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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Verwandtschaft, die Kindschaft Gottes und die Bruderschaft Jesu eine neue, geistliche Art von verwandtschaftlicher Liebe und Storgê. An dieser Familienliebe hat der HErr seine Freude, und will sie gepflegt und erzogen haben. Darum sagt denn auch St. Paulus in unserm Texte nicht blos: Die brüderliche Liebe sei herzlich, sondern sie sei verwandtschaftlich, sie erweise sich in der Freude und inbrünstigen Liebe, welche die Kirche Gottes zu dieser neuen geistigen Verwandtschaft haben soll. Da wo alle Einwohner der Ortschaften und Pfarreien nur als Glaubensgenoßen bestehen, pflegt diese geistige Verwandtschaft und ihre Liebe hinter der leiblichen zurück zu stehen. Einen Vater, Bruder und Geist haben sie ja alle, aber nicht ebenso einen zeitlichen Vater, eine leibliche Mutter. Da überwiegt die natürliche Liebe die geistige, und man kann sogar aus dem Munde gereifter Christen die Anforderung vernehmen, daß ein jeder zunächst sein Familieninteresse im Auge haben und seinen leiblichen Verwandten den Vorzug geben müße. So wie aber nur einmal die Predigt des Evangeliums mächtiger erschallt, der eine Teil der Familie sich bekehrt, der andere aber in seiner Lauheit, oder gar im Antichristentum verharrt, wird auf einmal alles anders. Diejenigen, welche sich als Kinder Gottes und geistige Brüder und Schwestern erkennen, schließen sich zusammen, die geistige Verwandtschaft tritt in den Vordergrund, die leibliche in den Hintergrund, wie das unser HErr voraus gesagt und gewollt hat. Es ist freilich nichts schöneres, als wenn die leibliche Verwandtschaft zur geistigen verklärt wird, Natur und Gnade ihre Bande gemeinschaftlich um dieselbe Familie schließen: da gibts eine starke, zugleich in der alten und neuen Creatur festgegründete Liebe, und ein Familienleben der reinsten und seligsten Art. Die leibliche Familie Jesu Christi liefert dazu das schönste und heiligste Beispiel. Glücklich zu preisen ist jede Familie, der dies Loos fällt. Wo es aber nicht der Fall ist und sein kann, und der HErr das Feuer anschürt, von welchem Er schon in den Tagen Seines Fleisches wollte, daß es brennen möchte, da soll sich ein Christ nicht fürchten, Vater, Mutter, Brüder und Schwestern zu verlaßen, denn er findet sie hundertfältig in der Kirche Gottes wieder, und dazu das ewige Leben. Er pflege dann die neue Bruder- und Verwandtschaft, und vergeße nicht, daß die Kirche durch eine viel tiefere, reichere und süßere Gemeinschaft verbunden ist, als jede bloß leibliche Familie. – Zu dieser geistig verwandtschaftlichen Liebe ermahnt der Apostel. Es ist aber auch mit dieser Liebe, wie mit jeder andern. In der Meinung sich selber recht genug zu thun, genießt oft ein Mensch seine Liebe ohne Maß und Schranken. Der den Wein liebt, der die Speise liebt, wird leicht in Wein und Speise unmäßig, und doch verliert der Wein, die Speise so Geschmack wie nährende und erfreuende Kraft, wirkt berauschend und beschwerend, so wie man sie im Uebermaße genießt. Ebenso ist es auch mit der Bruderliebe, wenn sie ihr Maß und ihre Schranke und den Lauf ihres Waßers verliert. Die Liebe stirbt, oder wird schaal, unbefriedigend und eitel, so wie der Mensch nicht Achtung und Ehrerbietung mit ihr verbindet. Freundesliebe, Elternliebe, Kinderliebe, Geschwisterliebe, natürliche oder geistige Liebe bleiben wohlschmeckend, stark, andauernd, langen Lebens, wenn man sich nicht allzusehr nahet, nicht zu sehr in einander auf- und übergeht, mit dem Herzen das Fernen vom Herzen verbindet. Eine wahre Weisheitslehre für alle, die lange lieben wollen, ja eine göttliche Lehre, weil auch die heilige Schrift an andern Orten und in unsrer Epistel Liebe und Ehre verbindet, und diejenigen, welche einander mit Inbrunst der geistigen Verwandtschaft lieben sollen, alsbald ermahnet, einander mit Ehrerbietung zuvor zu kommen. Das eben ist heiliges, göttliches Gemeindeleben, wenn die Brüder vermögen mit wallendem Herzen einander entgegen zu gehen, und mit Ehrerbietung vor einander zurückzutreten. Ueber die Pforten der Gottesstadt könnte man schreiben: Liebe und Achtung! –

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 Hier stehen wir nun, meine Freunde, beim Inhalt des elften Verses, des dritten und letzten im zweiten Teil unsers Textes. Das Gemeindeleben ist Liebe; doch aber finden sich noch drei Züge aus demselben angegeben, die nicht fehlen dürfen. St. Paulus zeichnet sie mit kurzen Worten: „Im Eifer ohne Zaudern, im Geiste brennend, dem HErrn dienend.“ So sollen alle Gemeindeglieder sein; der Eifer ist etwas andres als der Geist; man kann auch eifrig sein, ohne den Geist; Geist ist mehr als Eifer; Eifer ist menschlich, der Geist aber, von welchem hier die Rede ist, ist göttlich. In einer Gemeinde aber, wo es ist, wie es sein soll, ist

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/110&oldid=- (Version vom 1.8.2018)