Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)/Epiphanias 02

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Am zweiten Sonntage nach dem Erscheinungsfeste.

Römer 12, 7–16.
7. Hat Jemand Weißagung, so sei sie dem Glauben ähnlich. Hat Jemand ein Amt, so warte er des Amts. Lehret Jemand, so warte er der Lehre. 8. Ermahnet Jemand, so warte er des Ermahnens. Gibt Jemand, so gebe er einfältiglich. Regieret Jemand, so sei er sorgfältig. Uebet Jemand Barmherzigkeit, so thue er es mit Lust. 9. Die Liebe sei nicht falsch. Haßet das Arge, hanget dem Guten an. 10. Die brüderliche Liebe unter einander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. 11. Seid nicht träge, was ihr thun sollt. Seid brünstig im Geist. Schicket euch in die Zeit. 12. Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet. 13. Nehmet euch der Heiligen Notdurft an. Herberget gerne. 14. Segnet, die euch verfolgen; segnet und fluchet nicht. 15. Freuet euch mit den Fröhlichen, und weinet mit den Weinenden. 16. Habt einerlei Sinn unter einander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den Niedrigen.

 WEnn man die heutige Epistel durchliest, so begegnet einem eine ganze Fülle einzelner Ermahnungen, welche sich im Zusammenhang mit der im 12. Kapitel an die Römer unserem Texte unmittelbar vorangehenden Epistel des ersten Epiphaniensonntages ganz leicht als einzelne dargebotene Wirkungen und Gaben des heiligen Geistes auffaßen laßen. Wie bei einer reichen Christbescheerung, so ist uns hier der Reichtum des inwendigen Lebens und des christlichen Wandels im glänzenden Lichtesschein vorgelegt. Dabei aber bewegt sich das Auge des Beschauers über den wundervollen reichen Inhalt hin und her, um einen leitenden Gedankengang zu finden, an dem sich die Aufeinanderfolge der einzelnen kleinen Sätze leicht auffaßen und merken ließe. Denn man will allerdings von diesen Kleinodien kein einziges verlieren, jedes aufheben und am besten Platze segensreich bewahren. Bei dieser Bemühung des Ueberblicks erkennt man nun allerdings bald, daß immer einige zusammengehörige, verwandte Ermahnungen zusammengeordnet sind, wie etwa eine| Jungfrau, wenn sie Blumensträuße bilden will, zuvor zusammenlegt, was zusammen einen und denselbigen Platz im Strauße finden soll. Schon diese Warnehmung macht froh. Doch genügt sie dem suchenden und forschenden Auge nicht, welches das Ganze als ein Ganzes faßen will, und deshalb die harmonische Zusammenordnung nicht blos einzelner Sätze, sondern des ganzen Textes zu finden begehrt. Es bleibt aber auch dieses Begehren nicht lange unbefriedigt. Es zeigt sich dem aufmerksamen Forscher bald, daß der ganze Text sich in drei größere Partien auseinander legt, deren erste Vers 7 und 8, die zweite Vers 9–11, die dritte Vers 12–16, also immer eine Partie ein etwas kleineres Gebiet, als die darauf folgende umfaßt.

 Die erste Abteilung des Textes stellt uns die Gaben vor Augen, welche der reiche HErr denen geben will, die der Gemeinde in besondern Aemtern vorstehen; es sind Amtsgaben, die Er nicht blos geben, sondern auch an ihnen leuchten sehen will.

 Die zweite Abteilung zeigt Gaben, oder beßer, zu Tugenden entwickelte und ausgebildete Gaben, welche der HErr den Gemeindegliedern für ihr tägliches Leben unter einander gibt und dann von ihnen verlangt; es sind sammt und sonders Gaben und Tugenden des brüderlichen Zusammenlebens.

 In der dritten Abteilung des Textes wird auf die besondern Gemeindeverhältnisse eingegangen, durch welche sich die apostolische Zeit auszeichnet, und es werden am Beispiel dieser Zeit die herrlichen Gaben gezeigt, welche die Gemeinde aller Zeiten für ihr Leben nach oben, für ihr Verhältnis zu ihrem ewigen HErrn, (V. 12) – für ihr Leben nach außen hin, für ihr Verhältnis zu Brüdern aus andern Gemeinden, (V. 13) – für ihr Verhalten gegen die verfolgende Welt, (V. 14) – für das Leben unter Leid und Freud dieser Erde, (V. 15) – unter Brüdern von allerlei Art und Glücksumständen bedarf, (V. 16) und von Gott dem HErrn bekommt.

 Man kann sagen, daß alle Ermahnungen des letzten Teiles der Epistel Gaben und Tugenden berühren, wie sie der Christ der ersten Zeit in seinen besondern Verhältnissen bedurfte. Man könnte zwar dagegen einwenden, daß der 12. und 16. Vers doch allgemeinerer Art seien, und daß man in Anbetracht der Besonderheit dieser Verse aus der ganzen Epistel statt drei vielleicht fünf Teile machen sollte. Doch können wir wol die beiden genannten Verse auch in der angegebenen Weise verstehen, und ist auch unsre Einteilung vielleicht zu gering um für den hehren Text gerecht zu werden, so erleichtert sie uns doch die Auffaßung und hilft dem Verständnis und Gedächtnis, den Reichtum der heutigen Epistel etwas fester zu faßen und zu behalten.

 Obwol ich mir nun aber auf diese Weise den Weg gebahnt habe, mit euch über unsern herrlichen Text zu verhandeln, so gestehe ich es euch doch, noch bevor ich zu den einzelnen Teilen übergehe, daß ich es nicht für möglich halte, das Wort des Vortrags über alles und jedes in diesem Texte zu erstrecken. Die kalte Zeit und die Menge der heutigen Geschäfte mahnen auch abgesehen von der Eigentümlichkeit dieses Textes zur möglichsten Kürze; und wenn auch das nicht wäre, so habt ihr ja alle zumal oder fast alle den Text nicht vor euch; ihr habt euch noch immer nicht entschloßen, neben dem Gesangbuch ein Testament bei euch zu führen. Wie sollte es da möglich sein, eure Gedanken zusammenzuhalten und eure Aufmerksamkeit auf die große Menge der einzelnen Vermahnungen in diesem Texte fruchtbar zu verteilen. Es soll mir eine angenehme Gabe des guten HErrn und eine große Freude sein, wenn es mir gelingt, nach der gegebenen Einteilung euch etwas aus dem Reichtum, und aus dem Schatze Gottes ein erfreuendes Almosen für diesen Tag zu geben. Der HErr schenke mir die nötige Gabe, und laße euch nicht ungespeist und hungrig von dannen gehen.


