Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[803]

No. 51.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die Gasselbuben.

Geschichte aus den bairischen Vorbergen.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


„Ja – ich bin’s gewesen … ich hab’s gethan …“ rief Wendel in angstvollen Lauten hinwider, und die Hände vor’s Antlitz schlagend, brach das Mädchen in den Stuhl zusammen und wimmerte:

„O Du liebster Vater im Himmel droben … Du! Also doch Du … der gute brave Wendel und doch … o – o, es ist ja nit möglich, nit möglich …“

„Jetzt, wo’s geschehen ist,“ fuhr er in abgerissenen Sätzen fort, „jetzt weiß ich, jetzt begreif’ ich’s selber nimmer, wie’s möglich gewesen ist … aber das hitzige Blut, das mir allemal gleich in den Kopf steigt, das ist an Allem schuld! Du hast bitter Recht gehabt, wie Du mich gestern gewarnt hast … Dein Vater hat mich schlecht gemacht vor allen Leuten und unschuldiger Weis’ – da bin ich hinaus wie ein Wahnsinniger und hab’ schier nichts von mir gewußt; erst wie ich den Feichtenhof vor mir gesehen hab’, bin ich wieder zu mir selber ’kommen. …“

Christel unterbrach ihn nicht, sie lag, das Gesicht auf die Arme gebeugt, auf dem Fenstersims – nur das Schüttern des Nackens und leises Schluchzen verriethen, daß sie lebte und hörte.

Wendel fuhr in dem traurigen Bekenntniß fort, er mußte die zermalmende Last von seiner Seele wälzen – es war, als würde ihm eine Erleichterung zu Theil, wenn noch ein Herz unter der Jammerbürde seufze. Er erzählte, wie er hastig seine Sachen gepackt und dann, ohne noch umzublicken, fortgeeilt sei, gerade aus bis auf eine Waldblöße … dort habe er sich unter einen Baum hingeworfen und geweint, daß es einen Stein hätte erbarmen müssen! Es habe ihm fast das Herz abgedrückt, daß er so fort müsse – fort, ohne von Christel Abschied genommen und ihr den Groll abgebeten zu haben, dessen Unrecht ihm immer klarer vor die Seele trat! Da habe es ihn mit unwiderstehlicher Gewalt gefaßt und nach dem Feichtenhof zurückgezogen – er wollte die Geliebte wenigstens noch einmal sehen und ihr Lebewohl sagen. Unbemerkt war er wieder an den Hof gelangt und durch ein lose gewordenes Brett in die Scheune geschlüpft; im Heu versteckt, wollte er Christel’s Heimkehr und die Nacht abwarten, um dann zu ihrem Fenster zu klettern. Indessen war draußen das Gewitter in voller Macht ausgebrochen und über dem Brüten und Warten hatte auch in seinem Innern der Sturm auf’s Neue zu toben begonnen. Der alte Schmerz kehrte wieder, daß er, obwohl ohne Schuld, gleich einem Verbrecher in die Welt gestoßen, hinausgejagt sei, wie ein herrenloser Hund … der Schmerz steigerte sich zum Grimm, wenn er die Ursache bedachte, wegen deren ihm das widerfuhr und die keine andere war, als seine Armuth. Keine Schranke lag zwischen ihm und der Geliebten, wenn er ihr Reichthum zu bieten hätte oder wenn auch sie arm geworden, wie er. … Der letzte Gedanke verließ ihn nicht mehr; gleich einer Schlange, die ihren Ring immer höher hinan und immer enger um ihr Opfer schnürt, preßte es ihm das Herz immer wilder, immer gewaltsamer zusammen - kaum wissend, was er that, hatte er Stahl und Stein hervorgezogen … im nächsten Augenblick sprühten Funken, glimmte der Schwamm und war im Heu versteckt. … Er selber stürzte wieder dem Walde zu … dort, auf derselben Waldblöße, wo er vorher gelegen, brach er unter dem Baum zusammen. …

Das Gewitter war majestätisch vorübergegangen … das weite herrliche Land athmete erfrischt und duftend auf, die Bäume funkelten in den letzten Regentropfen wie mit Edelsteinen bestreut; ein frischer, kühlender Lebensstrom rauschte durch die Wipfel und jagte an dem wieder hell und blau gewordenen Himmel die letzten Gewölkstreifen gegen die Berge hinein – dort verhallte das letzte feierliche Rollen des Donners, dort um die Bergstirnen hing die letzte Gewitterwolke und spiegelte auf ihrem dunklen Grunde den siebenfarbigen Lichtbogen des Friedens zurück. Die ganze Natur beging eine Feierstunde und all’ das Wehen und Rauschen, das Rollen und Sausen, Leuchten und Glänzen schien mit einem Male, als wären sie lebende Wesen und bekämen Stimmen, und all’ diese Stimmen tönten zusammen und riefen dem Unseligen unter dem Baum mit dem Worte des Predigers, das in seinem Ohr geschlafen hatte, zu: Heilig, heilig, heilig ist Gott Zebaoth – Himmel und Erde sind seiner Herrlichkeit voll. …

Und er selbst, wie stand er da in dieser herrlichen Welt – ein schändender Flecken in all’ der Pracht! Er allein unwürdig, daß ihn die erhabene Sonne beschien. …

Da gingen ihm die Augen auf zur Erkenntniß – mit zerschmetternder Wucht wie ein stürzender Berg überfiel die Reue sein Herz und was er gethan, lag unverhüllt vor ihm in seiner ganzen ungeheuren Schändlichkeit. Er war wirklich geworden, was ihn der Bauer genannt – er hatte ein Verbrechen begangen, das ihm das Glück erringen sollte und das doch, wie er plötzlich [804] mit der vernichtenden Klarheit des Blitzes erkannte, zwischen dem Glück und ihm eine unausfüllbare Kluft aufgerissen hatte. …

„Da ist mir gewesen,“ schloß Wendel die entsetzliche Beichte, „als wäre Jemand bei mir gewesen und hätt’ mir in Einem fort in’s Ohr geschrieen: Kehr’ um! Vielleicht ist es noch Zeit … vielleicht kannst Du’s noch ungescheh’n machen … kehr’ um! Da bin ich wieder zurück zum Feichtenhof … mehr todt als lebendig! Ich hab’ gemeint, die Kniee brechen mir ein, wie ich ihn von fern hab’ liegen sehen, denn ich hab’ nit anders gedacht, als daß jeden Augenblick das Feuer daraus aufschlagen wird. … Aber ich bin noch hingekommen, bin hinein in den Stadel … das Heu muß nit ganz trocken gewesen sein, es hat wohl an allen Ecken geglost … es hätt’ nur ein Lüft’l gebraucht, so hätt’s angefangen zu brennen … da hab’ ich Alles ausgedrückt und ausgetreten mit Händen und Füßen, dann bin ich wieder hinaus in den Wald und auf die Knie’ niedergefallen und hab’ unserm Herrgott gedankt …“

Christel hatte sich staunend aufgerichtet. „Wie? Du hast es wieder ausgelöscht?“ fragte sie hastig. … „Wie ist es aber doch gekommen, daß …“

„Weil unser Herrgott,“ murmelte Wendel dumpf, „von mir nichts mehr wissen will, weil er mein Gebet verworfen hat und meine Reu’ … es muß doch ein Funken übrig geblieben sein und muß gefaßt haben … mitten unter meinem Beten hat das helle Feuer aufgeschlagen vor meinen Augen …“

Er verstummte; auch das Mädchen wußte und vermochte nichts zu erwidern; wie sie im gemeinsamen Entzücken verstummt waren, hielt auch der Schmerz sie gleichmäßig schweigend gebannt.

„O Du armer, armer Mensch,“ rief Christel zuerst, „hat’s so weit kommen müssen mit Dir! Wie hast Dir selber so ’was anthun können!“

„Wie?“ rief Wendel entgegen; „Du red’st nur von mir und giebst mir nit einmal ein einzig’s hartes Wort? O Du leibhaftiger Engel vom Himmel herunter! Aber ich will all’ meiner Lebtag nichts thun als arbeiten und wenn mir das Blut aus den Fingern spritzt, ich will nit rasten, bis ich Alles wieder ersetzt und gut gemacht hab’ …“

„Thu’ das, Wendel,“ sagte das Mädchen ergriffen, „aber thu’s wegen Dir selber! Mir ist es nit um den Reichthum, um das bissel Hab’ und Gut … das verzeih’ ich Dir, aber daß Du – Du, den ich für den bravsten Menschen gehalten hab’, auf den ich Häuser gebaut hätt’, daß Du Dich selber so hast zu Schanden gemacht. … O Wendel, Wendel, Du wirst viel thun müssen, wenn ich Dir das verzeihen soll. … Jetzt ist es freilich wahr, daß Du fort mußt, in die Welt, über’s Meer, in ein Land, wo Dich Niemand finden kann!“

„Fort! Von Dir fort!“ klagte er. „Ich werd’s nit können, Christel … ich seh’s jetzt erst ein, was das heißt! – Ich kann nit leben ohne Dich!“

„Du wirst es müssen,“ entgegnete sie traurig, „Du hast uns das Schicksal selber aufgesetzt! Und Du mußt eilig fort, Du hast keinen Augenblick zu versäumen. … Geh’, geh’, mich überkommt auf einmal eine unbeschreibliche Angst, als wenn mir noch ein großes Unglück bevorstehn thät. … Wenn sie Dich finden, wenn ich sehn müßt’, wie sie Dich gebunden fortschleppen … es wär’ mein Letztes … Wendel, ich bitt’ Dich um Gotteswillen, befrei’ mich von der Angst und geh’ …“

„Ich gehe schon,“ erwiderte er zögernd, „ich will ja gehn – sag’ mir nur noch ein einziges Mal, daß Du mich nit verachtest, Christel … daß Du mich nit ganz und gar verloren giebst – daß Du nit im Zorn an mich denken willst …“

„Mach’, daß Du Dir’s selber verzeihen kannst,“ sagte sie weich, „von mir aus ist Dir Alles verziehen – ich werd’ Dich nie vergessen, Wendel, da hast meine Hand darauf! … Ach Du lieber Gott, ich könnt’s ja nit, wenn ich auch wollt’ …“

Sie streckte die Hand durch’s Gitter, die er ergriff und mit Küssen bedeckte; als sie dieselbe sachte zurückzog, kam sie wie zum Segen auf seinen Scheitel zu liegen.

„B’hüt’ Dich Gott,“ schluchzte sie, „wenn es sein kann, laß mich von Dir ’was hören – und denk’ an mich. …“

Sie wankte vom Fenster hinweg; wohl rief die vertraute Stimme draußen zärtlich ihren Namen und bat um einen letzten Blick, ein allerletztes Lebewohl; sie zwang sich zu schweigen, bis das Geräusch des endlich sich Entfernenden sich verloren hatte – dann horchte sie noch einige Augenblicke in die Nacht hinaus und sank, von Schwäche überwältigt, auf das Bett. … Bald jedoch erhob sie sich wieder und begann sich zu entkleiden, hielt aber auch damit inne, indem sie sich mit der Hand über die heiße Stirn fuhr.

„Es wird heut’ Nacht doch nichts werden mit dem Schlafen,“ sagte sie vor sich hin, indem sie den Docht der Lampe aufstörte und nach einem alten vergriffenen Buch langte, das darüber auf dem Simse lag. „Ich will beten. …“

Sie wollte sich auf’s Bett setzen, aber sie erreichte es nicht – der Flügel des Kleiderschranks öffnete sich und Domini stand vor ihr.

„Jesus. …“ schrie sie entsetzt und wollte der Thür zu, aber Domini hatte ihr den Weg vertreten und verschlang mit höhnischen Blicken die Gestalt der halb Entkleideten. …

„Geb’ sich die Jungfer keine Müh’ und mach’ Sie keinen Lärm,“ sagte er, „jetzt haben wir Zwei ein Wort unter vier Augen miteinander zu reden!“

„Mensch,“ stammelte sie, kaum ihrer Sinne mächtig, „wie kommst Du hieher? Was willst Du von mir?“

„Was ich will?“ fragte er höhnisch entgegen. „Was sollt’ ich sonst wollen, als Dich, Du zimpferlicher Schatz … meinst, ich hätt’ umsonst den Weg ausspionirt in Deine Kammer?“

„Elender Bursch’,“ rief sie in Zorn auflodernd, „den Augenblick gehst Du aus der Kammer oder ich schreie Alles im Hause wach …“

„Das läss’st Du schon bleiben, Schatz,“ entgegnete er näher tretend, „das ist nit Dein Ernst! Gehn könnt’ ich wohl – aber weißt Du, wohin ich dann gehe? Geraden Wegs auf’s Landgericht, damit sie Deinen saubern Gasselbuben, den Mordbrenner, packen und ihn Dir in Ketten und Banden herbei führen …“

„Heilige Mutter!“ rief Christel und mußte sich am Bettpfosten halten, um nicht umzusinken.

„Aha – giebst es jetzt wohlfeiler?“ fuhr Domini fort. „Ich glaub’s! Du hast wohl Deinen Vater aufgeredt, daß er sein Wort zurückgenommen hat, und hast ihm gesagt, Du nimmst mich niemals und hättest einen völligen Abscheu vor mir … aber ich denk’, ein bissel was wird schon davon abgehn, daß wir einen Handel machen können! Den Wendel kannst doch einmal nit haben – also gieb mir freiwillig Dein Jawort, und ich hab’ von Allem nichts gehört …“

„Nein, nein … in Ewigkeit nit …“ rief Christel mit einer Geberde des Abscheus.

„So?“ fragte Domini und that, als wolle er sich zur Thür wenden, hielt aber inne, als sie eine Bewegung machte, ihn dennoch zurückzuhalten. „Geschwind,“ fahr er fort, „wenn Du Dich anders besonnen hast, so sag’s; ich kann das lange Herumzerren nit leiden, bei mir muß Alles fein lüftig gehn. … Also willst oder willst nit?“

Durch Christel’s Sinn schwirrten und schwankten die verschiedensten Gedanken, wie sie der Gewalt des Schändlichen zu entrinnen vermöchte; jeder ward schon im Entstehen wieder unterdrückt, denn keiner vermochte, das unselige Geheimniß, dessen Mitwisser er geworden, in ihm zu verschließen. Sie wollte und wollte nicht; sie schwankte zwischen Ja und Nein, wie zwischen zwei Bechern mit verschiedenen Giften gefüllt – sie wußte selbst nicht, wie es geschah, aber ihre Lippen bewegten sich und es klang von ihnen: „… Ich will …“

„Die Hand darauf?“ rief Domini triumphirend.

„Hier ist sie …“ stammelte sie mit erlöschender Stimme … „aber jetzt fort von mir … fort aus der Kammer hinaus – im Augenblick …“

Sie wollte ihm die Hand wieder entziehn, aber er hielt sie lachend fest und zog sie näher an sich, so kräftig sie ihn auch von sich abstemmte. „Oho,“ rief er, „so haben wir nit gewettet! Jetzt bin ich einmal da, und will für Dein Wort ein Unterpfand …“

„Bösewicht!“ rief sie, seiner sich ungestüm erwehrend, aber er kehrte sich nicht daran und faßte sie immer kecker um den Leib … „Wer steht mir denn gut,“ höhnte er, „daß es Dich bis morgen nit reut? Daß Du mir nit morgen Alles aus dem Gesicht heraus leugnest? Ich geh’ nit von Dir, eh’ ich nit sicher weiß, daß daß Du nimmermehr loskannst von mir …“

Nirgends ein Ausweg, nirgend eine Hülfe – und immer wilder umschlang er die verzweifelt Widerstrebende, der mit der ermattenden Kraft zuletzt auch die Besinnung schwand – –




[805]
4.0 Unter der Sichel.

Der Juni war gekommen und hatte den Sommer mitgebracht, aber eingehüllt in schwüles brütendes Gewölk, das nicht die Macht besaß, sich zu Gewittern zu ballen, und sich dafür desto häufiger in mächtigen Regengüssen entlud, welche tagelang den Himmel in ödem, trübseligem Grau, wie in den Falten eines Trauerschleiers, verbargen. In der Ebene brausten Glonn und Mangfall breiter und rascher dahin, denn die Bergwasser kamen voller zu Thal und die verdeckten Untiefen der Moosgründe hatten sich leise ansteigend gefüllt, daß sich die braunen Fluthen nun über die Gestade wälzten, wo die Büsche in der Strömung wankten, und die zur Reife vergilbenden Saathalme sammt den dazwischen gestreuten rothen Mohnhäuptern sich verwundert schüttelten, weil sie unter sich die mütterliche Scholle nicht mehr gewahrten, der sie gemeinsam entkeimt. An den Höhen zog es in dunstigen Streifen hin, ein undurchdringlicher Vorhang, den nur manchmal ein rascher Windstoß hob oder ein flüchtiger Sonnenstrahl zerriß; dann war zu erkennen, daß die alten treuen Berge auch ungesehn auf ihrem Posten standen, daß sie in der Regenluft ganz nahe herantraten, als wären sie in schwarzblauen Stahl gerüstet, um dann, wenn sie gesehn, daß das Land wie sonst wohlbehütet vor ihnen lag, sich wieder den Wolkenmantel um die Felsenschultern zu schlagen.

