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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

sein, daß es der Natur zuzuschreiben sei, oder dem Temperamente, wenn einer von Natur keine Reizung zur Rache hat; weil er phlegmatisch, stumpf und fühllos ist, übt er doch keine Tugend! Was überwindet er denn, wenn ihn nichts anficht? In welchem Streit wird er Herr, wenn gar kein Streit da ist? Von der phlegmatischen Ruhe bei Beleidigungen ist ja gar keine Rede. Es ist im Gegentheil von solchen Herzen die Rede, die die Beleidigung spüren, nach langem Friedehalten gegen immerwährende Beleidigungen die Reizung in sich finden, derselben müde zu werden, die Versuchung zur Rache fühlen, und eine Lockung, das Böse mit Bösem zu vergelten. Sie thun es aber nicht, es regiert der HErr in ihnen; sie rächen sich nicht, es drängt und brennt sie nicht, wieder heimzugeben, wie sie empfangen haben, sie stellen Gott die Rache heim und beten zugleich für den Beleidiger. – Setz dich einmal in den Fall, daß du es so machen solltest. Denke an die vielleicht unzähligen Fälle, in welchen dich der Geist Gottes einlädt, so zu handeln. Frag dich, ob du so handelst, und warum du es weder thust, noch kannst, warum dir das Herz schwillt, wenn es lang her geht mit der Beleidigung, warum du so aufgeregt wirst, daß du vor Unmuth schiltst und schmähst und drohst und fluchst, und weder eßen noch schlafen kannst? Feindesliebe ist es doch nicht; wohl aber kannst du merken, daß das entgegen gesetzte Benehmen in der That Liebe ist, Feindesliebe einer leidenschaftlosen, verklärten Seele, die nicht blos nach dem 17. Vers Frieden hält, wenn sie den Feind in Liebe überwinden kann, sondern auch entschloßen ist, willig und kräftig jeder Reizung zu Zorn und Rache zu widerstreben und des Feindes bitterste Unart hinzunehmen, ohne ihm Gleiches mit Gleichem zu vergelten und ihm den Segen des edlen Beispiels zu verkümmern, das sie ihm gibt. Uebrigens dürfen wir auch nicht vergeßen, daß der Zusammenhang unsers Kapitels uns anleitet, unter den Beleidigungen, die zum Zorne und zur Rache reizen könnten, uns zunächst nicht solche zu denken, die einem jeden im menschlichen Leben begegnen. Es ist wohl von Beleidigungen der Heiden gegen die Christen, der Feinde des Evangeliums gegen die Kinder Gottes die Rede, vom Leiden der Verfolgten, der Confessoren und Märtyrer, vom schwersten Unrecht, von Ertragung der schmählichsten, schmerzlichsten Pein. Dahinein muß man sich denken, um den vollen Eindruck des Verses und all die Hochachtung vor einem Menschen zu bekommen, der kann und will und thut, was St. Paulus im 19. Vers verlangt. Auf diesem Wege wird man sicher auch finden, wie ungemein edel und schön das Verhalten eines solchen Menschen ist, und wie aus dem Brunnen solcher Ruh und Liebe das kommen kann, was wir im 20. Vers von einer neuen Stufe der Feindesliebe lesen. Wer nicht die Werke des 19. Verses in selbstsuchtloser Liebe üben kann, der wird, denke ich mir, auch am zwanzigsten Verse zu Schanden werden.

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 Dieser zwanzigste Vers deutet uns die vierte Stufe der Feindesliebe. Nicht Böses mit Bösem vergelten, – so viel an uns liegt Frieden halten, – sich nicht erbittern laßen zur Rache, diese drei Stufen sind doch sämmtlich von der Art, daß man sich die Möglichkeit denken kann, der Feind merke gar nicht, was ihm alles geschieht. Auch auf diesen dreien Stufen ist allerdings das Aeußere des Menschen ein Spiegel des Innern, und wer die Werke dieser drei Stufen übt, läßt gewis ein heiliges Licht von sich leuchten. Doch strahlt dies Licht mehr unwillkürlich aus dem lichten, liebevollen Herzen, es gehören Augen dazu, es zu bemerken, wie sie in der Regel ein Feind nicht hat, und überhaupt geht die Uebung der drei genannten Verse hauptsächlich im Innern des Herzens vor sich. Dagegen aber tritt nun die Feindesliebe nach dem 20. Verse heraus in die Oeffentlichkeit und auf freien Plan, und zwar in einer Weise, zu deren Lob und Preis das alte mit dem neuen Testamente sich vereinigt, und ganz dieselben Worte gebraucht. „So nun deinen Feind hungert, so speise ihn, dürstet ihn, so tränke ihn, denn wenn du das thust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln.“ So sagt St. Paulus, und ebenso ganz mit denselben Worten sagt das alte Testament Spr. S. 25, 21. 22. St. Paulus entlehnt ganz offenbar die Worte aus dem alten Testament. So ist uns also die thätige Feindesliebe, die vierte Stufe, mit doppelter Kraft empfohlen, und wir können uns in der That nicht eher die wahre Feindesliebe zuschreiben, bis wir auch diese Stufe unter den Füßen haben. Bist du im Herzen ein Freund deines Feindes, so sei es auch mit der That; fehlt die That, so fehlt dir vielleicht auch das Herz. Kannst du dich nicht überwinden,

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/121&oldid=- (Version vom 1.8.2018)