I.
 Die Epistel des vorigen Sonntags hängt mit der heutigen auf das innigste zusammen, so sehr daß die ersten Verse des heutigen Textes mit den letzten des vorigen einen Satz bilden. Das ist allerdings in der deutschen Uebersetzung nicht zu merken, wol aber im Grundtexte, bei deßen Beschauung man sagen muß, daß die ersten zwei Verse der Epistel zwar den Uebergang machen zu den vom neunten Vers an folgenden selbstständigeren Ermahnungen, daß sie aber im Verhältnis zu den vorausgehenden Versen rein abhängig sind und mit ihnen durch den Satzbau zusammenhängen. Denn im Grunde und den Worten getreu müßte man, so undeutsch und wunderlich es| lautet, doch ungefähr in folgender Weise übersetzen: „Wir haben mancherlei Gaben, nach der Gnade die uns gegeben ist, sei es nun Weißagung, nach des Glaubens Aehnlichkeit, sei es ein Amt, im Amte, sei es der Lehrende, in der Lehre, sei’s der Vermahnende, in der Vermahnung, der da mitteilt, in Einfalt, der da vorsteht, im Eifer, der Barmherzigkeit übt, in Heiterkeit.“ Bei dieser wörtlichen Uebersetzung tritt allerdings ein Doppeltes hervor, nemlich einerseits der enge Zusammenhang der ersten Verse unseres Textes mit den letzten der vorigen Epistel, aber freilich auch ein zweites, nemlich die Schwierigkeit der Auslegung im Einzelnen. Diese Schwierigkeit hat M. Luther dadurch heben wollen, daß er jedes einzelne Satzglied zu einem Satze machte, den sechsten Vers abschloß, und dann je nach der Einsicht, die er hatte, die einzelnen Satzglieder auslegend übersetzte. „Hat jemand Weißagung,“ übersetzt er, „so sei sie dem Glauben ähnlich. Hat jemand ein Amt, so warte er des Amtes; lehret jemand, so warte er der Lehre. Ermahnet jemand, so warte er des Ermahnens. Gibt jemand, so gebe er einfältiglich. Regiert jemand, so sei er sorgfältig. Uebt jemand Barmherzigkeit, so thue er’s mit Lust.“ Da ist freilich jedes einzelne Satzglied dem Sinne nach verständlich und deutlich; was jedoch deutlich und verständlich ist, ist Luthers Sinn und Uebersetzung, aber mehr als St. Pauli Wort. Jedenfalls haben wir die Weißagung, die Aemter der Kirche und deren Uebung in der Lehre und Vermahnung, die Austeilung der Kirchenschätze und Opfer, das Amt des Vorstehers und die Uebung der Barmherzigkeit als Gaben zu faßen, so wie die richtige Ausübung und Anwendung der Gabe und die dazu gehörigen Tugenden und Kräfte als neue Gaben. Der Apostel sagt, wir hätten mancherlei Gnadengaben, die nach der uns gegebenen Gnade verschieden seien. Wir hätten Weißagung, nach des Glaubens Aehnlichkeit; da benennt er die Weißagung als eine Gnadengabe, dazu aber auch die richtige Führung der Gabe, daß alles, was geweißagt wird, dem bereits vorhandenen von Gott geoffenbarten Glauben entspreche, als eine mit der Weißagung verbundene Schwestergabe. St. Paulus benennt ferner die Gemeindeämter als Gaben; wenn er aber sagt: „Wir haben verschiedene Gaben, sei es ein Amt, im Amte,“ so scheint er mit dem Zusatz „im Amte“ nichts andres zu wollen, als die Ausübung des Berufes vom Berufe selber zu scheiden, so daß das Amt eine Gabe ist und die treue Führung desselben die zu ihm gehörige Schwestergabe. Wenn der Apostel fortfährt: „Sei es der Lehrende, in der Lehre, sei es der Ermahnende, in der Ermahnung,“ so erscheint auch hier immer ein Gabenpaar, die Gabe oder das Vermögen zu lehren, zu vermahnen, als erste, und die treue Uebung der Lehre und der Vermahnung als zweite Gabe. Stärker noch tritt die Zusammenpaarung der Gaben in den drei folgenden Satzgliedern hervor: „Der da mitteilt, in Einfalt, der davorsteht, in Eifer, der Barmherzigkeit übt, in Heiterkeit.“ Wenn also einer die Gabe hat, die Opfer und Schätze der Kirche richtig auszuteilen, so will ihm der HErr als nötige Schwestergabe die Einfalt schenken; hat einer die Gabe, ein Aufsichtsamt zu führen, so verleiht ihm der HErr als zweite Gabe den Eifer, so wie Er dem, der gerne Barmherzigkeit übt, als Schwestergabe die Freundlichkeit und Heiterkeit schenkt, durch welche dem Elenden und Unglücklichen die erzeigte Barmherzigkeit zu einer doppelten Hilfe wird. Es erscheint uns also ein Gabenpaar nach dem andern, wiewol das letzte, Barmherzigkeit und Heiterkeit, dem Inhalte nach mehr zum zweiten Teil zu gehören scheint, in welchem die Gaben und Tugenden des Gemeindelebens aufgezählt werden.
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 Bei diesen Gaben und Gabenpaaren, meine lieben Brüder, dürfen wir wol zuerst darauf aufmerksam machen, daß keine Gemeinde die hier genannten ersten Gaben entbehren kann, wenn sie recht geweidet und geleitet werden soll. Diese meine Bemerkung kann einiges Befremden erregen und das Mistrauen wecken, ob ich vielleicht zu der Gemeinschaft der Irvingianer gehöre, welche das Heil der Gemeinden hauptsächlich in der Wiederkehr der ersten Aemter und Gaben suchen, insonderheit die Notwendigkeit der Weißagung behaupten, und sich derselben in ihrer Gemeinschaft rühmen. Allein, meine Brüder, dieses Mistrauen könnt ihr fallen laßen, und aller Besorgnis müßig gehen. Ich sehe zwar deutlich, daß die Gemeinschaft der Irvingianer Männer zu den ihren zählt, die ausgezeichnete Einsicht in Gottes heiliges Wort und große Tugend im Leben besitzen; aber gerade ihr Dringen auf ein immerwährendes Apostolat kann ich nicht für schriftmäßig erkennen, und das, was sie als Fortsetzung der| uralten Gabe des Weißagens und des Zungenredens rühmen, hat mir keine Ueberzeugung verliehen, daß ihre Sehnsucht nach den uralten Gaben bei ihnen in dem Maße erfüllt sei, wie sie es glauben. Dagegen aber ist die Frage, ob die Wunder und Weißagungen in der Kirche aufgehört haben, oder noch bestehen könnten und sollten, keineswegs eine bloß irvingianische. Ebenso wenig können diejenigen, welche behaupten, Wunder und Weißagungsgabe habe längst aufgehört, und blos zum Behuf der Kirchengründung statt gehabt, Anspruch auf alleinige Geltung ihrer Meinung machen; denn sie haben eben blos eine Meinung, die man wol in der Kirche dulden kann, die sich aber keineswegs auf ein klares Wort der heiligen Schrift stützt. Die Schrift sagt nirgends, daß die Wunder und die Gabe der Weißagung aufhören sollen, wol aber können wir aus verschiedenen Zeiten der Kirchengeschichte Erfahrungen des Gegenteils aufzeigen, und überdies redet die Weißagung des alten wie des neuen Testamentes von Propheten, die am Ende der Tage Wunder thun, und weißagen sollen. Es kann Menschen, Orte und Zeiten geben, bei denen nach Gottes Beschluß oder durch ihr eignes Verschulden der Brunnen der ersten Gaben allerdings dermaßen versiegt ist, daß man es begreifen kann, wenn die Sage und Rede geht, es gäbe keine Wunder und Kräfte mehr. Der HErr kann aber die Zeiten wieder ändern und wenden, Wunder und Weißagung geben, wenn und wann Er will, da Er ja nirgends gesagt hat, Er wolle und werde es nicht thun. Ja man kann behaupten, daß die Gabe der Weißagung und der Wunder nie völlig in der Kirche aufgehört hat. Es hat je und je wunderbare Gebetserhörungen nicht blos nach Marc. 16, sondern auch nach Jak. 5, d. i. nicht blos zum Behuf der Grundlegung, sondern auch der Weidung und Leitung der Gemeinden gegeben, und die Flammen der Erkenntnis, welche Gott Seiner Kirche im Streite gegen die Ketzereien und Irrtümer verliehen hat, so wie viele Schriftauslegungen in älterer und neuerer Zeit stammen kenntlich vom Geiste, der ein Geist der Offenbarung und Weißagung ist, und sind kräftige Zeugnisse davon, daß der Geist des HErrn die Kirche nie verläßt, sondern noch alle Tage nach der Verheißung Deßen thut, der sagt: „Der Geist wird euch in alle Wahrheit leiten.“ Die Heimsuchungen des Geistes der Weißagung, sind ihrem Maße nach sehr verschieden, aber der Tag der Ewigkeit wird klar machen, wie viel reicher und größer sie gewesen sind, als man jetzt zugibt, und wie oft und viel in der oder jener verborgenen Gemeinde, auf der oder jener stillen Kanzel das feurige lichte Brünnlein der dem Glauben ähnlichen Weißagung gesprudelt und sich ergoßen hat. Das alles sagte ich blos zur Stützung meines Satzes, daß von den in unserm Texte genannten Gaben, an deren Spitze die Weißagung steht, keine, also auch nicht die Gabe der Weißagung, so klein oder groß zu verschiedenen Zeiten ihr Maß sei, in den Gemeinden des HErrn völlig mangeln dürfe und solle.