Wie ein dunkler Rahmen zu einem Bilde der Trauer stimmte der trübe Himmel zu dem noch immer unheimlichen Anblick, welchen der zerstörte Feichtenhof darbot. Zwar waren die Spuren des Brandes so ziemlich beseitigt: das verkohlte Gebälk lag seitwärts aufgeschichtet, die Mauern, welche nicht mehr verwendet werden konnten, waren abgebrochen und weggeräumt, und auf dem unversehrt gebliebenen Grunde stieg statt ihrer schon ein rasch wachsendes neues Gemäuer empor, aber über dem Ganzen lag doch noch ein Hauch des Trübsinns, wie die Blässe auf dem Antlitz des halbgenesenen Kranken, in dem der verborgene Kampf noch fortdauert, ob die Lebensröthe des Blutes in den Wangen wiederkehren oder für immer der Erstarrung weichen soll und dem Tode. Die Unordnung und die Zerstörung, welche fast allem menschlichen Schaffen vorausgeht, um der neuen Schöpfung Raum zu gewinnen, die mancherlei Vorbereitungen und Gerüste boten ein ungastliches Bild, um so mehr, wenn, wie im Augenblick, wegen der Mittagsruhe der Arbeiter und Maurer das Geräusch und Rufen ihrer Thätigkeit verstummt war; auch sonst war es rings umher still, sogar die Vögel, die sonst wohl noch den Rest der Brütezeit auf Hecken und Bäumen verzwitscherten, schienen, erst durch die grelle Feuersgluth und dann durch die stete Arbeit verscheucht, sich einen andern Sing- und Spielplatz gewählt zu haben.

Unter der Thür des Zubauhauses in einem schlechten Lehnstuhl saß der Feichtenbauer; das Leiden in seinen Händen war wiedergekehrt und hatte auch den Weg in die Beine gefunden, daß sie ihn nicht mehr zu tragen vermochten und er, mit all’ seinem Groll und Grimm an den Stuhl und in die Stube gebannt, es schon als eine große Erleichterung fühlte, wenn er mindestens im Freien sitzen und sich an dem heranwachsenden Neubau weiden konnte, dessen baldige Vollendung die Mitte seines ganzen Denkens und Trachtens geworden war. So hatte er Zeit genug, darüber zu grübeln, ob der Bader Recht hatte, wenn er behauptete, die Verschlimmerung seines Zustandes sei die Folge der im Bergwirthshause begangenen Unmäßigkeit, des Schreckens und der andauernden Zornaufregung – oder ob, wie sein einsames Gewissen ihm zuflüsterte, er darin Strafe und Vergeltung dafür zu erkennen habe, daß er sein Gelöbniß so schlecht oder eigentlich gar nicht erfüllt hatte. Sein einziger Trost, seine Freude und Hoffnung war, sich das Haus fertig zu denken, er sah dann schon den Kranz mit den Bändern beim Hebwein von dem frisch aufgesetzten Dache flattern und malte sich aus, wie er wieder thätig sein, in Acker, Scheune und Stall schaffen und wirken oder doch, wenn Christel die Herrin und Bäurin geworden, dem gedeihlichen Wirken und Schaffen junger Kräfte zusehen und sich daran erfreuen wolle. Allerdings war ihm auch diese Aussicht durch die Gedanken an den künftigen Eidam getrübt, denn seit am zweiten Morgen nach dem Brande Christel plötzlich vor ihn getreten war und ihm erklärt hatte, daß sie ihren Sinn geändert und bereit sei, nach dem Willen des Vaters Domini die Hand zu reichen – seitdem war eine eigenthümliche Veränderung in ihm vorgegangen; mit dem Widerstand, der sich seinem Plane entgegengesetzt, schien auch der Reiz desselben geschwunden zu sein und es geschah nicht selten, daß er selbst nicht mehr recht begreifen konnte, was ihm denn an Domini so besonders gefallen. Wenn er auch seinem Versprechen gemäß einige Tage nach dem Brande wirklich gekommen war und mit lachendem Mund dreitausend Gulden in blanken Thalern und nagelneuen Bankzetteln auf den Tisch gelegt und ihm dadurch den raschen Angriff des Neubaus gar sehr erleichtert hatte, so war doch an dem ganzen Gebahren und der immerwährenden Lustigkeit des Metzgers etwas, was ihm nicht behagte – die früher so laut belachten Späße kamen ihm übertrieben, die so gern vernommenen Schilderungen und Geschichten langweilig vor, und wenn er so recht treuherzig und bieder sprach und ihm die Hand hinstreckte, mußte er immer unwillkürlich an eine Katze denken, welche an der dargebotenen Schmeichelpfote die Krallen versteckt.

Auch sonst wohl war in seinem Gemüthe Vieles mürber und weicher geworden; es glich jener Art von hartem Ackerland, das einen leichten Regen einsaugt und verdunstet und das, um für Saat und Ernte empfänglich zu werden, eindringender Güsse und Erschütterungen bedarf. Das Eine, worin er sich unverändert gleich geblieben, war der Haß und die Wuth gegen den Urheber des Brandunglücks, als welchen er in unumstößlicher Gewißheit Wendel ansah, wenn er ihn auch nicht nannte. Als er noch einmal eine Andeutung seines Verdachtes ausgesprochen, war ihm Christel in höchster Erregung[WS 1] und wie außer sich entgegengetreten und hatte mit der Drohung, sich ein Leid anthun zu wollen, das Versprechen ertrotzt, daß davon nie mehr die Rede sein solle, aber auch ungenannt war es nur der verhaßte Knecht, welchem die wilden Zornausbrüche galten, in denen sein verhaltener Groll sich manchmal Luft machte.

Aergerlich zählte er jetzt die Minuten, durch welche wegen des Mittagsmahls der Arbeiter die Förderung des Baus unterbrochen war, und durch den feinen durchdringenden Regenschauer, der eben niederzurauschen begann, sah er unter dem schützenden Dachvorsprunge nach dem Wahrzeichen des Hofes, der großen Fichte hin, von deren unteren angebrannten Aesten die Nadeln abgefallen waren, so daß zwischen dem schwarzen dürren Holze der Blick bis auf die noch immer unvernarbte Wunde des Stammes zu dringen vermochte.

Eben kam ein Knecht von der Hinterstube, wo die Dienstboten ihre Mahlzeit gehalten, über den Hofraum gegangen und schritt, die Säge in der Hand und ein starkes Beil auf der Schulter, der Fichte zu, an deren Fuß er das Werkzeug niederlegte und dann etwas zurücktrat, als wolle er die Höhe des Baumes und die Entfernung bemessen, bis zu welcher derselbe im Sturze reichen würde.

„Was will denn der Hans Narr?“ murmelte der Bauer. „Ich glaub’ gar, er hat was im Sinn mit der Hof-Feichten? (Fichte.) He da, Pauli!“ rief er ihm laut zu, als der Knecht wirklich Anstalt machte, die Stelle für den ersten Beilhieb auszusuchen. „Was treibst Du denn? Auf der Stell’ gehst Du mir von der Feichten weg und kommst da her zu mir!“ Der Knecht gehorchte zögernd und mit schlecht verhehltem Widerwillen.

„Was werd’ ich treiben?“ sagte er. „Es regnet wieder, man kann nicht hinaus in’s Feld – da hab’ ich gedacht, es wird das Beste sein, ich hau’ die Feichten um!“

„Kreuzbirnbaum!“ rief der Alte und wollte aufspringen, uneingedenk der starren schmerzenden Kniee, die es ihm unmöglich machten. „Die Hof-Feichten umhauen? Ich glaub’, Du bist übergeschnappt! Seit wann ist es denn der Brauch, daß man auf meinem Hof die Bäum’ so umhaut, mir nichts, Dir nichts und ohne mich zu fragen?“

„Ich hab’ gemeint, Ihr werdet wohl drum wissen,“ erwiderte der Knecht gleichmüthig. „Der Herr Domini hat’s angeschafft…“

„So? Der Herr Domini?“ schrie der Bauer mit schallender Stimme, die allein seiner Heftigkeit den Dienst noch nicht versagte. „Freilich, was der anschafft, das muß geschehn! Er denkt gewiß, er braucht nichts mehr zu thun, als zu commandiren? Da ist er doch ein bissel zu früh an den Tupfer gekommen! Noch bin ich Herr und Vogt auf dem Feichtenhof und die Dienstboten, die bei mir sind, müssen thun, was ich haben will!“

„Meinetwegen!“ entgegnete der Knecht und nahm das Beil wieder auf die Schulter. „Von mir aus steht die Feichten gut – lang’ wird’s doch nimmer dauern damit, das Feuer hat ihr weh gethan und bis zum Herbst ist sie lang abgestanden, sie fangt ja schon an, ganz dürr zu werden am Gipfel …“

[806] „Nit wahr ist es!“ rief der Alte zürnend. „Das bissel Hitz’ hat der Feichten nichts gethan – die hat einen gar gesunden Kern! Und wenn Du von gipfeldürr werden redst, Du Dummkopf, so kannst Du gehn und Dich getrost um ein Paar andere Augen umschaun! Die Feichten muß sich erholen und sie erholt sich auch … bis der neue Hof unter Dach ist, kennst Du ihr nichts mehr an; nachher komm’ zu mir, daß ich Dich recht auslachen kann, ich zahl’ Dir einen Kronthaler, wenn Du mir das Vergnügen machst!“

Der Knecht entfernte sich schweigend; in der Thür, durch das laute Gespräch herbeigerufen, stand Christel und mahnte den Vater, in’s Haus zu kommen, die feuchte Regenluft könne ihm schaden.

Wer das Mädchen vor wenigen Wochen gesehen, an dem frischen Maimorgen unter den hoffnungsgrünen Linden der Wallfahrtskirche, frisch und hoffnungsreich, wie beide, der hätte wohl Mühe gehabt, in dieser wie vom Tragen schwerer Lasten ermüdeten Gestalt, in diesem kalt ernsthaften, um nicht zu sagen, finstern Angesicht sie wieder zu erkennen. Sie war noch immer schön, aber die Schönheit war eine andere geworden; das übervolle braune Haar erschien noch glänzender, weil es durch die fast durchscheinende Weiße des Gesichts noch mehr hervorgehoben wurde; das Blau der Augen war dunkler geworden, wie das Wasser eines sonst durchsichtigen Bergquells über einer geheimnißvollen Untiefe seines Grundes.

Mühsam und ächzend erhob sich der Alte und wankte, von Christel unterstützt, dem Hause zu. „Hast Du es gehört,“ sagte er, „was der Domini sich unterstanden hat? Er will die große Feichten umhauen, das Wahrzeichen von …“

„Ich hab’ Alles gehört,“ entgegnete das Mädchen kalt; der Bauer aber rief spottend nach: „Ich hab’ Alles gehört? Und das sagst Du so gleichgültig, als wenn gar nichts dahinter wär’? Aber ich will es ihm eintränken! Ich will ihm zeigen, daß ich auch noch ein Wört’l mitzureden hab’! Was bild’t sich denn der Bursch’ ein, der übermüthige!“

„Was braucht er sich einzubilden!“ sagte Christel wie zuvor, aber mit einem Anfluge von Bitterkeit. „Er weiß ja, daß er bald Herr sein wird vom Feichtenhof … was liegt also daran, wenn er den Herrn schon um ein paar Wochen früher spielt!“

„Christel,“, rief der Alte, indem er sich von ihr losmachte, „mach’ mich nit Du auch noch harb’ mit Deinem Gered’! Du kannst es lang wissen, daß mir die Lust vergangen ist mit dem Domini und daß ich schon gern abgebaut hätte mit ihm … aber Du bist das lebendige Widerspiel und weil ich nimmer will, hast Du Deinen Kopf aufgesetzt und bleibst dabei, daß er durchaus Dein Mann werden soll! Wegen was thust das? Ich brauch’ nit mehr aufzupassen auf ihn, der Herr Pfarrer hat mir Kirchengeld versprochen, so viel als ich will – das kann ich jede Stund’ haben und den Domini damit hinauszahlen! Ich bin erst dahinter gekommen, daß er nit viel besser ist als ein Lump! Er hat gesagt, er müßt’ wieder hinein in’s Tirol, zu seinem Vater … gestern aber hab’ ich’s erfahren, daß es nit wahr ist, daß er im Land herumvagirt und in den Wirthshäusern zecht und spielt ...“

„Ich weiß, Vater,“ sagte Christel kaltblütig wie zuvor.

„So – weißt Du’s?“ eiferte er. „Und daß er die Susi mit herumschleppt, die liederliche Dirn’, die sich von uns fortgelogen hat … weißt’ das auch?“ Sie schwieg – aber aus ihrem Schweigen sprach die Bestätigung. „Und doch willst Du, daß er Dein Mann werden soll?“ fuhr er noch heftiger fort. „Kreuzbirnbaum, das ist mir zu rund! Hast Deinen Verstand verloren, Madel – oder was steckt da dahinter?“

Ein Steinführer, der eben eine Ladung Ziegel abgeleert hatte, kam herzu sich den Lieferschein bestätigen zu lassen und unterbrach das Gespräch. „Weißt schon die Neuigkeit, Feichtenbauer?“ sagte der Mann, während der Bauer den Zettel überflog „Wie ich gerad’ gehalten hab’ unten am Berg’ und hab’ eine Halbe getrunken, ist der Gerichtsdiener auch hinein gekommen in die Zechstuben und hat’s erzählt … sie haben ihn …“

„Sie haben ihn? Wen?“ fragte der Bauer verwundert, während eine böse Ahnung Christel das Blut in die Wangen jagte und es ihr vor den Augen flirren machte.

„Ha, wen sonst als den Mordbrenner, der Dir den Hof angezündet hat?“ sagte der Fuhrmann. „Er hat durchbrennen wollen, über’s Meer nach Amerika – da ist’s gerad’ noch aufgekommen, sie haben ihn noch eingeholt, jetzt liegt er schon in Ketten und Banden und wird vor’m nächsten Schwurgericht verhandelt … er soll’s auch schon eingestanden haben …“

„Und wer … wer ist es?“ fragte der Feichtenbauer fast athemlos und mit aufblitzenden Augen; die gleiche Frage zitterte unausgesprochen auf Christel’s glühendem Munde.

„Wer wird’s sein! Niemand als Dein früherer Knecht … der Wendel …“

„Der Wendel?“ brach der Alte triumphirend aus. „Also ist er’s wirklich gewesen? Und sie haben ihn schon, und er liegt wirklich schon hinter Schloß und Riegel? O, ich hab’s gewußt! Ich hab’s immer gesagt, so viel man mir’s hat ausreden wollen. … O, wie mich das freut … ich lass’ ein Hochamt lesen, ein levitirtes, weil ich nur das noch erlebt hab’ ... Komm’ herein, Fuhrmann, komm’ mit mir in’s Haus, das mußt mir noch einmal und ganz genau erzählen. …“

Er ging, wie von seinen Schmerzen geheilt, in’s Haus und zog den Fuhrmann mit hinein, unbekümmert um Christel, welche bei Seite gewankt war, ihre Verwirrung mindestens vor den Augen des Fremden zu verbergen. Ihre Stirne brannte, ihr Athem flog, das aufwallende Herz drohte wie im Krampfe das Mieder zu sprengen … ein kühler Windstoß, der ihr den Regen in’s Gesicht warf, gab ihr die Besinnung wieder.

„Hat mir denn geträumt oder hab’ ich das wirklich gehört?“ flüsterte sie dumpf in sich hinein. „Der Wendel ist gefangen ... er soll’s eingestanden haben.… Wie ist denn das möglich? … Aber es muß doch wahr sein … ich hör’, wie der Vater in der Stuben drinn’ lacht und sich freut.… Also hab’ ich ihn nit erretten können und es wär’ Alles umsonst gewesen.… Alles, Alles umsonst? … Und wenn es ist, dann hat’s kein anderer Mensch gethan, als der Domini, dann hat er sein heiliges Wort gebrochen und hat ihn verrathen … der elende Mensch ist zu Allem fähig! … Aber wenn er das gethan hat,“, fuhr sie rascher und wie aufathmend fort, „dann wär’ ich ja auch von meinem Versprechen los und ledig! O mein Gott, dann bin ich ja auch frei von ihm!“ … Ein Funke der Freude wollte in ihrem Gemüthe aufglimmen, aber die einen Augenblick gehobene Last rollte zurück und erstickte ihn … selbst wenn Domini seine Zusage nicht gehalten, wenn er das gelobte Schweigen gebrochen, war sie dann wirklich von ihm befreit? Konnte sie sich ganz und gar lossagen von dem Schändlichen? … Sie vermochte nicht, den Gedanken an’s Ende zu denken; sie war wie der Gefangene, den das Klirren seiner Ketten aus dem Freiheitstraume weckt.… Zorn, Scham, Abscheu umwölkten und verfinsterten ihre Seele … das Heiligste, ihr makelloser Ruf, ihre Ehre hielt sie mit unzerreißbaren Banden an den Elenden geschmiedet; sie war ihm verfallen für immer. …

Die Hand an die Stirne pressend, murmelte sie in zermalmendem Weh vor sich hin: „Es ist Alles vorbei … Alles verloren! O Du heilige Mutter im Himmel droben, hab’ Erbarmniß und mach’ mit mir ein gnädig’s End’ … und das bald … recht bald!“

(Schluß folgt.)




Goethe’s Geliebte in Rom.

Im Jahrgang 1868, Nr. 39, S.617 flg. brachte die Gartenlaube einen Artikel, welcher unter der Ueberschrift „Goethe und die schöne Mailänderin“ eine der reizendsten Episoden aus dem reichen Leben unsers Dichters nach dessen eigenen Andeutungen, wie er sie in seinem „Zweiten Aufenthalt in Rom“ gegeben, anschaulich darstellt und in den weitesten Kreisen Interesse und Theilnahme erweckt hat. Es freut mich, dem erwähnten Artikel eine Illustration nachtragen zu können, eine Illustration, welche zwar den über jener Episode liegenden Schleier nicht ganz hebt (er wird wohl auch niemals ganz gehoben werden können), aber [807] doch lüftet: das Bild der schönen Mailänderin selbst von der eigenen Hand Goethe’s.

