Sie vollstreckt auch diejenigen Gebote, welche wie das Wort: „Du sollst dich nicht laßen gelüsten,“ schon durch den Ausdruck tief in’s Innere greifen. Sie reinigt das Herz und heiligt die Begier. Man hat die Bemerkung gemacht, daß schon die edlere Geschlechtsliebe in einem Menschen, der zuvor sehr über Anfechtung böser Lüste zu klagen hatte, eine größere Reinheit und Keuschheit der Seele herstellen konnte; während die Angehörigen fürchteten, es werde nun vollends aller fleischlichen Begier Thür und Thor geöffnet werden, geschah das Gegentheil, die edlere natürliche Liebe verscheuchte alle niedrige, thierische Begier. Wenn aber das schon eine richtige Beobachtung ist, wie viel mehr wird die heilige, vom Geiste Gottes gewirkte Bruderliebe die sündliche Begier ertödten können. Es sind ja freilich auch heilige Menschen mit Lüsten und Begierden geplagt, der eine mehr oder weniger als der andre, je nach Temperament und Verhältnissen; aber wenn sich nun auch hie und da in einem Christenmenschen ein solcher geplagter und verunreinigter Zustand ereignet, so hebt diese trübselige Beobachtung die andre doch nicht auf. Es ist nicht ein Mensch, auch nicht ein Christ wie der andre. Während der eine an der Last der Unreinigkeit zu tragen und zu schleppen hat, auf daß seine Liebesglut und Sehnsucht nach reineren Lüsten der Seele groß werde, dient der andere nach Gottes Willen zum Beispiel, an welchem jedermann die reinigende Wirkung der Liebe mit Augen schauen kann. Ein einziges solches Beispiel bestätigt die ganze Lehre des heiligen Paulus, der da sagt, daß auch der Inhalt des neunten und zehnten Gebotes in das Eine Gebot der Liebe zusammengefaßt sei.

 Doch erscheint die Liebe in unserm Texte, wie bereits gesagt, nicht blos als eine fröhliche Vollstreckerin aller Gebote Gottes; sondern sie selbst wird uns als die Fülle des gesammten Gesetzes und aller gesetzlichen Thaten vorgestellt. Wir werden demnächst, und zwar am Sonntag Estomihi, eine andere Stelle des heiligen Paulus, die berühmteste, welche die heilige Schrift von der Liebe enthält, zu lesen und darzulegen haben, weshalb wir uns bei der heutigen Predigt zurückhalten müßen, und nicht zu tief in diejenigen Gedanken hinein gehen dürfen, welche wir dann zu behandeln die volle Aufforderung haben werden. Dennoch aber werden wir es nicht völlig vermeiden können, der Zeit voran zu laufen, oder eine gewisse Aehnlichkeit der Gedanken zuzulaßen. Wie die Texte, so die Vorträge darüber, und wie sich niemand beklagen wird, daß die zwei schönen Stellen von der Liebe am 4. Epiphanien-Sonntage und am Sonntage Estomihi zu schnell aufeinander folgen; so muß es uns auch nicht Last, sondern Lust sein, schnell hintereinander von der Liebe reden zu hören. Welches Thema sollte auch verdienen, so oft und viel wie dieses abgehandelt zu werden! Da ist es denn vor allen Dingen nahe liegend, schon bei der heutigen Epistel auf die Verschiedenheit der Thaten hinzuweisen, je nachdem sie aus dem Geiste der Liebe hervorkommen oder nicht. Man kann einige Thaten leere, andere aber volle Thaten nennen, je nachdem in der Form und Gestalt der einen That die Liebe sich erweist oder nicht. Leer, hohl, eitel, schaal ist eine That, welche die Fülle der Liebe nicht in sich trägt; voll, reich und überfließend wird eine jede durch die vorhandene Liebe. Die Liebe gibt allen Werken ihren Werth, wenn sie da ist; wenn sie aber weg geht, kann man nicht mehr vom Werth der Thaten reden. Wie ein abgeblühter Strauch seine Zeit herum hat und nun allmählich unscheinbar, dürre und nichtig wird, so ist auch eine That ohne Liebe ein vergängliches, der Verwesung und dem Tode geweihtes Gebilde. Eine| und dieselbe That mit und ohne Liebe gedacht, wird einen ganz verschiedenen Eindruck auf diejenigen machen, die sie inne werden. Was sind die zwei Scherflein der Wittwe ohne Liebe, während sie mit der Liebe Ruhm und Preis sogar aus dem Munde des Erlösers und Richters der Welt finden. Die Augen des HErrn schauen nach der Liebe; wo sie die nicht finden, ist eitel Schellengeklingel eines Lebens, das eben, weil es keine Liebe in sich trägt, pur äußerlich und todt wird. Man könnte daher die Thaten des Menschen Formen nennen, in welche sich der Inhalt erst ergießen muß, und lieblose Thaten nichts anderem vergleichen, als einer Schaale ohne Kern und ohne Inhalt.