 Sollte aber auch jemand die Armut der gegenwärtigen Zeit, weil sie so groß und offenbar ist, als einen von Gott gewollten Zustand ansehen, und mit mir der Weißagung halber nicht zusammenstimmen, so wird doch, was der Apostel im ersten Teil unsers Textes sonst als Amtsgaben rühmt und preist, von allen für notwendig gefunden werden. Also für’s erste das Amt selbst mit seiner Lehre, seiner Vermahnung und seinem Troste; dann aber die edle Gabe derer, die über die Kirchengüter wachen und walten, jedem Menschen und jedem Bedürfnis sein bescheidenes Teil zuwenden; ferner die Gabe der Vorsteher, die aufs Ganze sehen und dem heiligen Amte durch ihr Ordnen und Regieren helfen; und endlich, wenn man das noch hieher ziehen soll und will, jene Barmherzigkeit, welche die Mängel und Unvollkommenheiten deckt, ohne welche kein Zusammenleben, keine Amtswirksamkeit, kein Gedeihen der Arbeit möglich ist, welche deshalb auch alle bedürfen.

 Brüder, das Amt des HErrn ist unter euch aufgerichtet, bittet den HErrn, daß es unter euch bleibe, bis Er wiederkommt. Es fehlen unter euch nicht die im Hause des HErrn stehen, lehrend, vermahnend und tröstend. Bittet, daß den edlen Gaben, die unter euch blühen, die Schwestergaben nicht fehlen, daß zur Lehre die Freudigkeit der Ausrichtung alles Lehrens, zum Amte des Tröstens und Vermahnens der Muth, die Kraft und himmlische Stärke nicht fehle. Es werden von manchen unter euch, Gott Lob und Dank, manche Gaben und Geschenke gegeben, die verwendet und ausgeteilt sein wollen; bittet, daß diejenigen, die sich zum Dienst und Amt der| Barmherzigkeit unter uns verordnet haben, wie das Haus Stephana, zu ihrem schönen Amte, das man selig preisen muß, weil Geben seliger ist als Nehmen, die schwesterliche Tugend der Einfalt bekommen, keine fremden, eigennützigen Zwecke einmischen, sondern allewege nur auf die beste Verwendung der Gabe und darauf sehen, daß damit der gnädige und gute Wille des HErrn geschehe. Wir haben Vorsteher unter uns, Kirchenvorsteher der Gemeinde, dazu auch Wächter und Regierer, die nach Gottes Vorsehung auf die Ordnung aller Gemeinden im Lande sehen: bittet den HErrn, daß ihnen zum Amt die schwesterliche Gabe des Eifers nicht fehle, damit die Wolfahrt der Gemeinden allenthalben erbaut werde. Allen aber, die an den Gemeinden dienen und arbeiten, erflehet barmherzige Seelen, die mit Freude und Heiterkeit zu den Wunden des armen Lazarus, der armen Kirche treten, die vor den Pforten des reichen Mannes, d. i. der Welt, in ihren Schwären liegt, und auf den Tag der Erlösung wartet. Es ist ein Elend, wenn die Aerzte, die Helfer, die Lehrer, Tröster, Pfleger und Regierer zum Kranken ohne Freudigkeit, ohne Heiterkeit, ohne Hoffnung treten, mit jenem Mistrauen in die Zukunft, und jenem Achselzucken der Verzweiflung, das den Kranken niederdrückt. Der Aerzte und Helfer heitere Freudigkeit ist wie ein Anfang der Genesung, der in die Kranken übergeht. So betet also, daß uns kein Gabenpaar mangele, das zur Weidung und Leitung der Gemeinden nötig ist, und daß wir alle Fülle haben mögen.


II.

