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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

deinem Feinde zu nahen und persönlich mit ihm umzugehen, ihn zum Gegenstande deiner Liebeswerke zu machen, so wird dir kein Mensch glauben, daß dein Herz zu ihm stehe, jedermann wird sagen: deine gegentheiligen Versicherungen seien Heuchelei und Gleißnerei. Man muß die Macht über sich selber haben, wenn das Herz in Fried und Liebe steht; man muß den Blick, die Zunge mühelos bewegen können, zur Sanftmuth und Güte, zum Verzeihen und Vergeßen; die Last, die einem der Feind durch sein Unrecht auferlegt hat, muß abgeworfen werden können, sonst ist auch das rechte innere Leben nicht da. Wer so hochmüthig ist, daß er mit seinem Feinde nicht verhandeln mag, sondern sein Leid und seinen Grimm in sich frißt, und an seinem Unmuthe kaut, der sage nur nicht, daß er die Worte seines HErrn verstanden habe, und Seinem Willen gleichförmig geworden sei. Es muß dir leicht gehen, dem Feinde zu nahen, und ein friedfertiges Benehmen muß dir süß sein, eine heilige Lebenspflicht, die du nicht fliehst, sondern suchst. Gott und Menschen freuen sich noch nach Jahrtausenden über den König David, der seinem Todfeinde Saul, und zwar unter welchen Ungerechtigkeiten und Beleidigungen! allezeit ein süßes Herz bewahrte und ihm mühelos Fried und gute Werke bot. Dagegen ist der König Saul, und wer Irgend gleich ihm die Feindschaft liebte, weder Gott noch Menschen zur Freude, und sogar die Welt, so verderbt sie ist, stimmt darin mit Gott überein, daß Feindesliebe schön sei. Selbst wo man den Haß und die Vergeltung für Recht gehalten hat oder hält, und die Rache vertheidigt, wird dennoch der Muth fehlen, zu behaupten, daß der Haß schöner sei, oder auch nur gleich schön, wie die Feindesliebe; so unverkennbar hohen Adels ist die letztere. Uebrigens lehrt uns die heilige Schrift nicht blos im Allgemeinen die thätige Feindesliebe, sondern sie lehrt uns dieselbe in Beispielen, die besonders lieblich sind, zugleich aber auch anzeigen, wie weit der Mensch in dieser Liebe gehen müße. Man findet dies, wenn man es mit den Worten des 20. Verses in unserm Texte genau nimmt. Der selige Prälat Bengel bedient sich einmal des Ausdrucks: „Man müße die Worte der heiligen Schrift preßen“; er empfiehlt damit eine Kunst, in welcher er selber Meister ist, und wer sich dieselbe aneignet, hat von ihr süßen Lohn. Nicht bloß wird dadurch mancher, außerdem verhüllte Gedanke Gottes an’s Tageslicht gefördert, sondern mancher, der offenbar liegt vor jedermanns Augen, bekommt dadurch neue Schönheit, Form und Glanz. So ist es auch bei einer genauen Betrachtung unsres Textes. „So nun deinen Feind hungert, so speise ihn, dürstet ihn, so tränke ihn“; so spricht der Apostel. Nimmst du seine Worte so wie sie stehen, so kannst du sie nicht zunächst so faßen, als solltest du irgend wie aus der Ferne her für die Bedürfnisse deines Feindes sorgen; du sollst für seine Bedürfnisse sorgen, aber sie auch persönlich stillen, Speise und Trank schaffen, und ihm dieselben reichen, ja in dem griechischen Worte, welches St. Paulus für das alttestamentliche gebraucht, liegt der Sinn: du sollest deinem Feinde die Speise klein machen und ihn bißenweise speisen und nähren, wie eine Mutter das Kind, oder eine Krankenpflegerin den matten schwachen Kranken nährt. Da sieht man also die Feindesliebe in der Gesellschaft des Feindes als eine Schwester, eine Pflegerin, eine Mutter des Feindes stehen, und in vergnügter Ruhe Kosten, Zeit, Mühe und Sorgfalt an denjenigen wenden, der von alle dem nichts verdient hat als das Gegentheil.

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 Schöner könnte dir allerdings die Feindesliebe nicht dargestellt werden. Was für ein Bild soll schöner sein, als: die Liebe eine mütterliche Nährerin und Pflegerin des Feindes? Kein schöneres Bild, aber auch kein beschämenderes für denjenigen, der so etwas nie vermocht und nie gethan hat. – Jedoch sind wir noch nicht völlig mit dem Verse am Ende, sondern die Feindesliebe im Dienst der Barmherzigkeit muß uns noch erst in ihrer heiligen Absicht gezeigt werden, und in der Verheißung, die ihr gegeben ist; dann erst sehen wir sie in ihrem ganzen Glanze. Die Absicht und Verheißung liegt aber in den Worten: „So du das thust, wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln.“ Was die Verheißung des HErrn ist, soll auch die heilige demuthsvolle Absicht des Christen bei seiner thätigen Feindesliebe sein. Was Gott darbeut, nach dem soll man sich auch ausstrecken und es ergreifen. Um aber das recht zu thun, um die Verheißung recht zu ergreifen und nach ihr zu ringen, muß man sie vor allem recht verstehn. Darum wir uns die Frage lösen wollen, was doch die Worte bedeuten sollen: „So du das thust, wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln.“ Kohlen aufs

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/122&oldid=- (Version vom 1.8.2018)