 Indes, meine lieben Brüder, ist es doch ein zu geringes Gleichnis, wenn man das Gesetz und die einzelnen Thaten des Menschen mit bloßen Formen vergleicht, in welche sich die Liebe ergießen müße, um ihnen Fülle und Werth zu geben. Alles, was mit diesem Gleichnis angedeutet werden soll, ist wahr und richtig; aber die Formen, in die sich die Fülle gießet, stehen zu theilnahmlos an der Fülle und um sie her, als daß sie völlig würdig wären, das Verhältnis der Werke zur Liebe abzubilden. Die Liebe bleibt Fülle und Kraft der Werke und steht ganz in ihrer Würde erst dann, wenn wir sie zur Meisterin der Formen selber machen. Es geht hier wie mit dem Samen. Jedes Gewächs hat seinen Samen bei sich und jeder Same bringt aus sich hervor das ihm eigentümliche Gewächs. Ein jeder Same bringt sein Gewächs; keine menschliche Kunst oder Gewalt vermag es dahin zu bringen, daß aus dem Kerne des Apfels ein Birnbaum, aus dem der Birne ein Apfelbaum erwachse. Da gibt es keine Verwechselung, jeder Same bringt Frucht nach seiner Art, jeder ist nicht blos geordnet die Materie, sondern auch die Form einzuhalten, welche der Schöpfer gerade mit dieser Materie verbunden hat. So wie nun ein jeder Same seine Frucht in ihrer Form hervorbringt, so bringt die Liebe nach dem unendlichen Segen, der ihr gegeben ist, verschiedene Früchte in den von Gott geordneten Formen. Ein jedes Gebot, eine jede dem Gebote entsprechende That des Menschen ist eine von den vielen von Gott gewollten Formen der Liebe. Die Liebe ist daher nicht blos eine göttliche Fülle für mancherlei zufällige Formen, sondern eine Fülle für mancherlei ihr selbst und ihrem reichen Wesen entsprechenden, von Gott geschaffenen und gesegneten Formen. Daher wäre es auch eine Unmöglichkeit für den Menschen, Formen der Liebe zu erdenken oder Liebesfrüchte und Werke zu erfinden, welche nicht mit den Geboten Gottes und den in ihnen vorgeschriebenen Formen der Liebe zusammenstimmten. So oft der Mensch sich angeregt fühlt, die Frage zu thun: „Was soll ich dir, mein Seelenfreund, für deine Treue geben“; so oft bekommt er daher dieselbe Antwort: „Halte die Gebote, übe die vom HErrn gebotenen Tugenden und Werke. Das ist die Liebe zu Gott, daß wir Seine Gebote halten. Das größte Gebot, in welchem alle zusammen gefaßt sind, ist das Gebot der Liebe zu Gott, und das andere ist dem gleich, nemlich das Gebot der Nächstenliebe.“ Das ist es, was die Kirche je und je in ihrer Lehre von den guten Werken gemeint hat, wenn sie die selbsterdachte Andacht, die selbsterwählten Wege und Thaten verwarf und darauf alles Ernstes bestand, daß nichts ein gutes Werk zu nennen sei, als das, was Gott geboten hat. So wie die Liebe der Inhalt und die Fülle aller Werke sein muß, so sind die von Gott gebotenen Werke die einzig richtigen, göttlichen Formen der heiligen Liebe, und es geht somit alles zusammen, Fülle und Form, Werk und Geist des Werkes. Würde man eines vom andern trennen, so würde man sich doch nur verfehlen. Würde man eines von beiden tödten, so würde der Schade gleich groß sein; würde die Liebe weggenommen, so gäbe es weder Fülle noch Kraft der Werke; würde aber das Gebot aufgehoben, so würde selbst die Liebe nicht wißen, wie sie vor Gott wandeln und gewisse Tritte zu Seinem Wohlgefallen thun sollte; das Gebot weist der Liebe den göttlichen Weg zur Aeußerung ihrer Kraft und zur Uebung ihrer Werke.