Bekanntlich hat die Hinneigung zur bildenden Kunst und insbesondere die Lust zum Zeichnen unsern großen Dichter fast durch sein ganzes Leben begleitet. Wie Schuchardt, der geistvolle Herausgeber des Verzeichnisses von Goethe’s Kunstsammlungen, treffend bemerkt, darf man, wenn man eine Goethe’sche Zeichnung

Goethe’s Geliebte in Rom.
Nach Goethe’s Handzeichnung übertragen von Prof. Thumann.

zur Hand nimmt, zwar kein durchgebildetes Kunstwerk erwarten, aber Erfindung, Composition, Anlage, Andeutung der Farbe sind bei den meisten Zeichnungen, besonders der Landschaften, so beschaffen, daß kein Künstler sich deren zu schämen brauchte. Schwerer als das Landschaftliche fiel ihm das Zeichnen von Figuren. Durch Naturanlage und Uebung gelang ihm wohl ein Umriß, auch gestaltete sich leicht zum Bilde, was er in der Natur vor sich sah, allein es fehlte ihm die eigentliche plastische Kraft, dem Umriß Körper zu verleihen; seine Nachbildungen waren mehr ferne Ahnung irgend einer Gestalt und seine Figuren den leichten Luftwesen in Dante’s Purgatorio ähnlich. Dennoch versuchte er sich selbst im Portraitiren. Durch Lavater’s physiognomische Studien veranlaßt und angeregt, übte er sich darin, die Portraits von Freunden auf grau Papier mit schwarzer und weißer Kreide darzustellen. Die Aehnlichkeit war nicht zu verkennen, doch war die nachhelfende Hand eines künstlerischen Freundes erforderlich, um sie aus dem düstern Grunde hervorzuheben. So befindet sich noch jetzt in Weimar ein Bild Wieland’s vom Jahr 1776, gezeichnet von Goethe. Am 24. Juni 1776 besuchte Wieland den jungen genialen Freund in dessen Garten, und es mag eine gar interessante Scene gewesen sein, als der Dichter des Götz und des Werther den früher angegriffenen, jetzt ihm herzlich befreundeten Wieland malte, im Goethe’schen Garten, im Schatten altehrwürdiger Bäume, in der Nähe blühende Rosen, – fürwahr, selbst ein charakteristisches Bild aus der Genie-Periode Weimars!

[808] Inkognito, allein in einer Postchaise, mit Dachsranzen und Köfferchen, ohne dienende Begleitung, reiste Goethe von Karlsbad am 3. September 1786 ab und ging über die Alpen nach dem Lande seiner Sehnsucht. In Italien fühlte er sich nach und nach kleinlichen Vorstellungen entrissen, falschen Wünschen enthoben, und an die Stelle der Sehnsucht nach dem Lande, der Künste setzte sich die Sehnsucht nach der Kunst selbst. Es war die Zeit, wo sich unter der eifrigen Mitwirkung talentvoller Maler, eines Hackert, eines Tischbein, einer Angelika Kaufmann und Anderer in Rom jene Neugestaltung der Kunst vollzog, die im genialen Carstens ihren Abschluß finden sollte. Mit ganzem Feuereifer gab sich Goethe diesen Anregungen und Bestrebungen hin. Während er seine Iphigenie vollendete, widmete er sich zugleich der Malerei mit aller Leidenschaft.

Von Neapel, von Sicilien nach Rom zurückgekehrt, verweilte er vom 6. Juni 1787 bis 22. April 1788 zum zweiten Male in der ewigen Stadt. In Rom und auf den Ausflügen nach Tivoli, Albano etc. übte er sich unter Hackert’s Anleitung im Landschaftszeichnen nach der Natur und, als die menschliche Gestalt ihn vor Allem interessirte, im Figurenzeichnen und Modelliren. Schon am 16. Juni, kaum wieder in Rom, schreibt er von dort: „In Tivoli war ich mit Hackert, der eine unglaubliche Meisterschaft hat, die Natur abzuschreiben und der Zeichnung gleich eine Gestalten geben. Ich habe in diesen wenigen Tagen viel von ihm gelernt. Er hat mich gelobt und getadelt und mir weitergeholfen.“ Das A und O aller uns bekannten Dinge (wie er sich ausdrückt), die menschliche Figur fesselte ihn, er entschloß sich zum Modelliren und freute sich nicht wenig, als ihm die Zeichnung eines Köpfchens nach Gyps gelang. „Meine erste Angelegenheit ist und bleibt, daß ich es im Zeichnen zu einem gewissen Grade bringe, wo man mit Leichtigkeit Etwas macht und nicht wieder zurücklernt, noch so lange stillsteht, wie ich wohl leider die schönste Zeit des Lebens versäumt habe. Doch muß man sich selbst entschuldigen. Zeichnen um zu zeichnen wäre wie reden um zu reden. Wenn ich nichts auszudrücken habe, wenn mich nichts anreizt, wenn ich würdige Gegenstände erst mühsam aufsuchen muß, ja mit allem Suchen sie kaum finde, wo soll da der Nachahmungstrieb herkommen? In diesen Gegenden muß man zum Künstler werden, so dringt sich Alles auf.“

Die Anregung zum Portraitiren sollte er bald genug in Castel Gandolfo in anmuthigster Weise empfangen. – Man hat ihm aus diesen Bemühungen, in der Malerei sich auszubilden, den Vorwurf der Zeitvergeudung gemacht, gewiß aber mit Unrecht. Wohl hatte ihm die Natur ein wahrhaftes productives Talent für die bildende Kunst versagt, er war von ihr nicht zum Maler geschaffen; indem er aber sich im Zeichnen nach der Natur auszubilden emsig und unter verständiger Leitung tüchtigster Künstler bestrebt war, bildete er überhaupt seine Natur- und Kunstanschauung harmonisch aus, was seine Dichtungen förderte und veredelte. Das fühlte er selbst auch recht wohl. „Daß ich zeichne, und die Kunst studire“ – schrieb er von Rom „hilft dem Dichtungsvermögen auf, statt es zu hindern: denn schreiben muß man nur wenig, zeichnen viel. Wenn ich bei meiner Ankunft in Italien wie neugeboren war, so fange ich jetzt an, wie neuerzogen zu sein.“

Noch ehe er nach Castel Gandolfo ging, am 5. September, hatte er seine Umarbeitung des Egmont vollendet.

Sein damaliges Leben gleicht einem Jugendtraum und erschien ihm selbst einem Jugendtraum völlig ähnlich. Nur Eines fehlte noch in diesem Traum gänzlich: Beziehungen zum schönen Geschlecht. Einen Abguß des kolossalen Junokopfes, wovon das Original in der Villa Ludovisi steht, hatte er bei sich, ausgestellt und nennt denselben „seine erste Liebschaft in Rom“. Andere Liebschaften vermied er. „Ich scheue mich,“ gesteht er in den Briefen von dort, „vor den Herren und Damen wie vor einer bösen Krankheit, es wird mir schon weh, wenn ich sie fahren sehe.“ „Die italienischen Mäuschen, “ schrieb er ferner, „haben ihre Eigenthümlichkeiten; vor zehn Jahren hätten einige passiren können; nun ist diese Ader aber vertrocknet.“ Er hielt sich von Frauen „bis zur trocknen Unhöflichkeit“ fern. Als er aber im October zur Villeggiatur nach Castel Ganholfo gegangen, war es mit dieser kühlen Zurückhaltung vorbei. Am 8. October schrieb er von dort:. „Wir leben hier, wie man in Bädern lebt, nur mache ich mich des Morgens bei Seite, um zu zeichnen; dann muß man den ganzen Tag in der Gesellschaft sein, welches mir denn auch ganz recht ist für diese kurze Zeit; ich sehe doch auch einmal Menschen, ohne großen Zeitverlust und viele auf einmal.“ Er verschwieg, was ihn eigentlich bewegte; jetzt kann man es aber zwischen den Zeilen lesen. Die blauen Augen der schönen Mailänderin hatten es ihm angethan. Sie sehen und von heftiger Liebe zu ihr entbrennen, war das Werk Eines Augenblicks. Um so größer war das Entsetzen, das ihn ergriff, als er vernahm, daß die Geliebte bereits Braut sei. Doch er hatte Jahre und Erfahrungen genug, um sich, obwohl im tiefen Schmerz, zu fassen. Es wäre wunderbar, sagte er sich selbst, wenn ein Werther-ähnliches Schicksal dich in Rom aufgesucht hatte, um dir so bedeutende, bisher wohlbewahrte Zustände zu verderben! Er zog sich zurück und wandte sich wieder der Kunst zu.

Am 27. October war er wieder in Rom, musterte die Zeichnungen, die er auf dem Lande gemacht, und gab sich neuen landschaftlichen Studien, insbesondere aber dem Interesse an der menschlichen Gestalt hin, welche doch das non p1us ultra alles menschlichen Wissens und Thuns sei. Aber die Gedanken an die Geliebte blieben. Amor war es, der als Landschaftsmaler seinem Auge die Natur und demzufolge auch seine Landschaften durchgeistigte; Cupido, der lose, eigensinnige Knabe, war es, der ihm jetzt so hohe Begeisterung für die körperliche Schönheit des Menschen einflößte er war es endlich, der ihn dazu trieb, das Bild der Geliebten selbst zu zeichnen. Bei Hackert und unter dessen Leitung entwarf er das Bild der lieblichen Mailänderin mit dem hellbraunen oder vielmehr blonden Haar, dem klaren, zarten Teint, den „fast blauen“ Augen, dem offenen, nicht sowohl ansprechenden als gleichsam anfragenden Wesen. Er zeichnete sie „im reinlichen Morgenkleide“, wie er sie zuerst in Castel Gandolfo gesehen. Faßte er jenen Moment in das Auge, wo sie in liebenswürdiger Naivetät zu ihm sagte: „Man lehrt uns nicht schreiben, weil man fürchtet, wir würden die Feder zu Liebesbriefen benützen,“ oder den Moment, wo sie seinem englischen Unterricht aufmerksam schelmisch lauschte? Wer weiß? – So entstand die anmuthigste Aquarelle.

Im November 1787 konnte er wohl von sich sagen, daß er nun fast die rechten geraden Wege zu allen bildenden Künsten, vor sich sehe und erkenne, aber auch nun ihre Weiten und Fernen desto klarer ermesse; er fühlte, daß er zur bildenden Kunst schon zu alt sei, um von jetzt an mehr zu thun als zu „pfuschen“; er entschloß sich, auf das Ausüben der bildenden Kunst Verzicht zu thun, und wandte sich mit allem Feuereifer wieder der Poesie zu. Faust und Tasso beschäftigten ihn nun, sowohl in Rom, als auch nach dem schmerzlichen Abschied vom 22. April 1788 auf der Rückreise nach Weimar. Dahin begleiteten ihn auch seine italienischen Zeichnungen, unter ihnen das Portrait der schönen Mailänderin. Mit dreizehn anderen, in Italien gezeichneten Bildern (Landschaften in Aquarelle und Federzeichnungen: Wasserfall, Parkpartie, Ruinen, Felsengruppen, Säulen u. dergl.) legte er das Bild der Geliebten in ein Paket zusammen. Dort ruhte es siebenunddreißig Jahre.

Am Morgen des 28. August 1825 klopfte Goethe’s ehemaliger Privatsecretär, der Bibliothekar Rath Theodor Kräuter in Weimar, mein Oheim, an die Thür des hochverehrten Dichters. Freudig begrüßte Goethe den Mann, welcher sich mit emsigstem, unverdrossenem Fleiß aus sich selbst heraus gebildet und so hohe geistige Bildung errungen hatte, und nahm von dem treuergebenen Freund seines Hauses die ersten Glückwünsche zum sechsundsiebenzigsten Geburtstag entgegen. Um ihm eine Freude zu bereiten, ihm für alle Zeit ein Erinnerungszeichen zu geben, nahm Goethe jenes Paket Zeichnungen hervor und machte es „seinem ersten Gratulanten“ mit dieser schriftlichen Dedication zum Geschenk. So kam auch das Bild der Mailänderin in den Besitz der Familie Kräuter.

Erst drei Jahre später, im neunundsiebenzigsten Lebensjahre, nahm Goethe die Papiere über seinen zweiten Aufenthalt in Rom zur Hand und stellte sie so zusammen, wie sie im Jahr 1829 gedruckt erschienen. Daß dem fast achtzigjährigen Greis nicht gelingen konnte, die Liebesscene vom Castel Gandolfo nach vierzig Jahren mit dem damaligen jugendlichen Feuer zu schildern, ist natürlich. Gleichwohl machte ihm selbst noch in diesem Greisenalter die Erinnerung daran lebhaftes Vergnügen, und seinem Freund und Vertrauten Riemer sandte er seinen Aufsatz am 24. Februar 1829 für Riemer’s Frau Karoline, geborene Ulrich (die ehemalige [809] Gesellschafterin und Freundin seiner Frau) mit dem brieflichen Bemerken: „Wollten Sie zugleich das artige Liebesgeschichtchen der guten Frau mit meinen schönsten Grüßen mittheilen, so wird es ihr wohl ein angenehmes Viertelstündchen machen.“

Nach Goethe’s Tode waren, außer andern werthvollen Erinnerungszeichen, jene italienischen Zeichnungen, und unter ihnen namentlich auch das Bild der schönen Mailänderin, dem Rath Kräuter und nach dessen Tode seinem Sohne Bibliotheksecretär Dr. Edmund Kräuter theure Andenken an Goethe. Nach den Erläuterungen, welche Letzterer dem Rath Kräuter mündlich gegeben, machte dessen Sohn auf der Rückseite des Bildes die Bemerkung:

Signora Pa… S…z

(Goethe’s Geliebte in Rom)
bei Hackert gezeichnet.

Goethe’s Handzeichnung.“

Als auch mein lieber Freund Dr. Edmund Kräuter dahingeschieden, sind aus seinem Nachlaß die erwähnten Goethe’schen Zeichnungen und unter ihnen auch diese Aquarelle in meinen Besitz übergegangen.

Kann auch der Holzschnitt das anmuthige, leichte Colorit des Bildchens nicht wiedergeben – jedenfalls wird die von der Meisterhand Thumann’s gefertigte ausgezeichnete Copie allen Verehrern unsers Dichters und der schönen Mailänderin eine willkommene Gabe sein.
Robert Keil.




Eine deutsche Colonie in Neuschottland.

In den Vereinigten Staaten von Nordamerika macht das deutsche Element nicht blos einen numerisch sehr bedeutenden Bruchtheil der Bevölkerung aus, sondern hat sich auch staatlich allmählich zu einem solchen Einflusse aufgeschwungen, daß es wohl als keine illusorische Hoffnung erscheint, wenn man den Deutschen die Zukunft der großen transatlantischen Republik vindicirt. Schreitet man dagegen über die nördlichen Grenzen der Union nach dem kolossalen Ländercomplex hinüber, welchen die britischen Besitzungen in Nordamerika umfassen, Canada, Neubraunschweig, Neuschottland, Neufundland, die Hudsonsbailänder, so findet man außer in einigen größeren Hafenstädten kaum noch deutsche Landsleute, überall aber sind sie so zerstreut vertheilt, daß sie der anglosächsischen, in Canada auch der französischen Bevölkerung gegenüber ganz und gar in den Hintergrund treten. Stößt man tiefer im Innern des Landes einmal auf einen Sprößling der alten Heimath diesseit oder jenseit des Maines, so ist das vollends ein Ereigniß, welches man nicht freudig genug begrüßen, nicht hoch genug feiern kann.

In Geschäften war ich von Halifax, der ansehnlichen und sich immer vergrößernden Hafenstadt Neuschottlands, nach dem kleinen Orte Windsor, weiter drin im Lande, gefahren. Meinen Hinweg hatte ich Nachts gemacht, zurück fuhr ich jetzt mit einem Tageszuge der Eisenbahn. Da bemerkte ich mitten im Herzen der traurigen steinigen Wildniß, etwa halbwegs zwischen den beiden genannten Plätzen, eine beträchtliche Anzahl hölzerner Blockhäuser, die offenbar noch nicht lange errichtet waren. Ich frug meinen Reisegefährten im Coupé, einen doppelt und dreifach destillirten Yankee, wie sich der selige Sealsfield ausdrücken würde, was das für eine Niederlassung sei.

„Weiß nicht,“ gab mir der Amerikaner zur Antwort, nachdem er seine Portion Kautabak von einem Kinnbacken zum andern geschoben hatte; „aber das Land sieht jämmerlich und gottverlassen genug aus.“

Der Schaffner konnte mir die gewünschte Auskunft ertheilen. „’s ist German-Town (Deutschstadt),“ sagte er, „und drinnen wohnen fast lauter Deutsche; sie stehen im Dienste einer großen deutschen Bergwerksgesellschaft, die hier auf Gold baut.“

Weiteres wußte auch er nicht, allein man kann sich denken, welches Interesse mir die Kunde einflößte. Als ich am andern Morgen in Halifax die daselbst erscheinende Zeitung, das „Morning Chronicle“, in die Hand nahm, beiläufig ein ganz gut geleitetes und reichhaltiges Blatt, fiel merkwürdiger Weise mein erster Blick auf eine kurze Notiz, die dem Publicum mittheilte, daß ein achthundert Unzen wiegender Goldblock, eine Monatsausbeute aus den Minen der deutschen Gesellschaft, augenblicklich auf dem Bergamte (Government Office of Mines) im Parlamentshause zu allgemeiner Ansicht ausgestellt sei.

Hatte ich schon gestern den Entschluß gefaßt, unsern Landsleuten in German-Town einen Besuch zu machen, so bestärkte mich diese Mittheilung noch mehr in meiner Absicht. Zunächst begab ich mich nach dem Parlamentshause, um mir den riesigen Block zu beschauen und zugleich Näheres über die Colonie zu erfahren, von deren Existenz ich bis jetzt keine Ahnung gehabt hatte. Da hörte ich denn, daß der Bezirk, in welchem diese ergiebigen Goldbergwerke liegen, eigentlich und officiell Waverley, auch wohl Gold-Waverley, im Munde des Volkes aber neuerdings allgemein German-Town heiße, weil er zum großen Theile von Deutschen bewohnt sei. Der Berginspector, der mich als Deutschen erkannte und sah, welche Theilnahme ich seinen Aufschlüssen schenkte, erbot sich liebenswürdig, mich andern Tages selbst nach den Minen zu begleiten, und mir alle ihre Merkwürdigkeiten zu zeigen, – ein Vorschlag, den ich selbstverständlich dankbarst annahm.

