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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

und dieselbe That mit und ohne Liebe gedacht, wird einen ganz verschiedenen Eindruck auf diejenigen machen, die sie inne werden. Was sind die zwei Scherflein der Wittwe ohne Liebe, während sie mit der Liebe Ruhm und Preis sogar aus dem Munde des Erlösers und Richters der Welt finden. Die Augen des HErrn schauen nach der Liebe; wo sie die nicht finden, ist eitel Schellengeklingel eines Lebens, das eben, weil es keine Liebe in sich trägt, pur äußerlich und todt wird. Man könnte daher die Thaten des Menschen Formen nennen, in welche sich der Inhalt erst ergießen muß, und lieblose Thaten nichts anderem vergleichen, als einer Schaale ohne Kern und ohne Inhalt.

 Indes, meine lieben Brüder, ist es doch ein zu geringes Gleichnis, wenn man das Gesetz und die einzelnen Thaten des Menschen mit bloßen Formen vergleicht, in welche sich die Liebe ergießen müße, um ihnen Fülle und Werth zu geben. Alles, was mit diesem Gleichnis angedeutet werden soll, ist wahr und richtig; aber die Formen, in die sich die Fülle gießet, stehen zu theilnahmlos an der Fülle und um sie her, als daß sie völlig würdig wären, das Verhältnis der Werke zur Liebe abzubilden. Die Liebe bleibt Fülle und Kraft der Werke und steht ganz in ihrer Würde erst dann, wenn wir sie zur Meisterin der Formen selber machen. Es geht hier wie mit dem Samen. Jedes Gewächs hat seinen Samen bei sich und jeder Same bringt aus sich hervor das ihm eigentümliche Gewächs. Ein jeder Same bringt sein Gewächs; keine menschliche Kunst oder Gewalt vermag es dahin zu bringen, daß aus dem Kerne des Apfels ein Birnbaum, aus dem der Birne ein Apfelbaum erwachse. Da gibt es keine Verwechselung, jeder Same bringt Frucht nach seiner Art, jeder ist nicht blos geordnet die Materie, sondern auch die Form einzuhalten, welche der Schöpfer gerade mit dieser Materie verbunden hat. So wie nun ein jeder Same seine Frucht in ihrer Form hervorbringt, so bringt die Liebe nach dem unendlichen Segen, der ihr gegeben ist, verschiedene Früchte in den von Gott geordneten Formen. Ein jedes Gebot, eine jede dem Gebote entsprechende That des Menschen ist eine von den vielen von Gott gewollten Formen der Liebe. Die Liebe ist daher nicht blos eine göttliche Fülle für mancherlei zufällige Formen, sondern eine Fülle für mancherlei ihr selbst und ihrem reichen Wesen entsprechenden, von Gott geschaffenen und gesegneten Formen. Daher wäre es auch eine Unmöglichkeit für den Menschen, Formen der Liebe zu erdenken oder Liebesfrüchte und Werke zu erfinden, welche nicht mit den Geboten Gottes und den in ihnen vorgeschriebenen Formen der Liebe zusammenstimmten. So oft der Mensch sich angeregt fühlt, die Frage zu thun: „Was soll ich dir, mein Seelenfreund, für deine Treue geben“; so oft bekommt er daher dieselbe Antwort: „Halte die Gebote, übe die vom HErrn gebotenen Tugenden und Werke. Das ist die Liebe zu Gott, daß wir Seine Gebote halten. Das größte Gebot, in welchem alle zusammen gefaßt sind, ist das Gebot der Liebe zu Gott, und das andere ist dem gleich, nemlich das Gebot der Nächstenliebe.“ Das ist es, was die Kirche je und je in ihrer Lehre von den guten Werken gemeint hat, wenn sie die selbsterdachte Andacht, die selbsterwählten Wege und Thaten verwarf und darauf alles Ernstes bestand, daß nichts ein gutes Werk zu nennen sei, als das, was Gott geboten hat. So wie die Liebe der Inhalt und die Fülle aller Werke sein muß, so sind die von Gott gebotenen Werke die einzig richtigen, göttlichen Formen der heiligen Liebe, und es geht somit alles zusammen, Fülle und Form, Werk und Geist des Werkes. Würde man eines vom andern trennen, so würde man sich doch nur verfehlen. Würde man eines von beiden tödten, so würde der Schade gleich groß sein; würde die Liebe weggenommen, so gäbe es weder Fülle noch Kraft der Werke; würde aber das Gebot aufgehoben, so würde selbst die Liebe nicht wißen, wie sie vor Gott wandeln und gewisse Tritte zu Seinem Wohlgefallen thun sollte; das Gebot weist der Liebe den göttlichen Weg zur Aeußerung ihrer Kraft und zur Uebung ihrer Werke.


 Damit, meine lieben Brüder, hätte ich euch den Inhalt unseres Textes vorgelegt. Im Andenken an das Gesagte sehen wir auf unsern HErrn JEsum Christum und bewundern Ihn, der in allen Seinen Thaten und in allen Seinen Leiden nur von Einem Grunde getrieben wurde, nemlich von dem der Liebe. Untadelich sind alle Seine Werke, weil Ihn eine tadellose Liebe durchdrang. Auch sehen wir auf Seine heiligen Apostel und die Namen vieler anderer, die in der Kirche Gottes eines hochberühmten Namens

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/131&oldid=- (Version vom 1.8.2018)