 Doch wißen wir ja, lieben Brüder, daß die Wolfahrt der Gemeinden nicht allein von den Gaben der Gemeinde-Leitung und -Bedienung abhängt. Setze den besten Hirten, ausgestattet mit den reichsten Gaben, unterstützt von Männern, welche ihrerseits wieder die edelsten Gaben besitzen, über eine Heerde von wilden Thieren, so wird es nichts helfen. Es müßen Schafe sein, die eine Heerde ausmachen können; Bestien der Wildnis, Löwen und Tiger und Bären laßen sich nicht weiden. So ist es gerade mit den Menschen auch. Was helfen denn Propheten, Apostel und Lehrer, Ermahner, Tröster, Pfleger und Vorsteher, Einfalt, Eifer, Barmherzigkeit, Freudigkeit und Heiterkeit, wenn die Leute sich nicht wollen leiten laßen, sondern in die eigensinnige Ungebundenheit ihre Ehre setzen, und durch die Welt hingehen wollen, wie sie’s treibt. Man kann es überall sehen, daß die Aemter der Kirche nur den Gliedern der Kirche nützen und dienen, daß sie aber trotz alles herbstlichen Reichtums edler Früchte, in dem sie prangen, doch nur wie unfruchtbare Dornsträuche stehen, wo der HErr ihnen keine Gemeinden zugibt, die sich Seinem Wort und Willen mit Freuden überlaßen. Es kann zwar wol sein, daß einer auch in einer verkommenen und verderbten Gemeinde Segen stiftet; aber das ist dann der Segen des Missionars, der neuen Grund des Lebens legt und schafft, ein Segen, der nicht verglichen werden kann mit den seligen Wirkungen und den Strömen lebendigen Waßers, welche von den heiligen Aemtern auf willige Gemeinden fließen. Daher liegt auch so viel an den Gaben, welche für das gemeindliche Leben nötig sind, und der Apostel legt uns im zweiten Teile unsres Textes von diesen Gaben die schönsten und nötigsten vor.

 In derselbigen gedrungenen und wunderbaren Kürze, welche wir schon im ersten Teile gesehn haben, setzt er seine Rede fort, und schildert zuerst die Liebe im Allgemeinen, dann die Bruderliebe und endlich im elften Vers drei große Tugenden, welche der Liebe nimmermehr fehlen dürfen.