Der Morgen unserer Fahrt war entzückend, weder heiß noch kalt, so daß ich im Stillen bedauerte, die Tour nicht zu Fuß machen zu können. Gleich bei Halifax ging es auf einem Fährboote nach der andern Seite der Bucht hinüber, nach dem kleinen Orte Darmouth, wo wir die Fähre wieder verließen, um nun auf einer vortrefflich gehaltenen Chaussee dahin zu rollen. Kurz hinter einander kamen wir an verschiedenen Lagern der Micmac-Indianer vorüber, aus denen uns wohl eine halbe englische Meile weit die jüngeren Sprößlinge männlichen und weiblichen Geschlechts kreischend nachliefen und um „Pennies“ bettelten. Warfen wir ihnen aus unserm Wagen ein paar kleine Münzen hinaus, so entstand darum allemal ein Gerauf und Gebalge, wie ich’s blos noch unter den Straßenbettlern in den beglückten Staaten des Heiligen Vaters gesehen habe, mit dem Unterschiede nur, daß die bettelnden Indianerkinder bei Weitem nicht so schmutzig und verkommen aussahen, wie die kleinen Unterthanen Pio Nono’s.

Die Luft hatte etwas eigenthümlich Erquickliches, und über uns wölbte sich ein kristallklarer blauer Himmel. Nur in Amerika und vielleicht an den afrikanischen Küsten des Mittelmeeres kann man solch tiefes, durchsichtiges Blau wahrnehmen. In Deutschland hat man von dieser Reinheit und Transparenz der Luft wirklich keine Vorstellung. Auf der einen Seite unserer Straße dehnte sich endlos der Urwald aus, – Schierlingstannen, Sprossenfichten und Lärchenbäume, mit Ahorn und Buche untermischt, – und die Rauchsäulen, welche sich da und dort über den Baumwipfeln kräuselten, gaben Kunde von einem in das Dickicht gebetteten Indianerwigwam. Zur andern Hand hatten wir nach einander drei stille, anmuthsvolle Seen, nicht, gleich dem Ontario-, dem Erie- und Michigansee, zu groß für Ueberblick und Bewunderung, sondern wahre kleine Bijoux, in deren ruhigen, kaum von einem Hauche bewegten Gewässern das schöne Uferbild mit seinen Hügeln und Wäldern sich noch einmal vor unserm entzückten Auge entfaltete. Und im Herbste muß man diese Wälder sehen! Was ist all’ das Gelb und Roth und Braun unserer deutschen Herbstbelaubung im Vergleich mit dem Farbenglanze und dem Farbenreichthum, wie ihn das scheidende Jahr hier in diesen Breiten über die Wäldbäume ausgießt! Die vorherrschenden Tinten sind Hellcarmin, Scharlach und Goldgelb, aber auch alle Schattirungen von Grün, vom zartesten Hauche der ersten Frühlingsblätter bis zur tiefen Nuance der Cypresse und des Eibenbaumes, sind vertreten, ebenso die dunklen Ocker- und Umbrafarben, bis schließlich der ganze Wald glüht und leuchtet wie ein Blumengarten im Juni.

So wie wir uns dem Ende des dritten Sees näherten, veränderte sich mit einem Male der Charakter der Landschaft; Alles ward kahler und wilder. Nackte Felsen erheben sich zu einer Höhe von siebenhundert bis tausend Fuß über dem Wasserspiegel, an dessen Rändern nur eine sehr kümmerliche Vegetation noch gedeiht. Bald kommt die Stadt Waverley oder German-Town in Sicht, und jeder Bergrücken und jede Felsenkuppe ist von einer hölzernen Baracke gekrönt, entweder der Wohnung eines [810] Bergmanns oder dem Eingange eines Schachts. Hölzerne, unangestrichene, roh gezimmerte Häuser bedecken weit und breit die Landschaft, ein Beweis, daß der Ort erst gestern entstanden ist und aller Wahrscheinlichkeit nach auch blos ein temporäres Leben haben wird – so lange die Berge noch ihre goldene Ausbeute gewähren.

Läge German-Town mit seinen fast zweitausend Bewohnern im Gebiete der Vereinigten Staaten und nicht in einer britischen Colonie, so besäße es sonder Zweifel schon seine zwei bis drei Zeitungen – wie und wovon diese existiren, ist in Nordamerika oft genug ein Räthsel –; ebenso viele Wochenschriften, von denen jede immer den Widerpart der andern bildet, in politischen, religiösen, literarischen und allen sonstigen Beziehungen; desgleichen ein Monstrehôtel, in welchem die gesammte Bevölkerung beherbergt und gespeist werden könnte; ein Dutzend Kirchen und Capellen; eine Synagoge; ein großes Schulhaus; wenigstens zwei sich befehdende Banken und vor allen Dingen eine stattlich uniformirte Feuerwehr. Da es indeß sich zu dieser amerikanischen Civilisation noch nicht aufgeschwungen hat, so müssen drei kleine, doch behagliche Wirthshäuser an der Straße die Stelle des Monstrehôtels vertreten und eine einzige Kirche und eine kleine Capelle dem Andachtsbedürfniß der gesammten Gemeinde genügen. Die Bank befindet sich in Halifax, und Zeitungen sind, wie ich mich überzeugte, nicht vorhanden; meine deutschen Landsleute schienen mir im Allgemeinen auch nicht am Lesefieber zu leiden.

Als wir vor einem der erwähnten Wirthshäuser vorfuhren, um zunächst unsere leibliche Wohlfahrt zu bedenken, sah ich vor der Thür eine Gruppe von sechs Jägern stehen, die mit einer erklecklichen Beute an Rebhühnern eben von einem Waidgange heimzukehren schienen.

„Das sind Alles Bergleute und Alles Deutsche,“ sagte mein Begleiter, während wir aus unserm leichten Korbvehikel sprangen.

Wie man sich denken kann, faßte ich die Männer mit dem lebhaftesten Interesse in’s Auge, aber weder Gesichtsbildung noch Sprache waren deutsch. Es waren Czechen, welche hier natürlich für Deutsche gelten und sich auch als solche fühlen und landsmannschaftlich mit den Anderen zusammenhalten. Der Deutschenhaß, der ihre Brüder in der alten Heimath geradezu bis zum Blöd- und Wahnsinn erfüllt, scheint sich glücklicher Weise nicht bis in das ferne Neuschottland verpflanzt zu haben. Ich mischte mich unter die Männer und ward von ihnen mit sichtbarer Freude als Landsmann begrüßt.

Nach genossenem Imbiß brachen wir zu den Minen auf. Zunächst erreichten wir ein etwas stattlicheres Haus, als die rings verstreut liegenden Gebäude. Vor acht Jahren war es das einzige, welches in der Wildniß stand; es hat der Stadt den Namen gegeben.

„Ein gewisser Allan,“ erzählte mir mein Gefährte, „ein Böttcher aus Schottland und ein eifriger Bewunderer seines großen Landsmannes Sir Walter Scott, hatte sich hier niedergelassen und sein Haus nach dem berühmtesten Romane des Dichters ‚Waverley-Cottage‘ getauft. Daß Gold unter den Felsen seines neuen Wohnsitzes lag, und zwar in ungewöhnlicher Mächtigkeit, davon hatte der gute Küfermeister keine Ahnung. Auch ist das erste Gold in Neuschottland nicht hier gefunden worden. Erst nachdem man im Jahre 1861 bei dem Orte Tangier in der Grafschaft Halifax auf Gold gestoßen war und beim Graben von Abzugscanälen in der letztern Stadt selbst unverkennbare Spuren einer Ader von goldhaltigem Quarze entdeckt hatte, begann man, wie die ganze Gegend, so auch die Felsen um Allan’s Einsiedelei nach dem kostbaren Metalle zu durchwühlen, und es zeigte sich, daß, wenige Schritte von Waverley-Cottage beginnend, das Gestein auf mehrere Meilen in der Runde in der That außerordentliche Quantitäten von Gold enthielt, noch dazu fast unmittelbar unter der Oberfläche. Ehe noch ein Jahr vergangen war, hatte sich um das Haus des Schotten eine völlige Stadt angesiedelt und dieser selbst seine Faß- und Eimerfabrikation mit einer lohnenderen Beschäftigung vertauscht.“

Der Weg nach den Bergwerken war höchst beschwerlich und ging zuletzt eine beinahe senkrechte Schutt- und Schlackenhalde hinauf, wo man immer wieder einen Schritt abwärts rutschte, nachdem man zwei in die Höhe gethan hatte. Oben auf dem Gipfel des steilen Hügels stand der Schuppen – anders kann ich das Bauwerk nicht nennen – in welchem die Verwaltung der deutschen Werke ihre verschiedenen Kanzeleien aufgeschlagen hatte. Der oberste Vorstand derselben war von unserem Kommen unterrichtet und empfing uns schon an der Thür der Baracke. Er war auch ein Deutscher, ein Westphale, aus der Nähe von Dortmund, ein echter fester Sohn der rothen Erde und ein sehr liebenswürdiger Mann, welchem die Freude über den Besuch des deutschen Landsmannes aus den biederen, treuherzigen Augen lachte. Er war in Freiberg gebildet, dann Jahre lang im Ural auf den Hüttenwerken eines russischen Fürsten, hierauf nacheinander in mehreren Minen der Cordilleren gewesen und jetzt von der deutschen Bergwerksgesellschaft in Waverley – die jedoch ihren Sitz in Boston hat – als Director der hiesigen Werke angestellt worden. Deutschland hatte er seit einem Vierteljahrhundert nicht wieder gesehen.

„Das ist schön, das ist schön,“ begann er, „daß Sie mich Einsamen besuchen. Sie sehen mich fragend an, aber das soll wohl sein, ich bin doch recht einsam hier, trotz der mehr als tausend Deutschen, welche in German-Town, zum größeren Theil als unsere Arbeiter, leben. Die Leute sind ganz gut und fleißig, rechte Deutsche sind’s indessen nicht mehr. Mit Mühe habe ich eine kleine Liedertafel zusammengebracht, meine einzige Erholung hier in dieser Wüstenei; vielleicht kann ich Ihnen heut’ Nachmittag eine Probe von ihren Leistungen zum Anhören geben, wenn meine Sänger Schicht gemacht haben.“

„Sie haben viele Böhmen hier, wie ich schon vernommen habe?“ frug ich.

„Böhmen, Czechen und Deutschböhmen, fast zweihundert, aber auch Ungarn, das heißt Magyaren. Die passiren hier ebenfalls als Deutsche.“

„Aus welchen deutschen Vaterländern hat sich denn Ihre Colonie hauptsächlich recrutirt?“ forschte ich weiter.

„So ziemlich aus allen,“ antwortete der Director. „Hessen und Schwaben haben mir jedoch das stärkste Contingent zu meinen Arbeitern geliefert, und sehr viele meiner Leute sind gar nicht in Deutschland, sondern als Söhne eingewanderter Deutscher schon in Amerika geboren. Frauen haben wir nur wenige unter uns, und diese wenigen sind Amerikanerinnen, welche kein Wort Deutsch verstehen. Auf solche Weise geht das deutsche Element hier unter uns, so weit ich überhaupt von einem solchen reden kann, immer mehr und mehr zu Grunde. Die Kinder sprechen fast nur Englisch, und auch Vielen von den Arbeitern ist nachgerade die fremde Zunge geläufiger geworden als die Muttersprache. Ueberdies, wie Sie sehen, hat hier Alles blos einen gewissermaßen provisorischen Anstrich; giebt uns das Gold einmal keine lohnende Ausbeute mehr, so stäubt die ganze Colonie auseinander.“

„Sind die Mehrzahl Ihrer Arbeiter Bergleute von Profession?“ frug ich von Neuem.

„Gott bewahre,“ erwiderte er, „nur ein verschwindend kleiner Bruchtheil; einige von den Böhmen, ein paar Männer aus dem sächsischen Stück des Erzgebirges und ein halb Dutzend meiner speciellen westphälischen Landsleute. Die meisten sind Burschen, die, wie das hier in Amerika so häufig, sich schon in allen möglichen Berufsarten und Beschäftigungen versucht, die sich vorher in Australien, Mexico, Peru herumgetrieben, damals, als das große Goldfieber die Völkerwanderung nach Californien in’s Werk richtete, sich dieser angeschlossen haben und, trotz so manchem guten Goldfunde, als blutarme Teufel zu uns gekommen sind. Im Ganzen ist’s eine arg verwilderte Schaar, der das wüste californische Treiben Zeitlebens anhängen wird. Aber kommen Sie und sehen Sie sich einmal Leute und Arbeit etwas näher an.“

Einen Bergbau in unserem Sinne des Wortes konnte man die letztere allerdings kaum nennen. Wie schon bemerkt, streicht das Gold nur wenige Fuß unter Tage, so daß von tiefen Schachten hier nirgends die Rede ist und die Leute beinahe im Lichte der Sonne arbeiten. Wir blieben bei verschiedenen Gruppen von Männern stehen, Viele hatten im Aeußern ein entschieden deutsches Gepräge, Einer und der Andere, welchen ich ansprach, äußerte wohl auch seine Freude über das Kommen des Landsmannes – und man sah’s ihnen an, daß sie es aufrichtig damit meinten – Viele aber starrten mich blos dumpf und stumpf an, wie der ungebildete Mensch jede neue oder unvermuthete Erscheinung, Person oder Sache, anzuglotzen pflegt. Von einer gemüthlichen [811] Erregung war bei ihnen nichts zu verspüren. Alle technischen Bezeichnungen der einzelnen Arbeiten und der dazu verwandten Werkzeuge, jedes Commandowort, jeder Anruf waren englisch, nur das schöne, herzige „Glückauf!“ der deutschen Bergleute schien man nicht über Bord werfen zu wollen. Wenigstens wurden wir zu wiederholten Malen damit begrüßt.

Ich frug einen gutmüthig aussehenden alten Mann mit einem stattlichen grauen Bart – es war der Heizer einer der Dampfmaschinen, welche die Pochwerke in Bewegung setzen – ob er nicht Lust habe, nach Deutschland heimzukehren. Er sah mich einen Augenblick verlegen lächelnd an.

„Was soll ich dort?“ entgegnete er dann. „Hier habe ich einen guten Lohn, drübe weiß i net, was i anfange soll, und kenne thu’ ich auch Niemande mehr da drübe.“

Der Alte war ein Pfälzer, wie mir mein Begleiter sagte, und schon als ganz junger Mensch nach Amerika ausgewandert. Wehmüthig wandte ich mich zum Gehen. Da tauchte aus einem Winkel des dunklen Kesselhauses eine zweite Gestalt auf, die ich beim Eintreten nicht bemerkt hatte, und ging auf mich zu. Es war auch schon fast ein Greis mit einem von den Stürmen des Lebens arg mitgenommenen Gesicht.

„Ich möcht’ schon wieder ’nüber,“ sprach er, während ein trübes Lächeln seinen breiten Mund umspielte; „’s ist halt dort doch schöner wie hier. Wenn ich nur wieder ’nüber könnt’. Freilich, Angehörige hab’ ich auch nit mehr drüben, meine Freundschaft ist alle todt.“

Er strich sich über das Auge, das ihm – wer weiß, seit wie langer Zeit zum ersten Male wieder! – feucht geworden sein mochte, und kroch in seinen finstern Winkel hinter dem Kessel zurück.

„Er stammt aus einem Dorf in Böhmen, am Fuße des Erzgebirges, ich glaube aus Bisanken bei Mariaschein, und diesen Deutschböhmen spukt die alte Heimath noch am meisten im Kopf. Es sind die besten Deutschen, die ich habe,“ erläuterte der Director.

Gegen eine Staatsabgabe von drei Procent vom Ertrage kann sich hier Jedermann ein sogenanntes „Mining area“ (ein Bergwerksareal) kaufen, und anfangs waren es, wie in Californien und Australien, meist Einzelne oder doch nur kleine Gesellschaften, welche mit geringen Mitteln nach Gold zu graben begannen. Jeder besaß meist nur ein ganz unbedeutendes Areal, das er bearbeitete. Wenn aber die Ausbeute nicht alsbald so reichlich ausfiel, wie man erwartete, so warf man ärgerlich und ungeduldig die Flinte meist vorschnell in’s Korn, und so geschah es, daß wirklich reiche Adern als unergiebig wieder verlassen wurden, welche bei nur einiger Ausdauer und angemessenen Mitteln die glänzendsten Erträgnisse gegeben hätten. Dergestalt sind nach und nach alle einzelnen Digger (Goldgräber) und eben so sämmtliche kleinere Gesellschaften aus dem Waverleybezirk wie aus allen übrigen Golddistricten Neuschottlands verschwunden, jedenfalls nur zum Vortheile des weiteren Goldbaus, der, wie mir mein Gewährsmann versicherte, sich erst noch in der Kindheit befindet und noch einer großen Ausdehnung fähig ist.

