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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

uralten Gabe des Weißagens und des Zungenredens rühmen, hat mir keine Ueberzeugung verliehen, daß ihre Sehnsucht nach den uralten Gaben bei ihnen in dem Maße erfüllt sei, wie sie es glauben. Dagegen aber ist die Frage, ob die Wunder und Weißagungen in der Kirche aufgehört haben, oder noch bestehen könnten und sollten, keineswegs eine bloß irvingianische. Ebenso wenig können diejenigen, welche behaupten, Wunder und Weißagungsgabe habe längst aufgehört, und blos zum Behuf der Kirchengründung statt gehabt, Anspruch auf alleinige Geltung ihrer Meinung machen; denn sie haben eben blos eine Meinung, die man wol in der Kirche dulden kann, die sich aber keineswegs auf ein klares Wort der heiligen Schrift stützt. Die Schrift sagt nirgends, daß die Wunder und die Gabe der Weißagung aufhören sollen, wol aber können wir aus verschiedenen Zeiten der Kirchengeschichte Erfahrungen des Gegenteils aufzeigen, und überdies redet die Weißagung des alten wie des neuen Testamentes von Propheten, die am Ende der Tage Wunder thun, und weißagen sollen. Es kann Menschen, Orte und Zeiten geben, bei denen nach Gottes Beschluß oder durch ihr eignes Verschulden der Brunnen der ersten Gaben allerdings dermaßen versiegt ist, daß man es begreifen kann, wenn die Sage und Rede geht, es gäbe keine Wunder und Kräfte mehr. Der HErr kann aber die Zeiten wieder ändern und wenden, Wunder und Weißagung geben, wenn und wann Er will, da Er ja nirgends gesagt hat, Er wolle und werde es nicht thun. Ja man kann behaupten, daß die Gabe der Weißagung und der Wunder nie völlig in der Kirche aufgehört hat. Es hat je und je wunderbare Gebetserhörungen nicht blos nach Marc. 16, sondern auch nach Jak. 5, d. i. nicht blos zum Behuf der Grundlegung, sondern auch der Weidung und Leitung der Gemeinden gegeben, und die Flammen der Erkenntnis, welche Gott Seiner Kirche im Streite gegen die Ketzereien und Irrtümer verliehen hat, so wie viele Schriftauslegungen in älterer und neuerer Zeit stammen kenntlich vom Geiste, der ein Geist der Offenbarung und Weißagung ist, und sind kräftige Zeugnisse davon, daß der Geist des HErrn die Kirche nie verläßt, sondern noch alle Tage nach der Verheißung Deßen thut, der sagt: „Der Geist wird euch in alle Wahrheit leiten.“ Die Heimsuchungen des Geistes der Weißagung, sind ihrem Maße nach sehr verschieden, aber der Tag der Ewigkeit wird klar machen, wie viel reicher und größer sie gewesen sind, als man jetzt zugibt, und wie oft und viel in der oder jener verborgenen Gemeinde, auf der oder jener stillen Kanzel das feurige lichte Brünnlein der dem Glauben ähnlichen Weißagung gesprudelt und sich ergoßen hat. Das alles sagte ich blos zur Stützung meines Satzes, daß von den in unserm Texte genannten Gaben, an deren Spitze die Weißagung steht, keine, also auch nicht die Gabe der Weißagung, so klein oder groß zu verschiedenen Zeiten ihr Maß sei, in den Gemeinden des HErrn völlig mangeln dürfe und solle.

 Sollte aber auch jemand die Armut der gegenwärtigen Zeit, weil sie so groß und offenbar ist, als einen von Gott gewollten Zustand ansehen, und mit mir der Weißagung halber nicht zusammenstimmen, so wird doch, was der Apostel im ersten Teil unsers Textes sonst als Amtsgaben rühmt und preist, von allen für notwendig gefunden werden. Also für’s erste das Amt selbst mit seiner Lehre, seiner Vermahnung und seinem Troste; dann aber die edle Gabe derer, die über die Kirchengüter wachen und walten, jedem Menschen und jedem Bedürfnis sein bescheidenes Teil zuwenden; ferner die Gabe der Vorsteher, die aufs Ganze sehen und dem heiligen Amte durch ihr Ordnen und Regieren helfen; und endlich, wenn man das noch hieher ziehen soll und will, jene Barmherzigkeit, welche die Mängel und Unvollkommenheiten deckt, ohne welche kein Zusammenleben, keine Amtswirksamkeit, kein Gedeihen der Arbeit möglich ist, welche deshalb auch alle bedürfen.

 Brüder, das Amt des HErrn ist unter euch aufgerichtet, bittet den HErrn, daß es unter euch bleibe, bis Er wiederkommt. Es fehlen unter euch nicht die im Hause des HErrn stehen, lehrend, vermahnend und tröstend. Bittet, daß den edlen Gaben, die unter euch blühen, die Schwestergaben nicht fehlen, daß zur Lehre die Freudigkeit der Ausrichtung alles Lehrens, zum Amte des Tröstens und Vermahnens der Muth, die Kraft und himmlische Stärke nicht fehle. Es werden von manchen unter euch, Gott Lob und Dank, manche Gaben und Geschenke gegeben, die verwendet und ausgeteilt sein wollen; bittet, daß diejenigen, die sich zum Dienst und Amt der

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/107&oldid=- (Version vom 1.8.2018)