 Die Liebe sei ohne Falsch, ohne Heuchelei, also wahrhaftig, aufrichtig, nicht gemacht, nicht erzwungen zum Schein, sondern aus der neuen Natur des Christen, aus dem Wolwollen eines göttlichen Gemüthes unwillkürlich strömend. So wie die Bäume, wenn sie grünen, blühen und Früchte tragen, von einer Zier und Schönheit in die andre übergehen, und sich ohne Mühe und Arbeit in tiefer Stille und großem Frieden verwandeln, so ist die Liebe eines christlichen Herzens, sie grünt, blüht und trägt Frucht, und das alles nach dem Drang und lautern Zug der Natur, nemlich der andern Natur, der neuen Creatur. Diese einfältige, ursprüngliche, lautere Liebe ist unter allen Gaben und Tugenden, welche der himmlische Vater zum Gemeindeleben gerne verleiht, weitaus die größte und nötigste, die Grundtugend und größte Gabe, ohne welche alles Uebrige nach dem Zeugnis St. Pauli 1. Cor. 13 den Werth verliert. Wolwollen, Gütigkeit, ein liebe- und opferwilliges Herz, muß vor allen Dingen vorhanden sein, wo man zur Gemeinschaft| und zu einer Gemeinde des HErrn zusammentritt. Das lehrt uns der Apostel in unserm Texte mit seiner Forderung der ungefärbten, lautern, ungeheuchelten Liebe. Aber er meint keine Liebe, die alles liebt, kein Wolwollen, das Gutes und Böses umfaßt, keine Herzensoffenheit und Empfänglichkeit für jeden Einfluß, keine Liebe die sich selbst aufhebt, indem sie keinen Unterschied macht, und die schnell unter Spott und Hohn dahinsterben muß, weil sie Himmel und Hölle, und die ewigen sittlichen Gegensätze aufheben und in sich versöhnen will. Daher ruft er nach seiner mächtigen Vermahnung zur Liebe: „Haßet das Arge, hanget dem Guten an.“ Mit zwei mächtigen Posaunenstößen verkündigt er so die gedoppelte Art der ungefälschten Liebe. Sie kann nicht anders, sie wendet sich mit kräftigem Widerwillen und unverhohlenem Haß vom Bösen und wirft sich dem Guten an den Hals. Um sich dem Guten zuzuwenden, wendet sie sich völlig vom Bösen ab; sie ist nicht ein Rohr im Winde, das sich rechts und links neigt, sondern ein Fels im Meere, der auch im Toben des Sturmes und bei immerwährendem Nahen und Anschlagen der Waßer den Stand nicht ändert, den er einnimmt. Es ist schon oft gesagt worden, daß keine Liebe ist, wo kein Haß ist, daß wir seit Anfang der Sünde in einer allgemeinen Spaltung aller Dinge leben, daß man immer zu unterscheiden genötigt ist, zu wachen und sich zu hüten, daß es nicht Fülle und Allseitigkeit der Liebe, sondern die Halbheit und unselige Zerrißenheit einer unerneuten Seele ist, Welt und Christus, Welt und Kirche lieben zu wollen. Es gibt wol eine Liebe, die auch die Welt liebt, aber sie ist wie die Liebe Gottes ein Feuer, darin das Böse ersterben und der alte Adam ausgefegt werden muß. Eine Liebe zur Welt, in welcher die Welt nicht stirbt und verneuet wird zu Gottes Bilde, ist verdammlich, und bringt den selber, der sie in sich trägt, um die Gnade Gottes und die Hoffnung des ewigen Lebens. Daher bleibt es bei dem apostolischen Worte: Haßet das Arge, hanget dem Guten an, und bei der Entschiedenheit der Liebe allein für eine Seite, nemlich für die des HErrn. Dafür sprechen viele Parallelstellen der Schrift, und in einer jeden Gemeinde macht man auch alle Tage die Erfahrung, wie gar kein Leben gedeiht ohne entschiedene Liebe zum Guten. Auch ihr, meine Brüder, habt Gelegenheit genug, es unter euch zu sehen. Warum haben so viele überhaupt keine Liebe? Weil sie keine entschiedene Liebe zum Guten haben, weil sie mit der Welt nicht gebrochen haben, noch brechen wollen, weil sie zusammenschweißen und vereinigen wollen, was ewig, ewig getrennt ist und sein muß, Gutes und Böses, Religion und Weltsinn, himmlisches Streben und irdische Begier. Daraus wird nichts als Unlauterkeit, Falschheit, Fall auf Fall, und endlich Abfall. Darum denke man ja nicht, daß sich die große Weitschaft der Liebe auch über die unversöhnlichen Gegensätze erstreckt. Die Liebe trägt, duldet und hofft alles bis zu einer gewissen Grenze, an der bleibt sie stehen, und spricht mit dem seligen Abraham Luc. 16 das feste Wort: „Es ist zwischen uns und euch eine große Kluft befestigt, daß die da wollten von hinnen hinab fahren zu euch, könnten nicht, und auch nicht von dannen zu uns herüberfahren.“ Das muß bleiben, und daher gibt der Apostel zu seinem Wort von der nötigsten Gemeindegabe und Tugend, die untrüglichste Beschränkung, engert die Grenze des Stromes, macht ihn aber desto tiefer; das sieht man im zehnten Vers.
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 Hat er im neunten von der Liebe im allgemeinen gesprochen, hat er sie dann eingeschränkt auf das sittlich und ewig Gute, so schreitet er jetzt vorwärts und zeigt uns, zu welchen Personen und in welcher Weise sich die Liebe hinneigt; denn er spricht: „Die brüderliche Liebe unter einander sei herzlich; einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor.“ Den Spruch, lieben Brüder, faßet wol. Er gehört zu denen, bei denen man es bedauern kann, daß die meisten Menschen die Bibel nur in Uebersetzungen lesen können. M. Luther übersetzt: „die brüderliche Liebe unter einander sei herzlich“, aber anstatt des Wortes herzlich, steht im Grundtext ein Wort, für welches die deutsche Sprache kein entsprechendes hat. Der Grieche hat nemlich ein ganz eigenes Wort, um die natürliche Liebe der Eltern, Kinder und Geschwister unter einander zu bezeichnen, dies Wort heißt: Storgê, und kommt auch hier in unserem Verse in Gebrauch. Es ist als wenn er sagen wollte: es sei durch das Christentum eine neue Familie Gottes gestiftet. Gott Vater ist der Vater dieser Familie, Gott Sohn der erstgeborne Bruder, der Geist aber des Vaters und des Sohnes ist der Geist der Familie, und wie die natürliche Verwandtschaft eine natürliche Liebe erzeugt, so erzeugt die geistliche| Verwandtschaft, die Kindschaft Gottes und die Bruderschaft Jesu eine neue, geistliche Art von verwandtschaftlicher Liebe und Storgê. An dieser Familienliebe hat der HErr seine Freude, und will sie gepflegt und erzogen haben. Darum sagt denn auch St. Paulus in unserm Texte nicht blos: Die brüderliche Liebe sei herzlich, sondern sie sei verwandtschaftlich, sie erweise sich in der Freude und inbrünstigen Liebe, welche die Kirche Gottes zu dieser neuen geistigen Verwandtschaft haben soll. Da wo alle Einwohner der Ortschaften und Pfarreien nur als Glaubensgenoßen bestehen, pflegt diese geistige Verwandtschaft und ihre Liebe hinter der leiblichen zurück zu stehen. Einen Vater, Bruder und Geist haben sie ja alle, aber nicht ebenso einen zeitlichen Vater, eine leibliche Mutter. Da überwiegt die natürliche Liebe die geistige, und man kann sogar aus dem Munde gereifter Christen die Anforderung vernehmen, daß ein jeder zunächst sein Familieninteresse im Auge haben und seinen leiblichen Verwandten den Vorzug geben müße. So wie aber nur einmal die Predigt des Evangeliums mächtiger erschallt, der eine Teil der Familie sich bekehrt, der andere aber in seiner Lauheit, oder gar im Antichristentum verharrt, wird auf einmal alles anders. Diejenigen, welche sich als Kinder Gottes und geistige Brüder und Schwestern erkennen, schließen sich zusammen, die geistige Verwandtschaft tritt in den Vordergrund, die leibliche in den Hintergrund, wie das unser HErr voraus gesagt und gewollt hat. Es ist freilich nichts schöneres, als wenn die leibliche Verwandtschaft zur geistigen verklärt wird, Natur und Gnade ihre Bande gemeinschaftlich um dieselbe Familie schließen: da gibts eine starke, zugleich in der alten und neuen Creatur festgegründete Liebe, und ein Familienleben der reinsten und seligsten Art. Die leibliche Familie Jesu Christi liefert dazu das schönste und heiligste Beispiel. Glücklich zu preisen ist jede Familie, der dies Loos fällt. Wo es aber nicht der Fall ist und sein kann, und der HErr das Feuer anschürt, von welchem Er schon in den Tagen Seines Fleisches wollte, daß es brennen möchte, da soll sich ein Christ nicht fürchten, Vater, Mutter, Brüder und Schwestern zu verlaßen, denn er findet sie hundertfältig in der Kirche Gottes wieder, und dazu das ewige Leben. Er pflege dann die neue Bruder- und Verwandtschaft, und vergeße nicht, daß die Kirche durch eine viel tiefere, reichere und süßere Gemeinschaft verbunden ist, als jede bloß leibliche Familie. – Zu dieser geistig verwandtschaftlichen Liebe ermahnt der Apostel. Es ist aber auch mit dieser Liebe, wie mit jeder andern. In der Meinung sich selber recht genug zu thun, genießt oft ein Mensch seine Liebe ohne Maß und Schranken. Der den Wein liebt, der die Speise liebt, wird leicht in Wein und Speise unmäßig, und doch verliert der Wein, die Speise so Geschmack wie nährende und erfreuende Kraft, wirkt berauschend und beschwerend, so wie man sie im Uebermaße genießt. Ebenso ist es auch mit der Bruderliebe, wenn sie ihr Maß und ihre Schranke und den Lauf ihres Waßers verliert. Die Liebe stirbt, oder wird schaal, unbefriedigend und eitel, so wie der Mensch nicht Achtung und Ehrerbietung mit ihr verbindet. Freundesliebe, Elternliebe, Kinderliebe, Geschwisterliebe, natürliche oder geistige Liebe bleiben wohlschmeckend, stark, andauernd, langen Lebens, wenn man sich nicht allzusehr nahet, nicht zu sehr in einander auf- und übergeht, mit dem Herzen das Fernen vom Herzen verbindet. Eine wahre Weisheitslehre für alle, die lange lieben wollen, ja eine göttliche Lehre, weil auch die heilige Schrift an andern Orten und in unsrer Epistel Liebe und Ehre verbindet, und diejenigen, welche einander mit Inbrunst der geistigen Verwandtschaft lieben sollen, alsbald ermahnet, einander mit Ehrerbietung zuvor zu kommen. Das eben ist heiliges, göttliches Gemeindeleben, wenn die Brüder vermögen mit wallendem Herzen einander entgegen zu gehen, und mit Ehrerbietung vor einander zurückzutreten. Ueber die Pforten der Gottesstadt könnte man schreiben: Liebe und Achtung! –
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 Hier stehen wir nun, meine Freunde, beim Inhalt des elften Verses, des dritten und letzten im zweiten Teil unsers Textes. Das Gemeindeleben ist Liebe; doch aber finden sich noch drei Züge aus demselben angegeben, die nicht fehlen dürfen. St. Paulus zeichnet sie mit kurzen Worten: „Im Eifer ohne Zaudern, im Geiste brennend, dem HErrn dienend.“ So sollen alle Gemeindeglieder sein; der Eifer ist etwas andres als der Geist; man kann auch eifrig sein, ohne den Geist; Geist ist mehr als Eifer; Eifer ist menschlich, der Geist aber, von welchem hier die Rede ist, ist göttlich. In einer Gemeinde aber, wo es ist, wie es sein soll, ist| beides, Eifer und Geist; Bruderliebe und Ehrerbietung sind eifrig, d. i. sie zaudern nicht, wie Luther übersetzt: „Sie sind nicht träge, was sie thun sollen.“ Obwol friedenvoll, sind sie doch schäftig und mächtig, und gehen allezeit auf das Ziel los, nach dem sie trachten. Dabei aber sprudelt inwendig das Leben des heiligen Geistes, und unser Geist wird brünstig, durch die Regungen, die wir von Ihm genießen, so daß zum menschlich regen Leben die göttliche Süßigkeit und Kraft des heiligen Geistes tritt. Dadurch wird dem Eifer nicht blos Maß, sondern auch Lieblichkeit und Heiligkeit gegeben, und die Bewegung in der Gemeinde, die unaufhörlich ist, wird eben dadurch zum priesterlich heiligen Leben; so daß man von demselben auch das letzte Wort sagen kann, das der Apostel von der Gemeinde braucht: „Dienend dem HErrn.“ Das ganze Leben wird zum Gottesdienst. Die Gemeinde, die da ist, wie sie soll, trachtet darnach, daß sie ihrem HErrn wolgefalle. Liebe und Haß, Bruderliebe und Achtung, Eifer und Geistesregung, alles zusammen geht einem Ziele zu, daß der Name des HErrn geheiligt werde, Sein Reich komme, Sein Wille geschehe, daß Ihm gedient werde. Man kann sagen, daß Bruderliebe und Gottesdienst die beiden charakteristischen Merkmale alles neuen Lebens des neuen Testamentes seien, daß die Aemter des neuen Testamentes, alle Seelsorge und Leitung der Gemeinde kein andres Ziel habe, als die brünstige Liebe der neuen geistigen Verwandtschaft und den heiligen Priester- und Opferdienst jener kindlichen Andacht, welche das ganze Leben vor Gottes Angesicht webt und auf Gottes Altare niederlegt.