„Den Raubbau, wie er in Californien und Australien betrieben wird, sind wir somit glücklich los geworden,“ fuhr der Director fort, „denn Glücksfälle wie dort, wo im Laufe eines einzigen Morgens manchmal ein Goldklumpen gefunden wird, groß und schwer genug, um die Arbeit eines ganzen Jahres bezahlt zu machen, kommen bei uns nicht vor. In Neuschottland ist der gesammte Bergbau jetzt ausschließlich in den Händen größerer Compagnien, welche mit reichen pecuniären Mitteln, planmäßig und nach den besten Verfahrungsmethoden arbeiten, welche die neuere Wissenschaft in Anwendung gebracht hat. Unsere deutsche Gesellschaft oder, wie sie officiell heißt, die ‚German Company at Waverley‘ ist die größte dieser Bergwerkscompagnieen in Neuschottland. Wir haben weit über tausend Arbeiter, die im Durchschnitt täglich einen Dollar Lohn bekommen, etwa so viel, wie in Deutschland nur ausnahmsweise besonders geschickte Bergleute verdienen. Bei uns, wie Sie gesehen haben, braucht der Arbeiter keine große fachmännische Schulung; er hat mehr Taglöhnerdienst zu verrichten. Die Hauptsache thun ja unsere theils durch Wasser, theils durch Dampf getriebenen Maschinen. Sie zermalmen den Quarz und waschen das Gold heraus.“

Aus einem gedruckten Rechenschaftsbericht der Compagnie, der jedoch nur die Vorjahre umfaßte, ersah ich, welche hohen Ziffern die Ausbeute der Werke schon damals erreicht hatte, eine Ausbeute, welche inzwischen sehr wesentlich gestiegen und noch lange nicht auf ihrem Culminationspunkte angekommen ist. In einem einzigen Monat, im Juli 1866, hatte die Gesellschaft eintausenddreihundertachtundsechszig Unzen Gold zu Tage gefördert. Die Unze zu vier Pfund Sterling gerechnet, ergiebt diese Ausbeute die erkleckliche Summe von fünftausendvierhundertzweiundsiebenzig Pfund Sterling oder etwa achtunddreißigtausendzweihundertundneunzig Thaler. Die Betriebskosten hatten ungefähr neuntausend Thaler betragen; mithin war der Reingewinn über neunundzwanzigtausend Thaler gewesen! Und doch war das Maximum, was eine Tonne Quarz an Gold ergab, nur eine Kleinigkeit mehr als zwei Unzen. Welche Massen von Gestein mußten folglich bearbeitet, zerstampft und gewaschen werden, um jenen Erfolg zu liefern! Von der gesammten Goldausbeute, welche Neuschottland außer im Waverleydistricte noch in sieben anderen Bezirken gewinnt, kommt auf die deutsche Bergwerkscompagnie über ein Viertel. Nach Europa gelangt das neuschottische Gold ausschließlich mit den regelmäßig nach Liverpool fahrenden Dampfschiffen der Firma Cunard in Boston, die alle vierzehn Tage in Halifax anlaufen, und dasselbe geht auf dem englischen Markte meist unter dem Namen „Bostoner Gold“, was unsere freundlichen Führer einigermaßen zu verdrießen schien.

Der Abend dämmerte bereits, als wir unsere Besichtigungen beendet hatten.

„Jetzt führe ich Sie in meine eigene Wohnung, meine Herren,“ sagte der Director, „dort das Haus gleich neben den Kanzleien.“

Die Behausung des Directors unterschied sich äußerlich wenig oder nicht von den anderen hölzernen Baracken umher; innen aber war sie nicht blos behaglich und bequem, sondern selbst in englischer Weise elegant und mit mancherlei Erinnerungen an die alte deutsche Heimath erfüllt.

„Sie müssen fürlieb nehmen, wie Sie es bei einem Junggesellen hier in der weltentlegenen Wüste eben finden,“ entschuldigte er sich, indem er uns einlud, uns mit ihm an den schmucken gedeckten Mittagstisch zu setzen, an welchem außerdem noch drei seiner Beamten, sämmtlich Engländer, Theil nahmen. „Auf meinen vielen Kreuz- und Querzügen dies- und jenseits des Oceans habe ich nicht die Zeit und die Ruhe gehabt, mir ein Weib zu nehmen.“

Das Mahl ließ aber nichts zu wünschen übrig. Ganz vortrefflich namentlich waren die Birkhühner, die, kleiner als unsere europäischen, viel zarter von Geschmack sind, als diese, und der feurige Rüdesheimer, der in echten grünen rheinischen Gläsern funkelte, erwies sich als Primagewächs.

„Den lass’ ich niemals ausgehen,“ nahm unser liebenswürdiger Wirth wiederum das Wort. „Er hat mir schon über manche schwere und einsame Stunde hinweggeholfen, wenn mir’s im Herzen gar zu sehr nach meinem guten wackern Westphalen pochte. Das soll wohl sein! Und auf diese Heimath, auf unser ganzes, großes schönes Deutschland – ja, Ihr Herren Engländer, es ist doch das allerschönste Land auf der ganzen weiten Erde! – lassen Sie uns die Gläser zusammenklingen. Kommen Sie, Herr Landsmann. Auf das ganze, ungetrennte einige Vaterland!“

Herzhaft stießen wir die Römer aneinander – nur Eines that mir wehe, daß, den übrigen Gästen zu lieb, der deutsche Toast und unsere Tischunterhaltung überhaupt in englischer Zunge gesprochen werden mußten. In diesem Augenblicke öffnete sich die Thür des Nebenzimmers, und ein Dutzend klangvoller und wohlgeschulter Männerstimmen fiel mit einem jubelnden Tusche ein.

„Da haben Sie meine Liedertafel,“ sagte der Director lächelnd, „und der junge Mann dort, der einzige, den ich mir direct aus Deutschland verschrieben habe, ist mein Liedermeister und zugleich mein specieller Amanuensis.“

Der junge Mann hatte ein sehr hübsches intelligentes Gesicht, er war ein Rheinländer, aus der Aachener Gegend, wenn ich nicht irre, und hielt seine Sänger in vortrefflicher Zucht. Aber sie machten die wunderlichste deutsche Liedertafel aus, die ich je im Leben gehört und gesehen habe: drei Viertel der verwetterten Kerle waren nämlich Czechen. Das hinderte indessen nicht, daß sie unsere prächtigen deutschen Lieder von Mendelssohn, von Zöllner, von Otto, von Schubert, von Methfessel gar wacker vortrugen, so daß es mir recht bang und heimwehmüthig um’s Herz wurde. Das deutsche Lied hier im fernen, öden Neuschottland, Tausende von Meilen von der deutschen Heimath – es hatte etwas unsäglich [812] Ergreifendes! Der Director hatte sich still in seinen Stuhl zurückgesetzt und schien den feuchten Nebel nicht wegwischen zu können, welcher sich ihm plötzlich vor die Augen gelegt hatte.

„Darin, in dem Liede und dem Gesange, da thut’s Euch Deutschen doch Niemand nach,“ sagte mein Reisegefährte, indem er dem Director zum Abschiede warm die Hand drückte.

Ich hatte versprochen, noch einmal und zu längerem Besuche nach German-Town zu kommen, meine plötzliche Abreise aus Halifax und Neuschottland verhinderten aber die Ausführung meines Vorsatzes. Vielleicht kommen dem Director und einem oder dem anderen seiner Bergleute diese Zeilen zu Gesicht. Mögen sie ihnen ein willkommener Gruß sein aus der alten Heimath!




Das Stammbuch August Wilhelm Iffland’s.

Von Hermann Uhde.

„In diesem Hause, dem Wohn- und Sterbehause des berühmten G. W. Leibnitz, wurde am 19. April 1759 A. W. Iffland geboren;“ so lasen wir, mein Begleiter und ich, am Sonntagsmorgen des 19. April 1868. Die Stadt Hannover zahlte an diesem Tage einem ihrer edelsten Söhne die längst fällige Ehrenschuld; an Iffland’s Geburtshause ward eine Gedenktafel mit obiger Inschrift befestigt.[WS 2]

„Hundertundneun Jahre nach seiner Geburt das erste Erinnerungszeichen an den Hochverdienten!“ bemerkte mein Freund mit Bitterkeit.

Ich zuckte die Achseln. „Hatte man doch auch nur eine abgelegene, kleine Querstraße, um sie nach dem genialen Leibnitz zu benennen!“

„Leider wahr!“ entgegnete mein Begleiter. „Lange Zeit wurde sogar ein falsches Haus als Iffland’s Geburtshaus angesehen, bis der Bruderssohn des Verblichenen den Irrthum aufklärte.“

„Hier lebte noch kürzlich ein Bruderssohn Iffland’s?“ fragte ich rasch.

„Vielmehr: er lebt noch gegenwärtig hier!“ lautete die Antwort. „Es ist der Obersteuerrath a. D. Ernst Iffland, Sohn des weiland hannöverschen Stadt-Directors Christian Philipp Iffland, ältesten Bruders August Wilhelm’s, welcher bekanntlich das jüngste von vier Kindern war.“

Einen so nahen Verwandten des berühmten Mannes kennen zu lernen, ward sofort zum dringenden Wunsch, und da mein Freund zu einem solchen Besuch aufmunterte, trat ich noch am nämlichen Tage meine Wanderung an.

Ich fand einen mittelgroßen, wohlconservirten Siebziger, dessen Züge unverkennbar die Familienähnlichkeit verriethen. Er empfing mich, nachdem seine Tochter ihm mein Anliegen gemeldet, sehr artig, wurde, als er meinen Eifer für eine Sache sah, die seinem Herzen so nahe lag, bald wärmer; allein im Ganzen beobachtete er doch – wie dies einem Fremden gegenüber ja nur zu erklärlich ist – eine große Zurückhaltung. Ich sagte ihm, es sei meine Absicht, für das Feuilleton einer der hannöverschen Zeitungen einen biographisch-kritischen Aufsatz über seinen verstorbenen Oheim zu verfassen; ich habe es daher für meine Pflicht gehalten, mich zuvor an ihn zu wenden, denn bei dem notorischen Mangel einer nur einigermaßen vollständigen biographischen Arbeit über Iffland sei es doch gar leicht möglich, daß er mich bei meinem Zweck mit Documenten und Notizen vielfach unterstützen könne.

Wirklich erfuhr ich aus dem Munde des alten Herrn manche interessante Thatsache, erhielt manches schätzbare Document zur Einsicht; und von der Aufnahme, die ich gefunden, von dem Resultate der Unterredung befriedigt, kehrte ich heim und machte mich sogleich an’s Werk. Die Artikel erschienen, mein ganzes Herz war bei der Arbeit. Dies bewirkte das Gute, daß ich vom Herrn Obersteuerrath eine Einladung erhielt, mir, was ich an Reliquien seines Oheims noch nicht gesehen, zu betrachten.

Am nächsten Morgen ging ich zu ihm; er begrüßte mich auf’s Freundlichste und brachte alsbald ein messingbeschlagenes Kästchen herbei. Es barg Andenken, welche wohl kaum je eines Lebenden Auge sah: eine Menge Theaterzettel aus Eckhof’s Zeit, seltene, alte Theater-Almanache, Bildnisse Iffland’s und Medaillen, auf ihn geschlagen; viele Briefe Gotter]’s an Christian Rudolph Iffland, den Vater (Registrator an der K. Kriegskanzlei, gestorben 1780), endlich einen großen Theil der Correspondenz August Wilhelm Iffland’s mit seinem Bruder (dem Stadtdirector). – So, fühlte ich, muß dem Taucher zu Muthe sein, wenn er auf der Tiefe des Meeres anlangt und seinen entzückten Blicken bieten sich unermeßliche Schätze dar! –

Langsam, Stück um Stück, wurden mir die theueren Gegenstände übergeben; ich sah, las, schrieb – Stunden verrannen. Da, als Schlußstein des Ganzen, reichte mir Iffland’s Neffe ein unscheinbares Büchlein in braunem Ledereinband; ich öffnete es: es war das Stammbuch August Wilhelm Iffland’s.

Die ersten Männer jener großen Zeit haben in dieses Tagebuch der Freundschaft ihre Namen und einen sinnigen Spruch gezeichnet, und ich glaube der Theilnahme der Leser der Gartenlaube gewiß zu sein, wenn ich ihnen in dem Folgenden den Inhalt der interessantesten Blätter kurz vorführe. Sind Worte doch „der Seele Bild“, und wer möchte nicht vor Gestalten gern verweilen, welche immerdar den Ruhm und Stolz unseres Vaterlandes ausmachen werden.

Gleich zu Anfang treffen wir auf die Handschrift Conrad Eckhof’s, dieses Ecksteins des deutschen Kunsttempels. Welch herzliches Band Beide umschlang, beweisen die Verse Eckhof’s; ein Denkmal seines biedern, herzlichen Sinnes, sind sie zugleich ein Zeichen der geistigen Frische, welche sich der bekanntlich jahrelang mit einer dem Wahnsinn verfallenen Frau zusammen Lebende zu bewahren gewußt:

„Der Ritter Polidor, der einen Freund erwählet,
Fragt stolz: Wie viel er Ahnen zählet;
Der Bacchus fragt: Wie viel er trinkt;
Der Renommiste fragt: Ob er sich öfters ringt;
Der Harpax: Wie viel ihm die Jahr’ Int’ressen tragen;
Und Liebmann: Was von ihm die Buhlerinnen sagen.
Ich frage nur: Ob er klug, redlich, scherzhaft ist;
Und, kurz: so freundschaftlich, als Du, mein Iffland, bist!“
„Es sind viel Vögel, die hassen mich;
Ich bin ein Kautz, und acht’ es nicht.  Conrad Eckhof.“

Der bekannte Gotter, der den jungen Künstler auf der schwierigen Laufbahn so liebevoll mit Rath und That unterstützte, schreibt „mit herzlicher Theilnahme in der Stunde des Abschieds“, den 28. September 1779, die weise Mahnung:

„Laß Dich das Zujauchzen der Menge nicht bethören, und das Angrinzen des Unverstandes nicht irren!“ –

Es ist der letzte Freund aus Gotha, den wir in dem Stammbuche finden. Schon ist der Name Iffland bekannt, schon lenken sich die Augen der Kunstkenner auf ihn, und nachdem Eckhof’s Tod (1778) das Gothaische Schauspiel gesprengt, beruft der edle Wolfgang Heribert von Dalberg, der hochsinnige Förderer der dramatischen Kunst, den jungen Genius, dessen Schwingen zu wachsen beginnen, nach Mannheim.

Ehe Iffland hier eintrifft, lenkt der heimlich aus dem väterlichen Hause Entwichene seine Schritte nach der Heimath, die geliebten Eltern um ihre Verzeihung, um ihren Segen zu der eigenmächtig erwählten Laufbahn anflehend. Beides wird ihm gewährt.

Der neue Vorgesetzte empfängt den Großes versprechenden Kunstjünger auf das Freundlichste, und da ihm, nach alter Sitte, Iffland das Stammbuch vorlegt, schreibt er:

„Ein einziger Augenblick von Selbstzufriedenheit ist besser, als die ganze Unsterblichkeit bei der Nachwelt. Aber was war es, das Dir so hohe Zufriedenheit in’s Herz strömte? – Vorgefühl dieser Unsterblichkeit!“

Stolze Worte fürwahr, aber gewiß von Gewicht in dem Munde des feinsinnigen Kunstkenners, des scharfen Kritikers.

Inzwischen ist Brockmann, der erste Darsteller des Hamlet, und in dieser Rolle berühmt geworden, zum Gastspiel nach Mannheim gekommen. Der feine, hochgebildete Mann fühlt sich zu dem verwandten Geiste mächtig hingezogen. Hatte doch Beide, Iffland wie ihn, die heiligste Kunstbegeisterung zur Bühne geführt, loderte doch in Beider Herzen die keusche Flamme noch mit gleicher [813] Kraft. Gewiß kam es also aus voller Seele, wenn Brockmann schrieb: „Erinnern Sie sich, lieber Iffland, öfters eines Mannes, der es innigst bedauert, daß die Umstände es hinderten, durch Ihren öfteren Umgang den festesten Freundschaftsbund mit Ihnen zu schließen!“

Der Sommer brachte noch einen andern Wallfahrer: den dänischen Dichter Jens Baggesen, den Freund Schiller’s und Reinhold’s, der auf Kosten seiner Regierung eine Reise durch Deutschland und die Schweiz nach Frankreich unternommen, und in Mannheim längere Zeit zu verweilen gezwungen war, da Hochwasser den Rhein unpassirbar machte. Das Stammbuchblatt von seiner Hand charakterisirt ganz sein liebreiches Wesen:

 „Lieber Herr Iffland!
     ‚Im Mittelwege Gutes zu schaffen, da welkt die Blüthe der Freude
nicht am Ehrgeiz hin: da nagt kein Wurm an der Knospe der Tugend!‘
 (Ruhberg in ‚Reue versöhnt‘.)
     Ich danke Ihnen herzlich, trefflicher Schriftsteller und Schauspieler, daß Sie mir Mannheim mitten in dessen Sündfluth zum lieblichsten Aufenthalte gemacht haben!
     Mannheim, in der Überschwemmung 1789.  J. Baggesen.“

Unterdessen sind am politischen Himmel jene Stürme heraufgezogen, welche das Schifflein des Mannheimer Theaters erst gefahrdrohend hin- und herschleuderten und endlich ganz zerschellten. Die Mitglieder des herrlichen, in der Kunstgeschichte fast einzig dastehenden Instituts, unter dem festen Schirm und Schutz treuer Freundschaft durch fördersame, gegenseitige Lehre und Beispiel zu hoher Vollkommenheit gereift, zerstreuten sich, eine hirtenlose Schaar, in alle Winde; und Iffland folgte einem Rufe König Friedrich Wilhelm des Zweiten nach Berlin. Ehe er jedoch seine neue Stellung antrat, gab er in Weimar einige Gastrollen, die Koryphäen der deutschen Literatur „in die heitern Höhen seiner Kunst durch seinen Schöpfergenius entzückend“.

Er wurde mit Wohlwollen und Wärme überhäuft, und der von der Stätte jahrelangen Wirkens mit trauernder Seele Geschiedene fühlte sich durch die herzliche Aufnahme so vieler ausgezeichneter Menschen neu gehoben, neu gestärkt, und nie hat er lieber, nie sorgfältiger gespielt, als damals.

