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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

alles, was nach Gottes Willen zwischen euch und euren Nachbarn den Unterschied macht und machen muß, das alles sollt ihr behalten; aber das kann ich nicht wollen, daß ihr es in der niederträchtigen, schmutzigen, linkischen und stöckischen Weise behaltet, wie ihr so häufig thut. Das alles läßt sich behalten und edel führen und wird auch ohne Zweifel verklärt und herrlich werden, so wie ihr euch nur dem Geiste Christi rücksichtslos überlaßet. Der Knecht bei seinen Pferden und am Pflug, die Magd bei ihren Kühen und im Grase, sie können beide durch die Macht göttlicher Gedanken zu jener Art und Weise, und zu jener edlen Einfalt gelangen, welche z. B. die ersten Missionare der Herrnhuter, obwol von Hause aus Handwerker, tüchtig und fähig gemacht hat, in der Könige Häusern sich zum Wolgefallen aller zu bewegen und die Geschäfte des allerhöchsten HErrn in fernen Landen zu führen. Doch bin ich mit alle dem, meine lieben Brüder, eigentlich auf ein anderes Gebiet des Lebens gerathen, als ich wollte; ein vieljähriges Verlangen und der herzliche Wunsch eurer Vollendung hat mich dahin verleitet, während ich doch gar wol weiß, daß ich das Edle im christlichen Benehmen nicht allein in der äußeren Umwandlung zu suchen habe, welche das Christentum auch bei vielen heidnischen Nationen, wenn auch nicht gerade bei den nordamerikanischen Indianern hervorbringt und hervorgebracht hat, also doch auch bei euch muß hervorbringen können. Ich weiß im Gegenteil, daß die äußeren Umwandlungen, von denen ich rede, sehr oft auch da erfolgen, wo nicht das Feuer des göttlichen Geistes vom Himmel gefallen ist, sondern blos die Waßer einer menschlichen Bildung fluthen; es gibt höhere Beweise von dem verklärenden und den Adel der menschlichen Natur wieder herstellenden Geiste des Christentums. Ich nenne euch z. B. mit zweien Worten einen großen Unterschied; die Worte heißen: gerecht und billig. Es kann einer gerecht sein, aber in der Ausübung seiner Gerechtigkeit ein roher Mensch, ein harter Mensch, ein abscheulicher Mensch, wie man denn im alten Sprüchwort sagt, daß der höchste Grad der Gerechtigkeit die größte Ungerechtigkeit erzeuge. Jeder Christ ehrt das Recht, aber wer immer und allezeit nur nach Rechten fragt, der ist, wie die Erfahrung beweist, kein Gerechter, sondern die Gerechtigkeit tritt in den Dienst der Selbstsucht. Daher ist die Billigkeit edler als die Gerechtigkeit, die Gütigkeit edler als die Billigkeit, die Barmherzigkeit edler als die Gütigkeit, und edler als die genannten Tugenden alle ist die Gnade, das ist die Feindesliebe, die da nicht liebt was liebenswürdig ist, sondern den Triumph der Liebe darinnen feiert, daß sie liebt was keine Liebe verdient, nicht Böses mit Bösem vergilt, sondern aufopfernd die Arme um den Dornstrauch schlägt, der sie verletzt hat und mit inbrünstigen Thränen dem verlornen Schafe nachgeht. Und das ist es eben, wovon unser Text heute redet, welcher das Edle im Benehmen in die Feindesliebe setzt, und das allgemeine Wort: „Fleißigt euch des Edlen gegen Jedermann,“ in seiner herrlichsten Anwendung, in der Feindesliebe zeigt. –

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 Es ist ein Stufengang in den Ermahnungen des heutigen Textes zu bemerken, den wir vor uns haben. Wenn derselbe mit den Worten beginnt: „Vergeltet nicht Böses mit Bösem“, oder genauer: Vergeltet niemand Böses mit Bösem; so muß das nicht einmal von Feindesliebe handeln, weil ja derjenige, der mir Böses thut, nicht einmal mein Feind sein muß, nicht notwendig das Böse, welches er mir thut, aus einem feindseligen Herzen und in feindlicher Absicht vollbringen muß. Es ist ja sogar möglich, daß er das Böse nicht einmal für böse, daß er es für etwas Gutes und Rechtes hält. Müßte ich aber auch zugeben, daß bei all diesen Voraussetzungen ein Mensch, der mir Böses thut, doch immer mein Feind sei, und daß ich also Feindesliebe ausübe, wenn ich ihm nicht Gleiches mit Gleichem vergelte; so wird man doch umgekehrt auch mir wieder zugestehen müßen, daß damit nur die erste und allgemeinste Stufe der Feindesliebe angedeutet sei. Der Apostel bestreitet den Wahn, als dürfe ein Mensch allezeit dem andern begegnen, wie ihm begegnet wird, einen Wahn, der in der Welt mit einem gewissen Scheine der Gerechtigkeit sich Geltung verschafft hat, und in allen Klassen der Bevölkerung, in allen Altern und auf allen Lebensstufen zahlreiche Anhänger hat. Nicht das ist die Meinung des HErrn und Seines Geistes, daß wir andre sollen behandeln dürfen, wie sie uns behandeln; sondern das ist die Lehre Christi, daß ein jeder seinen Bruder so behandeln solle, wie er wünschen muß, von ihm behandelt zu werden. Wer dieser Lehre nachlebt, der säet Gutes aus, und das in einer

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/117&oldid=- (Version vom 1.8.2018)