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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 O, wir elenden, hochmütigen, trägen Menschen und Christen! Was ist schöner als ein Priester und Opfer Gottes sein, wie JEsus, von der Welt sich scheiden, wie Paulus, und sich einfügen mit Gabe, Fleiß und Tugend in den Leib des HErrn, wie Petrus und alle Christen. Und wir wollen nicht. Apostel bitten und vermahnen dazu und wir wollen nicht. Gottes Wort treibt, Gottes Kräfte ziehen dazu, und wir wollen nicht. Wir wißen auch nichts Schöneres, Beßeres und Größeres, doch wollen wir nicht. Wenn wir einmal wollen und es versuchen und üben, so wird uns himmlisch wol, da sind wir selig in unsrer That, und es belohnt sich die Mühe mit Freuden, die Kräfte, das Leben der zukünftigen Welt regen sich in uns; dennoch sinken wir wieder hin in den gewohnten Jammer und wollen dann wieder nicht und schließen das Auge gegen das Morgenroth des ewigen Lebens müde und schläfrig zu. Ach wir elenden, trägen, unglückseligen Menschen, wenn Du uns nicht hilfst, Du Helfer aus aller Not, der Du alle Grabsteine unsres geistlichen Todes lüften und uns lebendig und kräftig machen kannst für Dein heiliges Reich! O nimm uns doch in Deine Hände und bilde uns nach Deinem Sinn, daß wir seien Priester und Opfer vor Dir, allem weltlichen Wesen gegenüber Feinde, und in Deiner heiligen Kirche Meister in Deinen guten Gaben, die mit bescheidener, aber unaufhaltsamer Kraft in der Erkenntnis ihres Maßes dem Berufe leben, den Du durch Deine Gabe geschenkt hast.

Amen.


Am zweiten Sonntage nach dem Erscheinungsfeste.

Römer 12, 7–16.
7. Hat Jemand Weißagung, so sei sie dem Glauben ähnlich. Hat Jemand ein Amt, so warte er des Amts. Lehret Jemand, so warte er der Lehre. 8. Ermahnet Jemand, so warte er des Ermahnens. Gibt Jemand, so gebe er einfältiglich. Regieret Jemand, so sei er sorgfältig. Uebet Jemand Barmherzigkeit, so thue er es mit Lust. 9. Die Liebe sei nicht falsch. Haßet das Arge, hanget dem Guten an. 10. Die brüderliche Liebe unter einander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. 11. Seid nicht träge, was ihr thun sollt. Seid brünstig im Geist. Schicket euch in die Zeit. 12. Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, haltet an am Gebet. 13. Nehmet euch der Heiligen Notdurft an. Herberget gerne. 14. Segnet, die euch verfolgen; segnet und fluchet nicht. 15. Freuet euch mit den Fröhlichen, und weinet mit den Weinenden. 16. Habt einerlei Sinn unter einander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den Niedrigen.

 WEnn man die heutige Epistel durchliest, so begegnet einem eine ganze Fülle einzelner Ermahnungen, welche sich im Zusammenhang mit der im 12. Kapitel an die Römer unserem Texte unmittelbar vorangehenden Epistel des ersten Epiphaniensonntages ganz leicht als einzelne dargebotene Wirkungen und Gaben des heiligen Geistes auffaßen laßen. Wie bei einer reichen Christbescheerung, so ist uns hier der Reichtum des inwendigen Lebens und des christlichen Wandels im glänzenden Lichtesschein vorgelegt. Dabei aber bewegt sich das Auge des Beschauers über den wundervollen reichen Inhalt hin und her, um einen leitenden Gedankengang zu finden, an dem sich die Aufeinanderfolge der einzelnen kleinen Sätze leicht auffaßen und merken ließe. Denn man will allerdings von diesen Kleinodien kein einziges verlieren, jedes aufheben und am besten Platze segensreich bewahren. Bei dieser Bemühung des Ueberblicks erkennt man nun allerdings bald, daß immer einige zusammengehörige, verwandte Ermahnungen zusammengeordnet sind, wie etwa eine

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 097. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/104&oldid=- (Version vom 1.8.2018)