 Ihr werdet sagen: Wo steht denn aber in unserem Texte dasjenige, was du zur Spitze des ganzen Gemeindelebens machst? Wo liesest du die Worte: Dienend dem HErrn? Luthers Uebersetzung bringt ja den Satz: Schicket euch in die Zeit. – Darauf antworte ich euch, meine Brüder, daß man allerdings in verschiedenen Handschriften des neuen Testamentes die Worte liest: „Dienend der Zeit,“ was Luther übersetzt hat: „Schicket euch in die Zeit,“ daß aber andere Handschriften die Uebersetzung verlangen, die ich euch sagte: „Dienend dem HErrn.“ Nach den vorausgehenden Ermahnungen und im Verhältnis zu denen, die da folgen, wird man auch wol geneigt sein, dem Dienste des HErrn vor dem Dienste der Zeit den Vorzug zu geben. So steht eine ebenbürtige Vermahnung mitten unter vielen, und das Gemeindeleben ist vom neunten bis zum elften Verse auf seinen Höhepunkt geführt; während die Erinnerung, sich in die Zeit zu schicken, kühl, klein und unpaßend für die Reihe der vorhergehenden, aus der Höhe und Tiefe des Lebens gegriffenen Ermahnungen zu sein scheint. Darum laßt euch nur gefallen, was euch gepredigt ist, und schaffet, daß euer Leben unter einander Gottesdienst werde, suchet wenigstens nicht des Lebens höchste Zier darinnen, daß ihr euch in die Zeit und ihre Verhältnisse schicket.


