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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 Da haben wir nun erst noch kein Wort von jenen großen Gegensätzen gesprochen, welche einmal auf Erden bestehen und bis ans Ende bestehen werden. Du sollst mit allen Menschen Frieden halten, aber die Schrift sagt ja selbst: „Der Welt Freundschaft ist Gottes Feindschaft“; Christus redet von Schwert und Feuer, das Er allenthalben anzünde, und die Kirche ist und bleibt bis ans Ende der Tage eine streitende. Es wird daher dem Christen, je lauterer sein Christentum ist, doch gar oft nicht möglich gemacht werden, gegen alle Menschen im Frieden zu sein; Gott erlaubt es hie und da nicht, und der Friedefürst Christus verwehrt es. Daher man ein liebevolles und friedenreiches Herz vor allen Dingen sammt Willen und Kraft zu Lieb und Frieden haben soll, aber nicht erschrecken, wenn die Dornen des Unfriedens auf allen Wegen emporschießen. Es ist genug, wenn Ursach und Grund des Krieges nicht in dir und deiner Selbstsucht, sondern entweder im Abgrund fremder Herzen, oder im Lichte Gottes liegen. Das von der zweiten, mit der ersten notwendig verbundenen Stufe der Feindesliebe. – Wenn man die dritte Stufe lediglich im Sinne einer Entwicklung nimmt und sich denkt, daß nach dem Frieden halten gegen die Beleidiger nunmehr irgend etwas folgen müße, was noch lieblichere Verklärung als das Wort Friede offenbart, so wird man freilich überrascht, die dritte Stufe mit den Worten bezeichnet zu sehen: „Rächet euch selber nicht, meine Liebsten, sondern gebet Raum dem Zorn, denn es stehet geschrieben: Die Rache ist mein, Ich will vergelten, spricht der HErr.“ Allein, meine lieben Brüder, einerseits kann man sagen, daß die heiligen Schriftsteller nicht eben in der Weise jetziger Theologen geschrieben, wol auch nicht geglaubt haben Besonderes zu thun, wenn sie ihre Gedanken, geschweige ihre praktischen Vermahnungen ängstlich nach dem scheinbar alleine richtigen Stufengang der menschlichen Denkweise einrichteten. Andrerseits aber ist es die Frage, ob nicht gerade eine solche Gesinnung, wie sie in diesem 19. Vers gefordert wird, doch eine Stufe aufwärts ist, und eine höhere Verklärung der Seele verlangt. Es scheint zwar so, als wenn der, welcher in Liebe Frieden hält, geförderter sein müßte im inwendigen Leben, als derjenige, welcher dem Zorne Raum gibt und dem HErrn die Rache überläßt. Aber wir können uns in diesem Scheine schon dadurch irre machen, daß wir an jene berühmte Stelle der Offenbarung Johannis denken (Kap. 6, 9–11), wo die Seelen der um des Wortes Gottes willen Erwürgten unter dem großen Altare der Ewigkeit versammelt sind, mit großer Stimme schreien und sprechen: HErr, Du heiliger und wahrhaftiger, wie lange richtest und rächest Du nicht unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen. Die Seelen der heiligen Märtyrer sind heilig und selig, und was thun, was sagen sie? Sie stellen nicht blos die Rache Dem heim der recht richtet, und spricht: „Die Rache ist mein, Ich will vergelten,“ sondern sie beten um Rache, die Zeit der Rache bleibt ihnen lange aus. Nun wird man doch offenbar zugeben müßen, daß die Seelen der verklärten Märtyrer in einem heiligeren und reineren Zustande sind, als auch der lauterste Christ hier auf Erden. Man liest ja auch, daß der HErr die Seelen keineswegs um ihrer Gebete willen strafte oder sie zurecht wies, sondern daß sie vielmehr von Ihm selbst durch Darreichung eines weißen Kleides ein Zeugnis der Unschuld in ihrem Leiden und Sterben bekamen, bei dem sie sich beruhigen konnten bis zum Tage der allgemeinen Rechtfertigung. Ja man liest, daß Gott ihnen sogar den Grund des Aufschubs der Rache angibt, den nämlich, daß auch die Märtyrer der künftigen Zeiten erst müßten zu ihnen versammelt werden. Daraus sieht man die große Anerkennung, die ihnen und ihrem Gebete von Gott selbst zu Teil wird. Man kann also ein verklärter Geist, man kann selig und heilig sein, und um Rache beten für erlittenes Unrecht. Daraus muß man doch abnehmen, daß Friedfertigkeit, wie sie im 18. Verse unseres Textes gepredigt wird, und eine rachelose Seelenruhe, ja eine Hingabe der Rache in Gottes Hände, ein Gebet um Rache keine Gegensätze bilden und zusammen gehen können. Man wird zwar allerdings, bevor man zugibt, daß hier eine höhere Stufe als der pure Friede des 17. Verses angegeben ist, noch manches aufzuräumen haben. Da erinnert man an das Gebet des Erlösers am Kreuz: „Vater vergib, sie wißen nicht, was sie thun,“ auch an das Gebet Stephani in seinem Tode: „HErr behalte ihnen diese Sünde nicht.“ Beide Gebete wird man schöner finden als das Gebet der Märtyrer um Rache. Dazu kann man aus den Märtyreracten hie und da eine Geschichte anführen,

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 112. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/119&oldid=- (Version vom 1.8.2018)