Der Erste, der die Gelegenheit ergriff, seiner Bewunderung für den Meister Ausdruck zu geben, war der greise Wieland. Mit fester, männlich kräftiger und schöner Hand, ein Buchstabe dem andern ähnlich wie sein Zwillingsbruder, schrieb der Dichter des Oberon am 23. April 1796:

Empfangen Sie, theurer Iffland, mit diesen Zeilen den Dank meines Herzens für jede glückliche Stunde, die mir Ihr unnachahmliches Talent während Ihres zu kurzen Aufenthaltes in Weimar geschenkt hat, und erinnern Sie sich, wenn Sie einen Blick auf dieses Blatt werfen, des 20. Aprils, und Ihres, aus einem Bewunderer Ihrer Kunst und Verehrer Ihrer Verdienste an diesem Tage auf ewig zu Ihrem Freunde gewordenen Wieland.“     

Wir wenden das Blatt, – des Dichterfürsten Goethe Handschrift blickt uns entgegen. Der warme Verehrer Iffland’s, der ihm im Nachspiel zu den „Hagestolzen“ ein so herrliches Denkmal gesetzt hat, schreibt unter dem 24. April 1796 folgendes Distichon:

„Viel von Künsten und Künstlern wird immer in Deutschland gesprochen;
     Angeschaut haben wir nun Künstler und Künste zugleich.
 Goethe.“     

Am nächsten Tage, dem 25. April, widmet der edle Herder dem Künstler folgende Zeilen:

„Immer bleibe Ihnen Ihre Muse hold: die sittliche Muse; sie, die mit dem Geiste Herz, mit edlen Talenten das edelste Talent: Charakter der Seele, anmuthig verbindet; die aus dem dunkeln Unsinn der Menschen leichte, feste Gestalten hervorruft, und Licht und Ordnung. – Wir sahen sie in Ihren Erfindungen, in Ihrem Spiel, in Ihrer ganzen Gedankenweise. Immer bleibe sie Ihnen hold und günstig. J. G. Herder.“     

Wahrlich, ernste, goldene Worte, von denen Auge und Herz des Beschauers sich nur schwer zu trennen vermag. –

Wieder wenden wir das Blatt … da bleibt voll Ehrfurcht die Hand gefesselt … ein heiliger Schauer durchbebt uns … eine Thräne stiehlt sich in unser Auge. Nur wenig Worte sind es, die uns so mächtig ergreifen; mit flüchtiger Hand sind sie hingeworfen. – Aber ein Name steht darunter, der dem Deutschen über Alles theuer ist; und die Inschrift des Blättchens lautet:

 Ars longa, vita brevis.
 Zum Andenken von
 Friedrich Schiller.“

Nur zu bald flogen die schönen Tage zu Weimar dahin: die ernste Nothwendigkeit rief unseren Künstler von dannen; und eiligst – ehe er Berlin erreicht – macht er in Leipzig noch eine kurze Rast. Im Fluge werden in der kunstbegeisterten Stadt einige Gastrollen gegeben. Hier schreibt mit zitternder, altersschwacher Hand der greise Dichter Christian Felix Weiße einfache, aber kindlich-herzliche Verse in das Album Iffland’s. Der Verfasser so vieler damals mit Beifall aufgeführter Singspiele (von denen sich die von Hiller componirte „Jagd“ bis auf unsere Tage lebensfrisch erhalten hat), so vieler Sinngedichte, deren bekanntestes wohl der „Aufschub“ ist („Morgen, morgen, nur nicht heute etc.“), sagt schlicht und warm:

„Was ich gewünscht, mein Iffland, ist geschehen:
Dein edles, meisterhaftes Spiel,
Natur und Kunst, Geschmack, Verstand, Gefühl
Und Wahrheit, ganz vereint in ihm hab’ ich’s gesehen!
Noch mehr hat mir das Glück gewährt:
Dein Geist, als ich Dich las, ward still von mir verehrt;
Als ich Dich sprach, schätzt’ ich Dein Herz und liebte Dich;
Wir bieten uns die Hand: Wohl mir, Du liebst auch mich!“

„Erhalten Sie, edler Mann, einen literarischen Emeritus der deutschen Schaubühne auch in der Entfernung zu Andenken und Ihrer Freundschaft!
 C. F. Weiße,
 Creys-Steuer-Einnehmer zu Leipzig.“

Gegen Ende des Jahres 1796 traf Iffland in Berlin ein. Die Collegen bewillkommnen ihn auf’s Herzlichste, und selbst die hervorragendsten Männer der Wissenschaft suchen bald den Umgang des feinsinnigen, hochgebildeten „General-Directors der Königlichen Schauspiele“; auf dem nächsten Blatte erblicken wir von der Hand Gall’s folgende Inschrift:

„Große Menschen erwarten ihren Lohn in der Unsterblichkeit. Möchten Sie lieber den Ihrigen in dem Besitz Ihres Meistertalents suchen, denn dies ist ja seltener als Unsterblichkeit!
 Ihr ewiger und warmer Verehrer
 F. Joseph Gall.“

Von einem folgenden Blatte blickt uns die elegante Handschrift des Dichters der „Urania“ entgegen, der nachstehendes sinnige Distichon widmet:

„Hoch im Triumphe der Kunst erblickt’ ich den siegenden Künstler;
Fest im Drange der Zeit sah ich den Weisen in ihm!“
„Weihen Sie diese Zeilen zu einem kleinen Denkmal der für mich unvergeßlichen Stunden.  C. A. Tiedge.“

Die folgende Seite ist eng beschrieben; ein Sonett des Verfassers des „Vierundzwanzigsten Februars“, der „Weihe der Kraft“, in welcher der „Luther“ eine so geniale Schöpfung Iffland’s und zugleich seine letzte bedeutende Rolle auf der Bühne war, nimmt den ganzen Raum ein. Der Vater der „Schicksals-Tragödien“ schreibt in jenem hohen Enthusiasmus, mit welchem er Alles zu erfassen pflegte:

„Wer ist der Meister? – Dem in dem Gemüthe
Der Gottheit Funken hell und herrlich brennt;
Denn, von dem ew’gen Urquell ungetrennt,
Ist er des Lichtes Spiegel und der Güte.

Und fleißig strebend, daß er das behüte,
Was ewig sein, und was die Welt nicht kennt,
Ist Liebe seines Wesens Element,
Und all’ sein Thun der Schönheit Frucht und Blüthe.

Ich ehr’ die Meistergluth, die in Dir scheinet;
Die Kraft, die siegend über dem Geschicke.
Doch mehr, als Alles, lieb’ ich Deine Liebe!

Du hast an meinem Busen nie geweinet;
Du schluckst die Thränen in Dich selbst zurücke,
Doch kenn’ ich sie! – Du Meister – Leide! Liebe!

Wenn Sie mich einst ganz kennen, so werden Sie auch weinen mit einem armen Menschen, der unaussprechlich gelitten und geliebt hat; mit Ihrem
 Sie tief verehrenden Leidensbruder
  Friedrich Ludwig Zacharias Werner.“

Iffland ist unterdessen auf der Sonnenhöhe seines Ruhmes angelangt. Friedrich Ludwig Schröder, der schöne Stern, ist untergegangen; nur die Abendröthe seines Wirkens strahlt noch am Himmel des Theaters zu Hamburg; und das in Deutschlands Südosten emporflammende Meteor, Ludwig Devrient, steht noch am Anfang seiner glanzvollen Laufbahn. Dem unbestritten ersten Schauspieler seiner Zeit werden von allen Seiten die glänzendsten Anerbietungen zu Gastrollen gemacht, und nach und [814] nach sehen wir ihn in den verschiedensten deutschen Hauptstädten auftreten, überall begleitet von der ungetheilten Bewunderung der Würdigsten und Besten.

So giebt in Braunschweig Eschenburg, der geistvolle Uebersetzer Shakespeare’s, dieser Bewunderung mit seines Freundes Lessing Worten Ausdruck:

,Was solch ein Wundermann lobt, rathet und befiehlt,
Hat bei dem Rauhesten den Reiz, mit dem Er spielt!’

„In froher Erwartung, bei Ihrer Wiederkehr zu uns Ihres freundschaftlichen Umgangs öfter und länger zu genießen, empfiehlt sich Ihrem Herzen
J. J. Eschenburg, Prof.“ 

Auf’s Innigste begrüßt den Jugendfreund und Landsmann der hochherzige Leisewitz, der reichbegabte Dichter, der Schöpfer der mustergültigen, noch jetzt in Braunschweig bestehenden Armenpflege; obgleich er damals schon von jenem entsetzlichen Leiden geplagt war, das ihn nicht lange danach hinraffen sollte. Das Stammbuchblatt von des Edlen Hand ist ein um so theureres Vermächtniß, als bekanntlich sein gesammter literarischer Nachlaß mit übereiltem Eifer von seiner Wittwe den Flammen übergeben wurde, so daß wir von ihm nur „Ein Junges“ besitzen, „aber es ist ein Löwe“. Julius von Tarent. – Er ruft Iffland entgegen:

„O du, mit dem mich schon früh die Freuden der Kindheit vereint;
O sei als Mann und als Greis, sei ewig mein zärtlicher Freund!
Dich lieben, mein Bruder, ist mir der Freundschaft heiligste Pflicht;
In jeglichem Erdstrich, in jeglichem Lande,
An Tethüos ewig berauschendem Strande,
Dort, wo ich Alles vergesse, vergess’ ich dich nicht!
  J. A. Leisewitz.“

Der vielgereiste Verfasser des „siebenjährigen Krieges“, der Historiker Archenholz, wählt Klopstock’s Ausspruch:

„Ein fester Mann kann Alles, was er will!“

und fügt hinzu:

„Ein Deutscher, der viele Städte und Menschen gesehen, und nach seinen zweiundzwanzigjährigen Reisen einen großen Maßstab der Dinge angenommen hat, huldigt mit innigem Vergnügen dem vortrefflichen dramatischen Dichter, dem großen Schauspieler, und dem liebenswürdigen Menschen Iffland. Möge er, ungetrübt durch Kummer, noch lange die Deutschen mit seinem herrlichen Talente erfreuen!“ –

Gleich enthusiastische Aufnahme, wie in dem durch Eckhof’s, Ackermann’s und Schröder’s Spiel verwöhnten Hamburg (wo Iffland im Ganzen fünfundsechszig Vorstellungen gab, die hundertneuntausendeinhundertdreizehn Mark zwölf Schilling eintrugen, auf welche Summe sich noch unter keiner Direction die Einnahme eines ganzen Jahres, mit circa zweihundertfünfzig Vorstellungen, belaufen hatte), fand der Meister in Breslau, trotz der Beliebtheit, deren sich damals schon Ludwig Devrient dort erfreute. Der Erste, der ihm huldigt, ist der Eigenthümer des Breslauer Theaters selbst, der kunstverständige Regierungsrath Streit, der sich mit Friedrich Schiller’s Worten also vernehmen läßt:

„Dich erwähl’ ich zum Lehrer, zum Freund! Dein lebendiges Bilden
Lehrt mich; dein lehrendes Wort rühret lebendig mein Herz!“

Der Falstaff Breslaus, der dicke Karl Schall, dieses liebenswürdige Original, dessen „unterbrochene Whistpartie“ uns noch heute mit lebensvoller Frische fesselt, äußert sich schlicht und brav:

„Auf der Tafel meiner Erinnerungen nimmt Iffland einen der obersten Plätze ein; möchte er mir auf der seinigen keinen der untersten anweisen!“

Es folgen viele leere Seiten, und endlich, auf dem allerletzten Blatte des Stammbuchs noch zwei Zeilen. Sie lauten:

 „Wien, 26. September 1808.
  Joseph Haydn.“

Vom Alter geschwächt, fand die ehrwürdige Hand, welche so viel Musik auf das Papier geworfen, nur noch Kraft zu Namen und Datum. Sechsundsiebenzig Jahre zählte der Schöpfer der „Jahreszeiten“ damals, wenige Monate später verstummte der liederreiche Mund auf immer: unter den Kanonenschüssen der Belagerung von Wien bereitete man ihm die letzte Ruhestätte. –

Genau nach sechs Jahren senkte man auch August Wilhelm Iffland zum ewigen Schlafe ein; am 22. September 1814 erlag der Dulder seinen Leiden: bis zum letzten Athemzuge treu und rechtlich, eine deutsche Kernnatur. – Seine Urne schmückt der unverwelkliche Lorbeer! –




Ein glücklicher Künstler.

Wer gerne durch die Berliner Ateliers schlendert, geht gewiß nicht an dem hübschen Hause Nummer zwei in der Mathäi-Kirchstraße vorbei. Beim Eintreten in das Studio findet er vor der Staffelei einen jungen Mann, schlank und doch kräftig gewachsen, mit frischem, ansprechendem Gesicht, das durch den braunen Vollbart noch vortheilhafter hervorgehoben wird. Sein Aussehn zeugt von körperlicher und geistiger Gesundheit, die leider nur selten in der Künstlerwelt angetroffen wird; sein ganzes Wesen, womit er uns so offen und freundlich entgegentritt, athmet eine wohlthuende Heiterkeit und Natürlichkeit. Da ist nichts Gemachtes, nichts Gespreiztes, keine Spur von Affectation, von Selbstüberhebung, keine nervöse Reizbarkeit, keine Launenhaftigkeit, weder Weltschmerz, noch Zerrissenheit. Ebenso einfach, schlicht und natürlich ist seine Unterhaltung, die meist durch einen köstlichen Humor gewürzt wird. Zu dieser Persönlichkeit stimmt vollkommen die übrige Umgebung. An den Wänden des Ateliers hängen einige Bilder, Studienköpfe und Farbenskizzen meist von eigener Hand; an den Fenstern stehen einige Blumentöpfe, dazwischen Vogelbauer mit ihren schmetternden und trillernden Bewohnern. Die breite Seite nimmt ein großer Schrank ein, der zur Aufbewahrung von Gypsabgüssen verschiedener Thiere dient. Die sonstige Einrichtung ist höchst bescheiden und weit entfernt von jedem Luxus oder künstlerischer Coquetterie; ein alter Tisch mit wackelnden Beinen, einige wurmstichige Stühle im Rococogeschmack mit verschossenen Ueberzügen. Die einzige Merkwürdigkeit bieten einige seltsame Kasten und Schränke, die der witzige Maler mit interessanten Caricaturen verziert hat, prächtige Parodieen der Kunstgeschichte in hieroglyphischem Styl. Hier erblickt man einen alten ägyptischen Professor und Mitglied der königlich pharaonischen Akademie, umgeben von seinen Schülern, die unter seiner Anleitung zeichnen lernen; dort wird gleichfalls ein ägyptischer Hofphotograph mitten in seiner Arbeit von einem Krokodil in höchst unangenehmer Weise überrascht. Man kann diese geistreich komischen Bilder, in denen sich die Heiterkeit des Künstlers offenbart, nicht ohne Lachen sehen.

Dieser selbst ist der bekannte Paul Meyerheim, das jüngste Mitglied einer berühmten Künstlerfamilie, dem die Natur ein seltenes Talent verliehen, und welchen das Glück mit seinen reichsten Gaben beschenkt hat. Trotzdem er erst siebenundzwanzig Jahre zählt, besitzt er bereits einen bedeutenden Ruf, wird ihm von allen Seiten die größte Anerkennung gezollt. Er ist Inhaber verschiedener großer und kleiner Preis-Medaillen und mit Bestellung auf Jahre im Voraus überhäuft. Seine Bilder finden nicht nur Bewunderer, sondern auch Käufer zu den höchsten Preisen. Die strengsten Kritiker sprechen mit Verehrung, selbst mit Begeisterung von seinen Leistungen, die nicht nur den Laien, sondern auch den Kenner befriedigen.

Nicht nur in Berlin und in dem übrigen Deutschland, auch in Belgien und Frankreich haben seine Gemälde Sensation erregt. Sie wurden bei der letzten großen Weltausstellung in Paris unter Tausenden bemerkt und der Maler selbst von den Koryphäen der französischen Kunst, von einem Meissonier als ebenbürtiger College freudig begrüßt. Frühzeitig schon entwickelte sich das Talent Paul Meyerheim’s und in einer rein künstlerischen Umgebung aufwachsend zeigte der begabte Knabe von Jugend auf mehr Lust zum Malen, als zum Lernen. Als echtes Berliner Kind schwänzte er gern die Schule und trieb sich lieber auf der Straße und im Freien umher, als daß er bei den Büchern saß. Die Natur war seine Lehrerin; am meisten zog ihn die Thierwelt an, die er mit scharfen Augen beobachtete. Bald war er ein Stammgast des zoologischen Gartens, zu dem ihm der bekannte Naturforscher Lichtenstein den freien Zutritt gestattete. Wie die meisten Berliner Jungen war er ein leidenschaftlicher Vogelzüchter; er schwärmte für Tauben, Finken und Canarienvögel, für die er seinen letzten Groschen verschwendete.

[815]

Savoyardenkinder.
Originalzeichnung von Paul Meyerheim.