III.
 Bis hieher, meine lieben Brüder, haben wir in unsrem Texte gesehen, welche Kräfte und Tugenden den Leitern einer Gemeinde nötig seien, welche allen ihren Gliedern. Jetzt beginnt aber der Apostel seinen Blick auf die Verhältnisse der Gemeinde im Jammertale zu richten, und mit reichem Griffel die Züge des heiligen Lebens der Christen im Verhältnis zu all dem Ungemach und Leid des irdischen Lebens zu entwerfen. Auf einen Vers erlaube ich mir heute, so herrlich und schön sein Inhalt ist, weniger Rücksicht zu nehmen, weil er ganz in den Gedankenkreis der nächsten Sonntagsepistel gehört, und bei dieser seine Stelle und Würdigung finden kann. Ich meine den Vers: „Segnet die euch verfolgen, segnet, und fluchet nicht.“ Ob ich ihn aber gleich für ein nächstesmal aufspare, kann ich ihn doch auch heute nicht ganz missen, da gerade er dem ganzen dritten Teile unsres Textes wie eine Antiphon dem Psalme, und wie eine Ueberschrift dem ganzen Vortrag diente. Bereits merkte eben damals die Welt, daß im Christentum eine Macht auf ihr Gebiet getreten war, die sich mit ihr und ihren Zwecken nicht vereinen, sich ihr auch nicht unterwerfen ließ, sondern mit gezogenem Schwerte dastand, Land und Leute zu erobern. Bereits entwickelte sich der große Kampf der Geschichte, und die Zeit wurde immer mehr eine Zeit der Verfolgung. Und weil das immer mehr der Fall war, so bedurfte es auch immer mehr die Vermahnungen, die der Apostel in unserm Texte gibt. Das Leben wurde schwer, die Leiden groß, die Gegenwart drückend. Wo soll man Kraft hernehmen, wie hindurch kommen? Es bedarf eine Freude, wenn| man leben und gedeihen soll; so schaff’ denn Freude her in Verfolgungszeit, und ja doch, sie wird geschafft, nemlich durch die Hoffnung. „Seid fröhlich in Hoffnung,“ ruft der Apostel aus. Der HErr kommt, der Sieg ist gewis, die Feinde werden erliegen, die Kirche wird siegen; das ist die Hoffnung, die tröstet in Trübsal; die muß vor allem ihre wehende Fahne aufpflanzen, dann erst wird gezeigt, wie man durch die Verfolgung kommt. Denn nach Erwähnung der Hoffnung heißt es weiter: „Seid geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet.“ Die Trübsal, das ist die Verfolgung; überall fast, wo im neuen Testamente dies Wort „Trübsal“ vorkommt, ist nicht an Leiden des gewöhnlichen Lebenslaufes, sondern an die Not der Verfolgung zu denken. Und wenn sie nun da ist, die lastende, schwere Verfolgung, dann braucht der Christ nicht Gewalt gegen Gewalt, er erregt keine Religionskriege, denen der HErr feind ist; er steckt sein Schwert in die Scheide, nachdem der Krieg begonnen; er denkt an das Lamm Gottes und seine Art zu kriegen und zu siegen; „geduldig in Trübsal“ ruft er, und geduldet sich nun bis in den Tod, und damit er es kann, hält er an am Gebet, duldet betend und stirbt betend. Das Aug’ voll Licht der Hoffnung, das Leben voll Geduld, das Herz voll brünstiger Andacht und Flehens, daß er das Ziel erlange und den Sieg gewinne, so geht er vorwärts von Schritt zu Schritt durch’s Jammertal.
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 Ohne Zweifel in Verfolgungszeit ein hehres heiliges Leben. Allein bis hierher ist dies Leben ohne Beziehung auf andere Mitleidende geschildert, die Verfolgung aber erstreckt sich ja nicht blos auf einen, sondern auf viele, und es kann daher der Christ auch nicht blos auf sich selbst sehen, sondern er muß Aug und Herz seinen mit leidenden Brüdern zukehren. Auch ist’s dann nicht genug, daß man sie vermahne zur Freude in Hoffnung, zur Geduld in Trübsal, zum Anhalten am Gebet, daß man selbst mit ihnen und für sie betet. Die Verfolgung macht arme Leute, weil der Verfolger dem Verfolgten seine Güter nimmt, ihn am Lebenserwerb hindert, ihm die Nahrung erschwert. Da wird es dann schwer, des Lebens Notdurft zu gewinnen, die doch gewonnen sein soll und muß; bittrer Mangel und kummervolles Darben versucht den armen Dulder. Daher muß dann die Bruderliebe und der Reichtum der neuen geistigen Verwandtschaft helfen, und der Apostel gebietet deshalb: „Nehmet euch der Heiligen Notdurft an,“ oder: nehmt Teil an den Bedürfnissen der Heiligen, indem ihr sie stillet, indem ihr gebet und mitteilet. – Aber die Verfolgung macht nicht blos arm, sie gönnt dem Verfolgten die Heimat nicht; sie weiß es anzustellen, daß er fliehen muß, daß er seine Brüder in der Ferne aufsuchen, bei ihnen sich Rast und Aufenthalt erbitten muß. Da kommen denn Gottes Pilgrime aus der Ferne, die verfolgten Glieder aus andern Gemeinden, und es erwächst dem Christen die süße, heilige Pflicht, den Fremdling aufzunehmen; deshalb ermahnt der Apostel für die böse Zeit insonderheit, und für die verfolgten Brüder vor andern Fremdlingen, wie Luther übersetzt: „Herberget gerne,“ oder wie St. Paulus sagt: „Jaget der Gastfreundschaft nach“, richtet auch ein Verfolgen an, verfolget die Flüchtlinge und Fremdlinge, aber nicht um sie zu quälen, wie ihre andern Verfolger, sondern um sie unter euren Hausfrieden einzuführen und ihnen wol zu thun. Der Apostel will also nicht blos eine einfache Gastfreundschaft ausgeübt haben, sondern die Gastfreundschaft soll mit Mühe und Anstrengung gesucht, und mit aufopfernder Liebe geübt werden. – So erklärt sich an dem festgehaltenen Gedanken der bösen Verfolgungszeit die Aufeinanderfolge der Sätze. Ein Bild der verklärten Liebe und Liebesregung der Gemeinden enthüllt sich, und man sieht den Zusammenhang der Heiligen unter einander, und wie der Glaube eine Verwandtschaft stiftet, die weit über alle Grenzen der einzelnen Gemeinden hinausgreift. Es zeigt sich übrigens die Schönheit und Herrlichkeit der im Elend dieser Welt blühenden Gemeinde, im Verlauf des Textes noch viel größer. Während im zwölften Vers das eigene Verhalten des verfolgten Christen dargethan wird, und im dreizehnten das gegen die mit verfolgten Brüder, gibt uns nun der vierzehnte Vers, von dem wir heute wenig reden wollen, einen neuen Zug des Gemäldes, er zeigt die Gemeinde und ihre Glieder in ihrem Verhältnis gegen die Verfolger selber. Der Christ duldet nicht blos, er kann und thut mehr, er hält nicht blos die Hand rein von Gewaltthat und roher Vergeltung, sondern auch das Herz von Rache und läßt sich den Haß der Verfolger nicht dahin treiben, auch zu haßen, er hört die Stimme des vermahnenden Apostels: „Segnet die euch verfolgen,| segnet und fluchet nicht.“ Und was mehr ist, weit mehr ist als das Hören, er befolgt sie und steht, ein Schauspiel Gottes und Seiner Engel, leidend, gefoltert, blutend mit einem lieblichen, freundlichen, betenden Priesterherzen gegen die, welche ihm so wehe thun. Zeig mir in aller Welt, in der Geschichte der Römer, Griechen und aller Heiden, zeig mir, wenn du kannst, bei denen die nichts haben als ihre eigne Kraft, die von Geist und Gabe Gottes nichts wißen, ein Benehmen, dem gleich, das der Apostel bis hieher geschildert hat, das einem herrlichen Gewächse gleicht, welches an bewundernswürdigen Blättern und Aesten vor deinen Augen hinansteigt zu immer lieblicherer Schönheit, bis sich oben in der Blüthe der Opferrauch des Duftes, und das Wunder des süßen Geruchs erhebt. – Ganz in der Verfolgung und ihrem Leiden ist der Christ begriffen, von dem der Text spricht. Ach wie schwer gehts der Braut des ewigen Bräutigams auf Erden; sie weint blutige Thränen und der Bräutigam kann zusehen, sitzt wie ein Schmelzer, leidet mit, schweigt aber, und wendet die Not nicht, – der Bräutigam von unbegreiflicher Liebe. Wär’ es denn ein Wunder, wenn darüber den Leidenden auf Erden alle Empfänglichkeit für Freude vergienge, wenn alle ihre Nerven nur für Schmerzen und Leiden empfänglich würden? Nein, das wäre kein Wunder; dagegen ist aber das ein großes Wunder, daß das Gegenteil geschieht, daß die Herzen, wie sie nicht stumpf werden in der Liebe zu den Verfolgern, auch nicht stumpf werden für Freuden und für das Mitgefühl mit denen, die sich freuen. Es ist nicht blos ein Befehl, eine Zumuthung, nein, es liegt die Weißagung einer himmlischen und wunderbaren Gabe darinnen, wenn der Apostel in die Gemeinden ruft: „Freuet euch mit den Fröhlichen und weinet mit den Weinenden.“ Es gibt ja doch auch in böser Zeit noch hie und da Freudenblumen zu pflücken, wer sie nur findet; auch in der Verfolgungszeit gibts hie und da noch still verborgnes Glück der Leiber und Seelen, unter scharfen Dornen süße Rosen. Da hebt die Blume auf, wer sie findet und freut sich, und mit ihm freut sich, der unter Dornen weh und weinend geht, und umgekehrt weint der glückliche Blumenfinder mit dem armen seufzenden Dornentreter, daß Freud und Leid das Christenleben bilden, wie Finsternis und Licht den Tag. So wird immer schöner, rührender, majestätischer das Bild des Christenlebens in unserm Texte, bis im sechszehnten Vers die Vollendung hinzugethan wird.
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 So sind sie alle, spricht die elende Welt, wenn hie und da einmal ein Christ fehlt und sündigt. Sie spricht damit nur ihres Herzens Wunsch aus, aber keine Wahrheit. Einen ganz andern Wunsch aber hat der Apostel im Herzen, ganz etwas andres verlangt er von allen. „Habt einerlei Sinn unter einander“ spricht er, oder: denkt alle dasselbe gegen einander. Dasselbe, nemlich was bereits gelehrt, gesagt, gedeutet ist, und nachgewiesen im Verhalten. Die Glieder der Heerde, die in Gemeinden gesammelt, aber gemeindeweise über die ganze Welt hin zerstreut sind, haben Einen Sinn gegen einander; so wie der Apostel lehrt, denkt der Christ in Island und in Neuholland, es ist Eine heilige Liebe, Ein heiliger Sinn der gliedlichen Gemeinschaft unter allen. – Sie wißen wol auch aus dem Leben ihres alten Adams her und durch ihres Fleisches und des Teufels Belehrung, was hoch ist und für groß geachtet nach der Menschen Sinn, und was klein, niedrig und gering geachtet ist. Ihr auch noch eitles Herz wird davon angezogen und abgestoßen; der böse Narr im Herzen lädt sie ein, sich vor Menschenhöhen zu neigen, und was gering und klein ist, zu verachten. Aber es ist ein andrer Geist, der sie treibt, und ein andrer Wind, der ihre Segel füllt. Es wird verleugnet die Reizung des alten Narren in der Seele, und mit Freuden aufgenommen der Zuruf des treuen Apostels: „Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den Niedrigen,“ oder wie St. Paulus mit unnachahmlichem Ausdruck sagt: „Denkt nicht das Hohe, sondern laßt euch mit dahin nehmen vom Niedrigen“. Da wird umgekehrt der ganze Sinn, was hoch ist in der Welt und für groß gilt bei den Ihrigen, das erscheint klein und gering, und zieht nicht an, und was sonst gar keine Anziehungskraft ausübt, das kleine, niedrige, geringe, das wird erwählt. Da werden sie arm die Reichen, und gering die Vornehmen, und bedürfnislos die Verwöhnten, Bedürfnisvollen; da sitzen sie nieder die in der Könige Häuser wohnen und in weichen Kleidern gehen, bei den Kranken, Bettlern und Armen, da geben sie die weichen Kleider den Bettlern, und machen am Altare| des HErrn und im Leben Gemeinschaft mit denen, welche sie ehedem für geringes Volk geachtet, und zu denen sie sich nicht haben vergleichen laßen. Und wie der Verfolger sie alle gleich achtet um ihres Glaubens willen, so machen sie sich alle gleich durch die Liebe, der Große neigt sich zu dem Kleinen mit Freuden, und o Wunder, der Kleine gewöhnt sich an den Großen, der Geringe an den Vornehmen, keiner beschwert den andern, und alle haben sie denselben Sinn gegen einander, – und „keiner hält sich selbst für klug“.

