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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

und zu einer Gemeinde des HErrn zusammentritt. Das lehrt uns der Apostel in unserm Texte mit seiner Forderung der ungefärbten, lautern, ungeheuchelten Liebe. Aber er meint keine Liebe, die alles liebt, kein Wolwollen, das Gutes und Böses umfaßt, keine Herzensoffenheit und Empfänglichkeit für jeden Einfluß, keine Liebe die sich selbst aufhebt, indem sie keinen Unterschied macht, und die schnell unter Spott und Hohn dahinsterben muß, weil sie Himmel und Hölle, und die ewigen sittlichen Gegensätze aufheben und in sich versöhnen will. Daher ruft er nach seiner mächtigen Vermahnung zur Liebe: „Haßet das Arge, hanget dem Guten an.“ Mit zwei mächtigen Posaunenstößen verkündigt er so die gedoppelte Art der ungefälschten Liebe. Sie kann nicht anders, sie wendet sich mit kräftigem Widerwillen und unverhohlenem Haß vom Bösen und wirft sich dem Guten an den Hals. Um sich dem Guten zuzuwenden, wendet sie sich völlig vom Bösen ab; sie ist nicht ein Rohr im Winde, das sich rechts und links neigt, sondern ein Fels im Meere, der auch im Toben des Sturmes und bei immerwährendem Nahen und Anschlagen der Waßer den Stand nicht ändert, den er einnimmt. Es ist schon oft gesagt worden, daß keine Liebe ist, wo kein Haß ist, daß wir seit Anfang der Sünde in einer allgemeinen Spaltung aller Dinge leben, daß man immer zu unterscheiden genötigt ist, zu wachen und sich zu hüten, daß es nicht Fülle und Allseitigkeit der Liebe, sondern die Halbheit und unselige Zerrißenheit einer unerneuten Seele ist, Welt und Christus, Welt und Kirche lieben zu wollen. Es gibt wol eine Liebe, die auch die Welt liebt, aber sie ist wie die Liebe Gottes ein Feuer, darin das Böse ersterben und der alte Adam ausgefegt werden muß. Eine Liebe zur Welt, in welcher die Welt nicht stirbt und verneuet wird zu Gottes Bilde, ist verdammlich, und bringt den selber, der sie in sich trägt, um die Gnade Gottes und die Hoffnung des ewigen Lebens. Daher bleibt es bei dem apostolischen Worte: Haßet das Arge, hanget dem Guten an, und bei der Entschiedenheit der Liebe allein für eine Seite, nemlich für die des HErrn. Dafür sprechen viele Parallelstellen der Schrift, und in einer jeden Gemeinde macht man auch alle Tage die Erfahrung, wie gar kein Leben gedeiht ohne entschiedene Liebe zum Guten. Auch ihr, meine Brüder, habt Gelegenheit genug, es unter euch zu sehen. Warum haben so viele überhaupt keine Liebe? Weil sie keine entschiedene Liebe zum Guten haben, weil sie mit der Welt nicht gebrochen haben, noch brechen wollen, weil sie zusammenschweißen und vereinigen wollen, was ewig, ewig getrennt ist und sein muß, Gutes und Böses, Religion und Weltsinn, himmlisches Streben und irdische Begier. Daraus wird nichts als Unlauterkeit, Falschheit, Fall auf Fall, und endlich Abfall. Darum denke man ja nicht, daß sich die große Weitschaft der Liebe auch über die unversöhnlichen Gegensätze erstreckt. Die Liebe trägt, duldet und hofft alles bis zu einer gewissen Grenze, an der bleibt sie stehen, und spricht mit dem seligen Abraham Luc. 16 das feste Wort: „Es ist zwischen uns und euch eine große Kluft befestigt, daß die da wollten von hinnen hinab fahren zu euch, könnten nicht, und auch nicht von dannen zu uns herüberfahren.“ Das muß bleiben, und daher gibt der Apostel zu seinem Wort von der nötigsten Gemeindegabe und Tugend, die untrüglichste Beschränkung, engert die Grenze des Stromes, macht ihn aber desto tiefer; das sieht man im zehnten Vers.

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 Hat er im neunten von der Liebe im allgemeinen gesprochen, hat er sie dann eingeschränkt auf das sittlich und ewig Gute, so schreitet er jetzt vorwärts und zeigt uns, zu welchen Personen und in welcher Weise sich die Liebe hinneigt; denn er spricht: „Die brüderliche Liebe unter einander sei herzlich; einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor.“ Den Spruch, lieben Brüder, faßet wol. Er gehört zu denen, bei denen man es bedauern kann, daß die meisten Menschen die Bibel nur in Uebersetzungen lesen können. M. Luther übersetzt: „die brüderliche Liebe unter einander sei herzlich“, aber anstatt des Wortes herzlich, steht im Grundtext ein Wort, für welches die deutsche Sprache kein entsprechendes hat. Der Grieche hat nemlich ein ganz eigenes Wort, um die natürliche Liebe der Eltern, Kinder und Geschwister unter einander zu bezeichnen, dies Wort heißt: Storgê, und kommt auch hier in unserem Verse in Gebrauch. Es ist als wenn er sagen wollte: es sei durch das Christentum eine neue Familie Gottes gestiftet. Gott Vater ist der Vater dieser Familie, Gott Sohn der erstgeborne Bruder, der Geist aber des Vaters und des Sohnes ist der Geist der Familie, und wie die natürliche Verwandtschaft eine natürliche Liebe erzeugt, so erzeugt die geistliche

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/109&oldid=- (Version vom 1.8.2018)