[816] Nur mit Widerstreben gab der Vater endlich seinem Drängen nach und ertheilte ihm die Erlaubniß, die verhaßten Bücher mit der geliebten Palette zu vertauschen. Paul erhielt erst Zeichenunterricht, besuchte dann die Akademie und studirte fleißig Thieranatomie, malte jedoch lieber nach der Natur als nach den üblichen Vorzeichnungen und Modellen. In seinen Mußestunden pflegte er die edle Musika; er spielte Cello in einem Quartett, das aus seinem Bruder Franz, dem Kunstkritiker Eggers und seinem künftigen Schwager Lehfeldt bestand. Als er achtzehn Jahr alt war, malte er sein erstes Bild. „Hund und Affe“ für die Berliner Kunstausstellung, wodurch er bereits Aufmerksamkeit erregte. Das dafür erhaltene Honorar verwandte er zu einer Reise nach dem Harz. Später machte er eine Küstenfahrt auf der preußischen Kriegscorvette „Die Gazelle“ in der Gesellschaft des Capitains Bothwell von Danzig nach Norwegen. Hierauf besuchte er die Ausstellung in London, von wo er nach Portsmuth, Plymouth, Cherbourg, Brest über die Insel Wight nach der Bretagne ging. Im folgenden Jahre wanderte er nach Tirol, wo er im Zillerthal längere Zeit bei der bekannten Familie Rainer verweilte, endlich sah er als glücklicher Bräutigam die Schweiz und Holland.

Auf allen diesen Reisen machte er Studien in der ihm eigenen Weise; ihn reizte nicht die Großartigkeit einer Gegend, nicht die wilde Romantik des bewegten Meers, nicht die starre Erhabenheit der zum Himmel ragenden Alpenwelt, sondern das Stillleben in Wald und Flur, das alltägliche Treiben der Menschen, vor Allen aber seine geliebten Thiere. In Interlaken malte er nicht die hohe „Jungfrau“, sondern ein einfaches Kohlfeld, das ihn durch seine harmonische Färbung anzog, in der Bretagne nicht den pittoresken Meeresstrand mit seinen phantastischen Klippen, sondern alte, verfallene Bauerhäuser. In München besuchte er weniger die Pinakothek mit ihren alten Bildern und die Glyptothek mit ihren antiken Statuen, als die Thierbude mit ihrem Schlangenbändiger, der ihm das Motiv zu einem seiner gelungensten Bilder gab. In Holland brachte er die meiste Zeit in Gesellschaft einer Kunstreiterbande zu, deren Clowns seine speciellen Freunde wurden.

Paul Meyerheim wählt am liebsten seine Stoffe aus dem gewöhnlichen Leben, das er jedoch durch den ihm eigenen Zauber zu beleben und zu verklären weiß. Er ist ein Realist, aber im besten Sinne des Wortes, nichts weniger als ein bloßer Virtuose oder Photograph, der die Natur mit ängstlicher Treue skizzirt, sondern ein echter Künstler, der mit seinen klaren Augen die Welt so sieht, wie sie wirklich ist, und dabei gerade so viel Schönheitssinn und Kunstgefühl besitzt, um die Poesie, die ewige Wahrheit in der irdischen Erscheinung zu erfassen. Er ist kein sogenannter „denkender Künstler“, der philosophische Gedanken, geistreiche Allegorien, oder gar culturhistorische Bilder malt. Statt dessen greift er frisch in’s Leben und wo er’s packt, da ist es interessant. Ein Schäfer, der unter einem Baum sein Mittagsbrod verzehrt, ein alter Ziegenhändler mit seiner Heerde durch das Dorf ziehend, Holzfäller im Walde, Waisenkinder, Thierbändiger, Kunstreiter und Affen, das sind seine Stoffe. Aber gerade in dieser bescheidenen Beschränkung offenbart er einen Reichthum der Erfindung, eine psychologische Feinheit, eine Wahrheit der Zeichnung, einen Zauber der Farbe, wie sie die Natur ihren auserwählten Lieblingen verleiht.

Seine Gestalten, Menschen und Thiere leben, seine Landschaften duften und grünen, diese Wiesen laden uns zur Ruhe ein, der Wald rauscht uns entgegen, die Bäume flüstern und durch das schattige Laub der Zweige stiehlt sich das helle Sonnenlicht und vergoldet den frischen, feuchten Rasen. Ein ähnlich wohlthuendes Gefühl beschleicht den Beschauer beim Anblick des hier vorliegenden Bildes, welches Savoyardenkinder mit ihrem Murmelthier auf der Wanderung darstellt. Wie versteht es der Künstler, dem einfachen, schon so oft benutzten Stoff durch sein Talent eine Fülle neuer und anmuthiger Motive abzugewinnen! Wie fein und scharf ist in den neugierigen Bauermmädchen, in dem gierigen Knaben, der so hastig trinkt, während seine Schwester das verdurstende Thier labt, das Leben abgelauscht und wie macht sich auch hier, wie in allen Bildern Meyerheim’s, ein liebenswürdiger Humor bemerkbar, der jedoch in den andern Arbeiten des jungen Meisters weit drastischer hervortritt, am stärksten in seiner „Menagerie“, die mit Recht für eine Perle der modernen Genre-Malerei gehalten wird und die seinen Namen zuerst berühmt gemacht hat.

Gegenwärtig zählt Paul Meyerheim zu den hervorragendsten Künstlern Berlins und Deutschlands. In einem Alter, wo andere Talente kaum ihre Laufbahn beginnen, steht er bereits dem Ziele nah, obgleich er keineswegs noch den Höhenpunkt seiner genialen Leistungen erreicht hat. Seine Bescheidenheit und harmlose Liebenswürdigkeit zeichnet ihn auch im Privatleben aus. Trotzdem es sich die beste Gesellschaft zur Ehre rechnet, den Künstler bei sich zu sehn, und ihn mit Aufmerksamkeiten überhäuft, fühlt er sich am wohlsten im eigenen gastfreundlichen Hause oder im Kreise einiger Freunde, zu denen vor Allen die berühmten Historienmaler Adolf Menzel, Gustav Richter, der geistreiche Zeichner des Kladderadatsch, Wilhelm Scholz, und noch andere bedeutende Künstler, Schriftsteller und Gelehrte zählen. Am Abend nach gethaner Arbeit versammeln sich die Freunde und sitzen beim Glase Bier in der wohlbekannten Restauration von Schubert, wo neben dem Ernst auch der Scherz, der ausgelassene Humor und selbst der höhere Blödsinn eine freundliche Stätte und ein dankbares Publicum findet. Hier wetteiferte nicht selten Paul Meyerheim mit dem leider zu früh verstorbenen Eduard Hildebrand um die Palme jenes Witzes, den der Berliner als „Kalauer“ zu bezeichnen pflegt, und hier wie überall ist der Künstler ein Liebling der Menschen, wie er der Liebling der Götter ist, die ihm zu allen Gaben des Glückes, Talent und Gesundheit, auch noch eine holde Gattin und eine behagliche, sorgenfreie Existenz geschenkt.

M. R.




Blätter und Blüthen.


Pius der Neunte. „Den 28. November 1860 traf ich,“ schreibt uns ein ehemaliger Officier der päpstlichen Armee, „aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, in Rom ein, und erhielt, gleich vielen Anderen, die für Petri Stuhl gestritten und gelitten hatten, mehrere Tage erbärmliches Quartier in einem mit Ziegelsteinen gepflasterten Corridor des an die Kirche zum Kreuze von Jerusalem stoßenden Klosters. Meine große Sehnsucht, doch einmal den heiligen Vater zu sehen, blieb unerfüllt, da ich schon einige Tage nach meiner Ankunft in der Siebenhügelstadt nach dem Norden des Patrimoniums instradirt wurde, um einem daselbst stehenden Bataillon einverleibt zu werden. Den 19. Februar 1861 kehrte dieses durch massenhafte Desertionen ganz heruntergekommene und demoralisirte Corps nach Rom zurück, um bald nach seiner Ankunft daselbst aufgelöst zu werden.

Fast ein Vierteljahr blieb ich nach Auflösung unseres Corps in Rom und benutzte diese Zeit zur Besichtigung der so äußerst zahlreichen Merkwürdigkeiten dieser Stadt. Meine Absicht, eine Audienz bei Seiner Heiligkeit zu erhalten, konnte ich nicht durchsetzen, da die päpstlichen Militairs hierzu die Erlaubniß bei ihrem Corpschef, dem Brigadegeneral und dem Kriegsminister einzuholen hatten, was so viel hieß, als ad Calendas graecas geschickt werden. Diese Maßregel ist durch einen päpstlichen Ministerialbefehl vom Februar 1861, und zwar, wie ich in Erfahrung brachte, deshalb getroffen worden, weil sich päpstliche Soldaten in einer Audienz bei ihrem obersten Kriegsherrn unanständig benommen hatten. Den französischen Soldaten, die damals Vater Goyon befehligte und in strenger Zucht hielt, war stets freier Zutritt zum Papste gestattet, wie denn Fremde überhaupt leicht Audienz bei demselben erhielten. Pius der Neunte empfing sie sehr freundlich und unterhielt sich eben so mit ihnen. Da er nur Italienisch, Lateinisch und Französisch spricht, so bediente er sich, falls ein Fremder einer dieser drei Sprachen nicht mächtig war, eines der ihm zu Gebote stehenden zahlreichen Dolmetscher. Auf Verlangen schrieb er auch den Fremden eine Bibelstelle oder sonst einen frommen Spruch auf ein Bild, ein Blatt Papier und dergleichen, setzte aber nie seinen Namen darunter.

Da ich von einem Officier erfahren hatte, daß der Papst an jedem Freitage während der Fasten in der Peterskirche seine Andacht verrichte, so verfügte ich mich den 1. März, welcher auf einen Freitag der Fasten fiel, Morgens in Sanct Peter’s Dom, und stellte mich dicht an die Schweizer, welche zu beiden Seiten des Altars, an dem der Heilige Vater seine Andacht verrichten wollte, Spalier gebildet hatten. Eine lautlose Stille herrschte unter allen Anwesenden, worunter sich, wie ich hörte, die kurz vorher von Gaëta angelangten neapolitanischen Majestäten, sowie auch Mitglieder der unseligen bourbonischen Dynastie von der pyrenäischen Halbinsel befanden. Endlich erschien der Papst, gefolgt von verschiedenen hohen geistlichen Würdenträgern, kniete auf dem für ihn bereit gehaltenen Betstuhle nieder und verrichtete, die Hände gefaltet, den Blick oft nach oben gerichtet, seine Andacht. Viele Anwesende vergossen beim Anblicke des in tiefe Andacht versunkenen Oberhauptes der katholischen Kirche Thränen, und auch ich schied tiefgerührt von der Stelle, wo ich dasselbe zum ersten Male sah.

Pius der Neunte ist von mittlerer Statur. Obgleich ziemlich wohlbeleibt, ging er damals so schnell und lebhaft einher, wie ein noch ganz [817] rüstiger Mann; und, obwohl bald siebenzig Jahre alt, und während einer fünfzehnjährigen Regierung schwer geprüft und hart heimgesucht, sah er, wenn man sein gebleichtes Haupthaar nicht in Betracht zog, fast jugendlich aus. Selbst auf seiner Stirn waren kaum Furchen bemerkbar.

Diese nämliche Frische der Erscheinung fiel mir auf, da ich den Papst später einmal in der Lateran-Basilika sah. Dieses Gotteshaus gilt bekanntlich für die erste Kirche der katholischen Christenheit, und wird daher „Omnium Urbis et Orbis ecclesiarum Mater et Caput“ genannt. Die Tiara auf dem Haupte, wurde Pius zum Hochaltare getragen, an dem der Apostelfürst Messe gelesen haben soll, und auf dem nur der Papst oder ein von ihm Bevollmächtigter celebriren darf. Wie in allen Basiliken, so steht auch im Lateran der Celebrirende mit dem Gesichte dem Volke zugewendet. Während des von Pius gehaltenen Hochamtes ließ sich das Sängerchor von Sanct Peter - wie immer ohne Orgelbegleitung - hören. Die Stimme des Papstes klang kräftig und rein. Den Segen nach dem Hochamte ertheilte er, Regens halber, nicht vom Balcon der Basilika herab, sondern in derselben, und sang die Segensworte ebenso kräftig, als vorhin das Hochamt. In feierlichem Zuge kehrte er hierauf in den Vatican zurück.

War dieser Zug des Heiligen Vaters großartig, so war es ungleich mehr der, den er den 27. Mai, am Feste des Heiligen Philipp Reri, des Patrons von Rom, von dessen Kirche aus über die Engelsbrücke nach seiner Residenz hielt. Der feierliche Wagenzug war rechts und links von den unvermeidlichen Schweizern umgeben. Pius saß in einem Staatswagen, der von sechs Rappen gezogen wurde. Das Riemenwerk derselben war mit rothem Saffian überzogen, und das Gold an dem Wagen so verschwenderisch angebracht, daß sich der erste Fürst der Welt seiner nicht hätte zu schämen brauchen; wer freilich dabei an den Peterspfennig dachte, konnte ein leichtes Kopfschütteln nicht unterdrücken.

Man hat gar Vieles, und zwar oft sehr Lächerliches über das Privatleben Pius des Neunten geschrieben. Was darüber, namentlich durch die französische Journalistik, in die Welt gedrungen, kann theils als erfunden, theils als unwahr, theils als entstellt bezeichnet werden, und zwar eben so sicher, als es schwer ist, aus dem Vatican etwas Bestimmtes über jenen interessanten Gegenstand zu erfahren.

Ich habe nach allen Seiten hin Erkundigungen über die Lebensweise Pius des Neunten eingezogen, und zwar bei Personen, von denen ich voraussetzen konnte, daß sie im Stande waren, darüber nähere Auskunft zu ertheilen. Was ich darüber erfuhr, war, daß Pius äußerst einfach lebt und für seine Person fast gar keine Bedürfnisse hat. Freigebig gegen Arme und Hülfsbedürftige, mitleidig gegen Noth und Elend, läßt er Keinen, der sich in seiner Bedrängniß an ihn wendet, leer ausgehn; ja, seine außerordentlich große Freigebigkeit führt ihn oft so weit, daß er Geschenke macht und Gaben spendet, die ihm selbst gewiß Entbehrungen auferlegen. Ich könnte zur Bekräftigung des so eben Gesagten einen sehr eclatanten Fall anführen, muß dies jedoch unterlassen, um nicht auf einen traurigen Proceß der neuesten Zeit zurückzukommen, in welchem ein Schmuck eine seltsame Rolle spielte …

Nur äußerst selten werden hohe distinguirte Personen zur Tafel des Papstes gezogen, und ebenso selten speist der Papst bei solchen auswärts. Während meines Aufenthaltes in Rom that er dies zweimal, und zwar bei den neapolitanischen und spanischen Bourbonen im Quirinal. Bei solchen Gelegenheiten nimmt der Papst aber stets einen höhern Sitz ein, als seine Gastgeber.

Nachmittags gegen vier Uhr fährt Pius gewöhnlich spazieren; er verläßt aber meistens den Wagen, um eine Strecke Weges zu Fuß zurückzulegen. Auf solchen Spazierfahrten hat er immer eine Escorte bei sich, die jedoch eher dazu bestimmt ist, allzu Neugierige fern zu halten, als die Person des Papstes zu schützen, denn darin stimmen selbst die eingefleischtesten Gegner des Papstes überein, daß er ein herzensguter Kirchenfürst ist und das Beste seines Volkes will, ohne freilich das Wohl seiner Unterthanen fördern zu können, weil er, in den Vatican gebannt, nicht weiß, wie es in seinem Lande zugeht und wessen es bedarf. Wirklich entbehrt dieser Vorwurf nicht der Begründung. Persönlich sieht sich Pius nicht in seinem Staate um, und nur selten verläßt er den Vatican auf kürzere Zeit. Er überträgt Alles seinen Ministern und durch diese wurde, obgleich er selbst seit seinem Regierungsantritt nie den Nepotismus gehegt, ein elendes Protections-System aufrecht erhalten, das seine Regierung in den Augen aller rechtlich Denkenden herabsetzen muß und seinen Feinden stets neue Waffen in die Hand giebt.

Ich will hier auf ein Feld hinweisen, das ich vollständig kennen gelernt habe und auf dem das Protectionssystem im reichlichsten Maße gewuchert und unermeßlichen Schaden angerichtet hat: es ist dies das päpstliche Heer. Eine förmliche scandalöse Chronik könnte ich darüber schreiben, wie in diesem gerade die Unfähigsten und Unwürdigsten befördert, verdienstvolle Männer dagegen mißachtet, vernachlässigt und bei Seite geschoben, Orden an ganz verdienstlose, ja selbst schlechte Subjecte verliehen wurden.

Zu meiner Zeit spielten die französischen Legitimisten, diese erbärmlichen Egoisten, welche den Papst nur als ein Werkzeug zur Erreichung ihrer eigenen Zwecke ansehen, im päpstlichen Heere die Hauptrolle. Die Heloten desselben waren die Deutschen, und ich warne, durch die traurigsten Erfahrungen belehrt, jeden Landsmann vor dem Eintritt in den päpstlichen Militärdienst. Ist es schon höchst unangenehm, in einem Lande zu sein, dessen Einwohner Alles. was die päpstliche Uniform trägt, hassen, meiden und fliehen, so ist dieses Leben für den deutschen Legionär noch um so lästiger, unangenehmer und trauriger, als er von seinen französischen, belgischen, schweizerischen und irländer Cameraden über die Achsel angesehen wird. –

Alle diese Eindrücke beschäftigten mich wieder lebhaft in den Tagen, die dem von Pius dem Neunten angesetzten Concil vorausgingen – diesem Concil, welches nichts als ein Werk der im Vatican so mächtigen Väter der Gesellschaft Jesu ist. Zwar ist man auf einer gewissen Seite aus allen Kräften bemüht, die Behauptung aufrecht zu erhalten, Pius der Neunte sei kein Werkzeug irgend einer Partei, allein dem muß schnurstracks widersprochen werden. Ein Fürst, der nur durch Andere sieht und hört, kann nicht selbstständig, nicht unparteiisch handeln; ein Fürst, der nur das sieht und hört, was ihm Andere vorlegen und sagen, muß das Spielzeug dieser werden. Viel Unheil würde dem Kirchenstaate, der Welt, wenigstens der katholischen, erspart worden sein, wenn die Päpste sich ein wenig in den verschiedenen Ländern umgesehen hätten, öfter aus dem Vatican und ihrem Reich herausgekommen wären.“




Das Dresdener Hoftheater und sein Erbauer. Die Gartenlaube und mit ihr viele andere Blätter haben unmittelbar nach dem Brande des Dresdener Hoftheaters eingehende Berichte über dieses unglückselige Ereigniß gebracht und dabei selbstverständlich auch seines Erbauers, Gottfried Semper’s, in mehr oder minder ausführlicher Weise gedacht. Dabei ist, wie dies bei solchen Vorfällen zu gehen pflegt, über die man rasch berichten will, viel Unvollkommenes, viel Unrichtiges und auch viel absichtlich Gefälschtes mit untergelaufen. Daß die Gartenlaube, wenn die Mittheilungen ihres Correspondenten sich später nicht in jedem Punkte als zutreffend erwiesen, dabei keine absichtliche Verdrehung beabsichtigte, braucht nicht weiter versichert zu werden; aber sie ergreift gern die Gelegenheit, die ihr durch einen ausführlichen Brief Gottfried Semper’s an den Herausgeber geboten wird, dasjenige zu berichtigen, worin sie selbst zu ihrem Bedauern ungenügend unterrichtet war, und diejenigen Anklagen anderer Blätter zu widerlegen, bei deren Erwähnung Semper selber sagt, man müßte über die Geschmacklosigkeit staunen, die sich in der Wahl der Veranlassung zu solchen Herabsetzungen seines Werkes unmittelbar nach dessen Zerstörung zu erkennen gab, wäre man nicht versucht, tendenziöse Absichten darunter zu vermuthen.

