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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

gehen, und eilen, daß uns nicht, wenn der HErr kommt, oder wir zu Ihm, das unbarmherzige Gericht überfalle, das über alle unbarmherzigen und harten Seelen kommen wird. –

 Der HErr sei uns armen Sündern gnädig, und schenke uns allen den Adel selbstsuchtsloser Feindesliebe. Amen.




Am vierten Sonntage nach dem Erscheinungsfeste.

Römer 13, 8–10.
8. Seid Niemand nichts schuldig, denn daß ihr euch unter einander liebet; denn wer den andern liebet, der hat das Gesetz erfüllet. 9. Denn das da gesagt ist: Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht tödten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis geben; dich soll nichts gelüsten; und so ein ander Gebot mehr ist, das wird in diesem Wort verfaßet: Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst. 10. Die Liebe thut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.

 DAs Evangelium des heutigen Tages handelt vom Schifflein Christi, und von der reichen Hilfe aus der guten Hand Deßen, der auf dem Meere fuhr und im Sturme schlief. Das Herz des Schlafenden war und ist eine Schatzkammer der Liebe und großer Barmherzigkeit, aus welcher zu allen Zeiten alle Bedürftigen ihren Antheil und ihren Segen nehmen konnten. Der HErr war niemanden etwas schuldig, auch keine Liebe; dennoch aber hat Er zu allen Zeiten allen Menschen Liebe erwiesen, wie wenn Ers schuldig gewesen wäre. Man könnte daher in der Liebe, die Er den Seinen auf dem galiläischen See erwies, den Punkt der Anknüpfung und des Zusammenhangs finden, der zwischen Evangelium und Epistel wäre. Allein, welches Evangelium, welche Erzählung aus dem Leben Jesu würde nicht auf diese Weise zu unserer heutigen Epistel paßen? Der HErr ist die Liebe und nach der Liebe sucht man in keinem Seiner Worte und Werke umsonst. Darum spart nur, meine lieben Brüder und Schwestern, den Scharfsinn, der nach dem Zusammenhang der Epiphanien-Evangelien und Episteln forscht, und erinnert euch daran, daß in den Evangelien dieser Sonntage sich der Lebenslauf Christi in seinem herrlichen Gedeihen entfaltet, in den Episteln aber der Lebenslauf und Wandel der Gemeinde. Wie wir in den früheren Festtexten neben der Geburt JEsu die Neugeburt Seiner Braut, neben Seinem Wachstum ihr Wachstum und ihren Eintritt in die Mündigkeit beschauten; so geht nun an Seinem Tagessonnengang der stille Glanz Seiner Gemeinde nebenher wie süßes Mondlicht, und wir gewöhnen uns je länger je mehr, Ihn und sie neben einander zu betrachten.

 Die heutige Epistel insonderheit ist kurz, umfaßt nur drei Verse. Die kurze Epistel handelt nur von einer Sache, von der Liebe, von der Bruderliebe, und auch von dieser nicht in der Wendung und Bewegung vieler Gedanken, sondern im Grunde nur in zweien. Die Liebe erscheint zuerst als des Christen bleibende Schuld; dann wird gezeigt, wie der des Gesetzes Fülle und ganzen Reichtum seinen Brüdern abträgt, welcher die Schuld der Liebe abträgt. Unsre Liebesschuld, und die Fülle des Gesetzes in der Liebe, das ist der Doppelgedanke, welcher unsern Text beherrscht.

 Wenn ich das Auge in diesen Text lenke, so bin ich in Versuchung zu vergeßen, wer ihn geschrieben hat. Ich weiß, daß ihn St. Paulus schrieb, aber ganz Johanneisch haucht er mich an. So verwandt ist der Geist der beiden so sehr verschiedenen heiligen Männer. Es ist euch, meine lieben Brüder, bekannt, daß der heilige Apostel Johannes in seinem hohen Alter seinen „Kindlein“ immer nur Eines predigte. „Kindlein“, sagte er in jeder Versammlung aufs

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/125&oldid=- (Version vom 1.8.2018)