 Damit, meine lieben Brüder, hätte ich euch den Inhalt unseres Textes vorgelegt. Im Andenken an das Gesagte sehen wir auf unsern HErrn JEsum Christum und bewundern Ihn, der in allen Seinen Thaten und in allen Seinen Leiden nur von Einem Grunde getrieben wurde, nemlich von dem der Liebe. Untadelich sind alle Seine Werke, weil Ihn eine tadellose Liebe durchdrang. Auch sehen wir auf Seine heiligen Apostel und die Namen vieler anderer, die in der Kirche Gottes eines hochberühmten Namens| sind, und wenn wir auch ihr Leben und ihre Werke nicht mit jener Gewisheit, welche wir bei dem unbefleckten Gottessohne haben, als Liebesleben und Liebeswerke bezeichnen können, so haben wir doch das größte Vertrauen, und es leuchtet uns die größte Wahrscheinlichkeit an, daß auch sie die Liebe regiert und erfüllt habe. Auch unter den jetzt lebenden Menschen tritt uns hie und da einer persönlich nahe, bei dem wir es nach dem Gehorsam gegen das achte Gebot leicht glauben können, daß ihn die Liebe regiere. Wie hingegen steht es mit uns selbst? Nichts schreibt sich der natürliche Mensch leichter zu als die Liebe; aber auch in keinem Stücke täuscht er sich so oft und sicher, als in diesem. Jeder sieht gerne die Liebe als das Geringste an, was er haben kann, als ein solches Gemeingut aller, daß in dem Vorwurfe der Lieblosigkeit eine Beleidigung liegt, wie kaum in einem anderen Vorwurf. Fast scheint es als ob Lieblosigkeit unter der Sonne eine große Seltenheit wäre, und als machte der Lieblose eine schier unerhörte Ausnahme von allen andern. Tritt aber ein Mensch in das Reich der Wahrheit ein, so wird er schnell sein eigner Ankläger, und kaum ist eine Selbstanklage unter den wahren Christen verbreiteter, als die, daß sie keine Liebe haben. Der Weltmensch ist sich immer, ein Kind Gottes ist sich nimmer gut genug, sondern die Unzufriedenheit mit ihm selbst begleitet es bis zum Grabe. Die größte Wonne für einen geistlichen Menschen ist es, wenn er zu Gott und Menschen die Regung der Liebe in sich spürt. Dagegen das größte Leiden ist es, wenn er, ich sage nicht Haß, sondern nur Mangel an Liebe in sich wahrnimmt, oder keine Liebe fühlt. Da gibt es dann Anfechtung über Anfechtung. Ist keine Liebe vorhanden, so ist auch kein Glaube da; eben damit ist dann auch alles Wohlgefallen Gottes und die Hoffnung des ewigen Lebens ferne getreten. Welche bitteren, thränenvollen Leiden stürzen dann oftmals auf den Menschen herein! Es ist oft bei diesen Angefochtenen der Fall, daß wahre Liebe im Herzen wohnt, und nur das Gefühl der Liebe weggenommen ist. Ein lauteres Wohlwollen durchdringt den Menschen, er sucht nicht mehr das Seine, er sucht was des Andern ist; freut sich fremden Glückes, opfert sich im fremden Unglück und unterläßt nichts, was andere fördern und einen liebreichen Eindruck machen kann. Alle sind überzeugt, daß er wahre und reine Liebe in der Seele trage, er aber ist sein eigner Ankläger und bekennt es, daß er keinen Funken von Liebe in sich spüre. Niemand gibt ihm Recht, jedermann sagt das Gegentheil, er aber weicht nicht von seiner Selbstanklage und wiederholt sie nach jedem neuen Liebeswerke mit herzzerreißendem Tone. Wie unglücklich ist ein solcher Mensch. Die Abwesenheit des süßen Liebesgefühls gibt ihm bei allem Liebesdrange immer neuen Anlaß zu großen und schweren Leiden. Wie muß es erst da sein, wo man wirklich lieblos ist, und das Herz für niemanden in Liebe schlägt! Was für eine Oede muß die Seele des wirklich abgestorbenen, liebeleeren Menschen füllen! Da nun die wahre Liebe so selten unter der Sonne ist und doch alleine glücklich macht, so kann man sich das glückliche Leben vieler Menschen gar nicht anders als dadurch erklären, daß sie eine falsche Liebe in sich tragen, und die falsche Liebe sie mit falschem Glücke täuscht. Eine so große Königin aller Herzen ist die Liebe, daß ohne irgend eine Liebestäuschung auch das Glück des natürlichen Menschen nicht erklärlich ist. Beides aber, keine Liebe und eine falsche Liebe in sich tragen, ist ein jämmerliches Loos. Daher wir in der That nichts nötiger haben als das Gebet um wahre Liebe, – das Gebet, weil uns niemand Liebe geben kann, als Gott, und wir von Ihm auf einem anderen Wege, als auf dem des Bittens, nichts erreichen können. Darum sei das der Schluß meiner heutigen Rede an Euch, daß ich Euch zurufe: Laßt uns beten, laßet uns um Liebe beten, eifrig und unabläßig beten, es möchten uns sonst einmal die Augen aufgehen zur bösen Zeit, und uns der Mangel an Liebe gerade dann erschrecken, wenn die Zeit der Erhörung und der Gnaden aus ist, weil das Leben zu Ende ist, die Saatzeit geschloßen, und vorhanden die Stunde, wo man ernten sollte. Liebe ist noth; von der letzten bösen Zeit sagt der HErr, die Liebe werde erkalten. Eine Vorläuferin dieser bösen letzten Zeit ist jede Zeit, in der die Liebe erkaltet. Wo aber die Liebe blüht, da ist der HErr, Sein Geist, Seine Gnade und der rechte Glaube, ohne welchen und außerhalb deßen es keine Liebe geben kann. Darum wiederhole ich: Laßet uns beten, beten um Liebe, beten ohne Unterlaß, bis wir erhört sind. – Amen.




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