„Dies ist auch der Grund,“ fährt Semper in seinem Briefe fort, „warum ich mich veranlaßt sehe, mein Stillschweigen zu brechen und den Werth jener Insinuationen und Mäkeleien zu beleuchten, obschon ein solches Sichverwahren durchaus meiner Neigung widerspricht. Ich habe nicht nur die Entwürfe zu dem jetzt zerstörten Theater gemacht, sondern den Bau desselben bis zu seiner letzten Durchbildung geleitet. Niemals war ein Bau so ganz das eigenhändige Werk des Architekten wie dieser! Jede Detailzeichnung, jede Schablone, die Angaben der Tischlerarbeiten, die decorativen Details und Arabesken, die Möbel, kurz Alles ohne Ausnahme wurde von mir in Größe der Ausführung auf blauem Papier mit rother oder schwarzer Farbe in Umrissen aufgetragen. Dabei standen mir nur einige von meinen Schülern, die aber damals noch wenig Uebung hatten, zur Seite, von denen einer, Herr Krüger, jetzt zweiter sächsischer Hofbaumeister ist und mir die Wahrheit des Gesagten bezeugen wird. Auch stand ich zur Beaufsichtigung der vorschriftsmäßigen Ausführung der Arbeiten in ununterbrochenem persönlichem Verkehr mit den Künstlern und feineren Gewerken (Steinmetzen, Schreinern, Tapezirern etc.), während die Verwaltung des Baues und der Rohbau dem Hofbaumeister oblag, natürlich nach Vorschrift meiner Pläne und Angaben. Die gleichmäßige harmonische Durchführung, die an dem zerstörten Werke hervorgehoben wurde, erklärt sich allein aus dieser Einheit der Angabe und Leitung, aus dieser Gewissenhaftigkeit in der Durchführung. Da war nicht ein einziges Stück vorräthiger Marktwaare angebracht, sondern jedes Einzelne für den Zweck besonders componirt und gemacht, nirgends Wiederholungen. Aber was ich mir bei diesem Bau wohl als Hauptverdienst anrechnen darf (welches Verdienst ich übrigens mit meinem damaligen Chef, dem verewigten Freiherrn von Lüttichau, damaligem Generalintendanten der königl. Theater und Capellen hochverehrten Andenkens theile), ist die dadurch veranlaßte Herbeiziehung ausgezeichneter künstlerischer und kunstgewerblicher Kräfte aus allen Ländern und die gleichzeitige allgemeine Hebung der Künste und Kunstgewerke in Dresden. Namentlich in letzteren, den Kunstgewerken, die mehr als die hohen Künste einer Aufmunterung und Erfrischung bedurften, gab sich in Folge des Baues ein schöner Aufschwung kund, der aber leider nur von kurzer Dauer sein sollte.

So viel von meiner Betheiligung an dem Werke, das durch gewissenloseste Fahrlässigkeit verloren ging.

Ueber den posthumen Tadel, den man ihm in’s Grab nachschleudert, kann ich mich kurz fassen. Vorher möchte ich fragen, welchen Eindruck es wohl gemacht hätte, wenn irgend einem Zeitungscorrespondenten eingefallen wäre, den Hänel’schen Bacchantenfries ober die Rietschel’schen Giebelgruppen bei Gelegenheit der Meldung ihres Untergangs einer tadelnden Kritik zu unterwerfen? Ist der Architekt in dieser Beziehung vogelfrei? Den schlimmsten Vorwurf, der Saal sei unakustisch gewesen, weise ich einfach zurück, mich berufend auf das allgemeine Urtheil aller Künstler und Zuhörer, welche seit der Eröffnung desselben ihn betreten haben. Bis jetzt galt er allgemein für sehr sonor und angemessen. Der Tadel rührt wahrscheinlich von irgend einem Sänger her, der seine Stimme verloren hat und sich nun einbildet, sie sei an dem Plafond des Dresdener Theaters hängen geblieben. Ausgänge und zwar höchst bequeme besaß das Dresdener Theater mehr als irgend ein anderes. Was die inneren Gänge betrifft, so maßen sie zwei Meter Breite, d. h. gerade so viel als die Gänge des Pariser Opernhauses, des Theaters von Bordeaux, des kaiserlichen Hoftheaters in St. Petersburg und der meisten großen Theater im nördlichen Europa, einen guten halben Fuß mehr als die Gänge des Theaters della Scala in Mailand und der Theater in Turin, Genua, Neapel etc., d. h. der größten bestehenden Theater der Welt! Dazu kam noch für das Dresdener Theater die Bequemlichkeit eines achtzehn Fuß breiten eisernen Corridors, der überall mit dem Innern durch breite nach beiden Seiten sich öffnende Thüren in Verbindung stand und unmittelbar zu den beiden Haupttreppen führte.

Es wäre für die Verfasser der gegen mich gerichteten Anklagen eine Leichtigkeit gewesen, sich Einsicht in das Kupferwerk über den besprochenen Bau zu verschaffen, was ihre Pflicht war, bevor sie ihre weittragenden

[818] Artikel in die Welt schickten. Dieses Werk wurde unmittelbar nach der Eröffnung des Theaters nach meinen Originalplänen gemacht, und giebt über dessen ehemaligen Bestand bessere Auskunft als das Geschwätz eines Spritzeninspectors, auf das jene Ausstellungen sich gründen wollen.

Die Ankleidezimmer, welche jedes nur für eine Person dienten, waren für diesen Zweck genügend groß (wenn schon freilich im Vergleiche mit den mächtigen Räumen des Saales und der Bühne verschwindend klein) und in genügender Anzahl vorhanden. Es fehlte von allem Anfange weder an Aufenthaltsräumen für Choristen und Statisten, noch an Garderoben jeder Abtheilung. Wenn später diese Räume nicht genügten, so war dies der Fehler derjenigen, die unvorsichtiger Weise den Requisitenvorrath, für den ein besonderes Depôt außerhalb des Hauses gehörte, im inneren desselben sich immer mehr anhäufen ließen, was den Verlust aller dieser Schätze zur Folge hatte.

Aus meinen Plänen hätte man auch entnehmen können, daß es an ‚den gewissen höchst nothwendigen Localitäten‘ überall nicht gefehlt hat, wie man mir vorwarf, auch nicht in den obersten Galerien, wo sich an jeder Seite eine befand. Wenn sie später verschlossen worden sind, um sich die Kosten der Beaufsichtigung und des Reinhaltens zu ersparen, so ist dies nicht die Schuld der Anlage.

Diese ‚höchst nothwendigen Localitäten‘ bilden überhaupt in einem Theater stets große Uebelstände, wenn man sie zu sehr vervielfältigt und in die höheren Räume versetzt, weil der Luftzug der Ventilation und des Kronleuchters den Geruch derselben fast unvermeidlich macht. Man soll eigentlich öffentliche Abtritte nur im untersten Theile des Hauses gestatten, was zwar unbequem, aber der allgemeinen Salubrität angemessen ist. Wer übrigens für zwei bis drei Stunden einen Kunsttempel betreten will, soll sich in jeder Beziehung dazu vorbereiten. Wer denkt an Abtritte in den Kirchen?

Ebensowenig hat die Anlage es verschuldet, daß die Löschapparate in Unordnung waren, da, wie auf den Durchschnittsplänen des Kupferwerkes deutlich wahrzunehmen ist, zwei Kolosse von Wasserbehältern über dem Bogen des Prosceniums genügende Wassermassen spenden konnten, wenn man sie anfüllte und ihre Röhren in Ordnung hielt. Doch genug von diesen Misèren.

Ich erwähne noch, daß der Plafond nicht von Desplechin, sondern in seinen decorativen Theilen nach meiner Zeichnung von Jules Dieterle herrührte. Die Vignetten und Bilder waren von Gosse. Von Dieterle’s eigner Meisterhand waren auch die Chimären und Masken mit Arabeskenumgebung, welche die Füllungen der beiden ersten Rangbrüstungen schmückten, en camayeu, blau auf Perlfarbe, mit Silberschraffirung. Diese wurden aber schon bei der großen Restauration, die vor einigen Jahren stattfand, beseitigt und durch Steinpappe-Rosetten ersetzt.

Auch die Theaterdecorationen rührten keineswegs alle von Desplechin her, sondern damals arbeiteten vier Künstler von fast gleichen Talenten in Gemeinschaft Séchau, Desplechin, Feuchère und Dieterle, die sich erst später, nach der Vollendung ihrer Dresdener Arbeiten, von einander trennten.“

Soweit Semper über das alte, nun zu Grunde gegangene Theater. Was das neue, das zu erbauende, betrifft, so ist bereits von anderer Seite nachdrücklich darauf hingewiesen worden, daß die Berufung Semper’s vor Allen und in erster Linie geboten sei. Die von dem Dresdener Comité beabsichtigte Concurrenz wird nicht verfangen, und wie Semper persönlich darüber denkt, beweisen noch folgende Zeilen aus einem späteren Briefe desselben an den Herausgeber der Gartenlaube:

„Das Manöver, mich bei einer Ausschreibung ‚in erster Linie in Betracht ziehen zu wollen‘, ist sehr pfiffig erfunden, um die öffentliche Meinung zu beschwichtigen und meiner sich mit bester Manier zu entledigen; denn man weiß sehr wohl, daß ich mich auf keine Concurrenz einlassen kann.“




Für die stillen Tage der kommenden Festwoche empfiehlt die Gartenlaube ihren Lesern dringend ein Buch, welches mit vollem Recht einen Platz neben dem Schönsten und Besten beanspruchen darf, es ist der vierbändige Roman der Frau W. v. Hillern: „ein Arzt der Seele“. Die Verfasserin, eine Tochter der Frau Birch-Pfeiffer, legt in glänzender Weise Zeugniß dafür ab, daß tief- und feingebildete Frauen wohl berufen sind, mit ihrer Kunst sich an die Angehörigen ihrer Nation zu wenden, und wie es E. Marlitt gelungen ist, fast über Nacht die meistgelesene, beliebteste Schriftstellerin des deutschen Volkes zu werden, so wird auch Frau v. Hillern sich rasch einen Leserkreis erobern, der sie lieb gewinnt und bewundert. Zwar Frau v. Hillern besitzt vielleicht nicht ganz jenen poetischen Zauber, der die Marlitt’schen Gestalten umwebt, sie entwickelt nicht so dramatisch, wie es die Verfasserin der Goldelse und der alten Mamsell thut, deren Romane sofort nach ihrem Erscheinen und später noch für die Bühne bearbeitet wurden – aber sie arbeitet und denkt mit einem fast männlichen, durch und durch gebildeten Geist, gestützt auf ein reiches, durch umfassenden Fleiß erworbenes Wissen, begabt mit einer erfinderischen, fesselnden, immer beweglichen Phantasie und erfüllt von der echten, voll hinströmenden Begeisterung für das höchste und herrlichste Gut des Menschen, die Freiheit.

Auch Frau v. Hillern giebt, wie dies jetzt Sitte geworden, den ganzen Lebenslauf ihres Helden, fast von der Wiege an. Ihr Held – wir dürfen wohl so sagen, denn Ernestine kämpft und streitet mit dem Muth, dem Trotz und der Verzweiflung des Mannes gegen eine Welt – tritt mit der hochgeschwungenen Fahne des Geistes und in der vollen Kämpferrüstung der Wissenschaft ein in die Reihe der für ihre Freiheit, für ihre Selbstständigkeit streitenden Frauen; es ist uns natürlich hier nicht möglich, die einzelnen Stadien der mühe- und sorgenvollen Laufbahn zu verfolgen, welche die Autorin ihre Heldin zurücklegen läßt; in geistvoller Weise wird die Lösung des Conflicts durch die Erkenntniß herbeigeführt, daß das Weib berufen sei, die Arbeit mit dem Mann zu theilen, sich zu diesem edlen Berufe würdig heranzubilden, seine fördernde Helferin und Genossin zu sein, aber nicht außer den Schranken schöner Weiblichkeit sich herausfordernd neben ihn zu stellen oder gleich ihm in die Wogen des Lebens zu stürzen, denen gegenüber der stärkste Frauenarm nur schwach und zart ist. Mit dieser Erkenntniß gewinnt Ernestine Ruhe und mit ihr kehrt auch der alte, längst verlorene Glaube in das dem Untergang nahgewesene Herz zurück. Zu den schönsten Figuren des Romans gehört Möller’s, des stattlichen Professors, Mutter, eine würdige, in ihrer Ehrlichkeit und in ihrer Hingebung für den Sohn rührende Erscheinung, dann der blinde Lehrer, und wiederum die hübsche, in den Schlingen der Liebe so rasch gefangene Tochter des verrätherischen Leuthold, der Ernestine, nachdem er ihr das Vermögen gestohlen, auch den Frieden der Seele systematisch zu tödten sucht. Jede der Gestalten ist – ein Vorzug, der Frauenhänden nicht immer eigen sein soll – charakteristisch gehalten, logisch durchgeführt, und wir glauben, ihnen allen – bis auf den schlangenhaften Collegen Möller’s und die in frischen Farben geschilderte, die Emancipation des Fleisches predigende Gräfin – schon irgendwo begegnet zu sein.

Der ganze Roman ist von hohem, sittlichem Ernst durchweht, er tritt streitend in den Kampf des Tages, den Kampf um Frauenberuf und Frauenselbstständigkeit, ein; er löst diesen – für sich – in einer dem innersten Wesen des Weibes angemessenen Weise, und schon darum würde er im höchsten Grade unsere Beachtung verdienen, auch wenn er künstlerisch nicht so durchgebildet und durchgearbeitet wäre, wie er es wirklich ist.
Oe.




Resultate der Humboldt-Feier, Man schreibt uns – bei Gelegenheit einer Geldsendung für die Verschütteten in Plauen – aus Columbus, Staat Ohio in Amerika. „Erfreulich ist es, zu sehen, wie ein neuer, regerer Geist seit Begehung des Humboldt-Festes im Volke sich zeigt, wie das Streben nach Wissen wach und seiner selbst bewußt wird. In vielen Orten diesseits des Meeres beginnt es sich zu regen; in allen größeren Städten bilden sich Humboldt-Vereine, deren Hauptzweck Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse und allgemeiner Bildung ist. Mögen dieselben gedeihen und sich mehren, ihr vorgestecktes Ziel eifrig verfolgen, die Leuchte der Vernunft überall hindringen lassen, und ihr Endziel: klares Denken, richtiges Auffassen und selbstbewußtes Handeln unter das Volk zu bringen – erreichen. Dies ist besonders in diesem freien Lande nothwendig, wo die Geister sich selbst Bande anlegen.“



An unsere Freunde!

Es ist uns eine große Freude, den Lesern der Gartenlaube wiederholt die angenehme Mittheilung machen zu können, daß für den kommenden Jahrgang folgende ausgezeichnete Erzählungen zum Abdruck vorliegen:

Aus eigener Kraft. Von Wilh. von Hillern, Verf. des „Arztes der Seele“.

Der Fels der Ehrenlegion. Von Berth. Auerbach.

Die Türken in München. Geschichtliche Erzählung von Herm. Schmid.

Außerdem – und dies diene zugleich als Antwort auf die vielfachen Anfragen und die namentlich in süddeutschen Zeitungen verbreitete falsche Nachricht von dem jüngsterfolgten Tode unsrer verehrten Mitarbeiterin – dürfen wir jetzt schon den vielen Freunden der Marlitt’schen Muse verrathen, daß

E. Marlitt

bereits seit einigen Wochen an einer neuen Erzählung arbeitet, die ebenfalls im Laufe des nächsten Jahrgangs zur Veröffentlichung kommen wird. Wenn wir zu den gefeierten Namen Marlitt, Berth. Auerbach, H. Schmid, W. von Hillern noch den des Paul Heyse

hinzufügen, der uns gleichfalls eine Erzählung zugesagt, so glauben wir mit Stolz auf den novellistischen Theil des nächsten Jahrgangs hinweisen zu können. Ueber die sonstigen Beiträge später ein Mehreres.
D. Redaction.

Weihnachtsgeschenk!

Bei Ernst Keil in Leipzig ist erschienen:

Robert Prutz, Buch der Liebe, Gedichte elegant gebunden 11/2 Thlr.

Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Errregung
  2. vergl. Berichtigung (Die Gartenlaube 1870/3)