 Ehe ich schweige, bewundre ich diesen Schluß. Alles was in der ganzen Epistel der Apostel gesagt hat, kann einer auf sich nehmen und darnach jagen, wenn er die Erlaubnis hat sich am Ende bei all’ diesem Verhalten für recht klug zu halten, wenn er im innersten Winkel seines Herzens darf niedersitzen, die Hände in einander schlagen und sich, wenn auch nicht für beßer und gerechter, aber doch für klüger halten als die andern, die andre Wege gehen, und in ihrer Thorheit das Ziel verfehlen. Erbärmliche jämmerlichste Selbstsucht, letzte und geringste die es gibt, und doch beliebt allenthalben, sich selbst für klug zu achten, und am Ende sogar auf Gottes eigenem steilen Pfad doch die eignen Wege zu gehen, doch immer wieder sich und die eigne Absicht und das Ziel der klugen Selbstsucht mit einzumengen in den Heilsweg Gottes, und nicht zu merken, daß man damit sich um alle Frucht und allen Lohn der Zeit und Ewigkeit bringt. Dagegen aber, o herrliche Vollendung, unsichtbare, verborgene, von Gott geliebte, schönste Demut, wenn man bei allem Gehorsam gegen des Apostels heiliges und wunderschönes Wort am Ende niederfällt, nicht die eigne Weisheit preisend, sondern Gott anbetend für Seine gnädige Offenbarung und selige heilige Führung. O was für ein Glück ist das, seiner so los zu werden, daß man sich auch nicht mehr selbst für klug hält, sondern recht aufrichtig arm und ein purer Schüler der göttlichen Gnade wird, hocherfreut in den Fußtapfen der Apostel des Lammes zu gehen. –

 Hie bin ich endlich am Ende, mit dem Texte verstummt die Predigt. Acht und zwanzig heilige apostolische Gedanken und Sätze habe ich euch vorgeführt, den mannigfaltigsten und reichsten Text in seiner Art, welchen das ganze Kirchenjahr bietet. Nicht habe ich Zeit mehr, euch nach Würden zu vermahnen, daß sich ein jeder sein Almosen aus diesem Reichtum nehmen und ihm nötige Gaben und Ermahnung wählen möge. Aber Gott sei uns allen gnädig, und wenn unsre Seele in unsrer Armut seufzt, und unser Gewißen uns schlägt, weil wir von einem HErrn, der so reichlich zu geben bereit ist, in so vielen Jahren so wenig empfangen haben, so thue Er mit uns über alles Bitten und Verstehen, über und wider alle unsre Würdigkeit, und schenke uns aus Seiner Fülle ein Kleinod nach dem andern, auf daß wir’s Ihm wiederbringen zum Danke, und Ihm opfern was Sein ist. Amen.




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