Goethe und die schöne Mailänderin

Textdaten
<<< >>>
Autor: H. Epaulis i.e. Heinrich Viehoff
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Goethe und die schöne Mailänderin
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 39, S. 617–620
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[617]
Goethe und die schöne Mailänderin.

Als Goethe im September 1786 über die Alpen gegangen war, fand er sich in dem schönen, zum Lebensgenuß reizenden Italien bis tief in den Sommer des nächsten Jahres hinein vor der Wiederkehr der alten Sesenheimer und Wetzlarer Freuden und Leiden durch Zweierlei geschützt. Erstens hatte er die Liebe zu Frau von Stein als schirmenden Talisman mitgebracht. Aber eine stärkere Schutzwehr noch war die ungeheuere Fülle neuer Anschauungen, die ihm Kunst und Natur in Italien darboten, [618] und der rastlose Eifer, mit welchem er diese Anschauungen ergriff und für seine innere Auferbauung zu verwerthen suchte.[1] In seiner schönen Wohnung auf dem Corso zu Rom, dem Palast Rondanini gegenüber, hielt er sich vor der großen, besonders der vornehmen Welt in einer Art von Halb-Incognito verborgen, bewegte sich aber dafür um so freier und heiterer in einem Kreise von Künstlern und Kunstliebhabern, zu denen Hackert, Tischbein, Angelica Kaufmann und ihr Gemahl Antonio Zucchi, der sachsen-gothaische Hofrath Reiffenstein, einst Winckelmann’s vertrauter Freund, und viele Andere gehörten. Ueber seinen Kunstgenüssen war Goethe allerdings nicht blind für hervorragende Schönheiten der römischen Frauenwelt; besonders erregte eine junge Römerin, die unfern von ihm auf dem Corso wohnte, seine Aufmerksamkeit. Er pflegte, wenn sie Abends vor der Thür saß, sie im Vorübergehen zu grüßen, ohne jedoch ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen. Zu einem näheren Bekanntwerden kam es erst im Herbst 1787 bei einer Villeggiatur zu Castel Gandolfo, deren sich Goethe etwa vom 6. bis zum 24. October bei dem herrlichsten Wetter erfreute.

Er war dort mit Reiffenstein bei dem reichen englischen Kunsthändler Jenkins einquartiert. Nach und nach fand sich eine große Zahl von Gästen ein, unter Anderen Angelica Kaufmann mit ihrem Gemahl, auch – die schöne römische Nachbarin mit ihrer Mutter; und unter dieser ganzen Gesellschaft gestaltete sich sofort ein traulich geselliger Verkehr, wie in einem Badeorte. In der Morgenfrühe schweifte Goethe, damals wieder lebhaft für das Landschaftszeichnen schwärmend, in dem Gebirge umher und bemühte sich, die frappantesten Motive nachzuzeichnen. Nach der Rückkehr gehörte er für den übrigen Tag der Gesellschaft an, in welcher gemeinschaftliches Mittagsmahl, Spaziergänge, Lustpartieen, ernst- und scherzhafte Unterhaltung schnell Bekanntschaft und Vertraulichkeit hervorriefen. Die junge Römerin kam dem Dichter wie eine bereits Bekannte entgegen, und er versäumte seinerseits nichts, sich ihr gefällig und aufmerksam zu erweisen.

Es tritt, wenn man zwischen den Zeilen des vom Dichter selbst nur vorsichtig Mitgetheilten liest, der Gedanke nahe, daß das Zusammentreffen der beiden römischen Nachbarinnen mit ihm in Castel Gandolfo, wenigstens von Seiten der Mutter, nicht ganz absichtslos geschah. Wenn dem so war, so hatte sie die Unklugheit begangen, ihrer Tochter selbst eine gefährliche Rivalin zur Seite zu stellen. In ihrer Begleitung war nämlich auch eine schöne Mailänderin mitgekommen, Schwester eines Commis von Herrn Jenkins und mit der jungen Römerin nahe befreundet. Beide Schönen bildeten einen entschiedenen, wenn auch nicht schroffen Gegensatz: die Römerin von dunkelbraunem Haar, die Mailänderin von hellbraunem; jene braun von Gesichtsfarbe, diese klar, von zartem Teint; jene braunäugig, diese mit fast blauen Augen; jene etwas ernst und zurückhaltend, diese offener und zutraulicher.

Eine kurze Zeit hielten sich die beiden anziehenden Pole einander ziemlich das Gleichgewicht, aber bald brachte ein besonderer Anlaß unseren Dichter zum Bewußtsein, daß sich seine Neigung bereits für die Mailänderin entschieden hatte.

Goethe saß eines Abends bei einer Art Lottospiel zwischen den beiden jungen Damen und hatte mit der Römerin Casse zusammen gemacht. Im Laufe des Spiels fügte es sich, daß er auch mit der Mailänderin sein Glück durch Wetten versuchte, so daß auf dieser Seite gleichfalls eine Art von Partnerschaft entstand. Vertieft in die Lust der Unterhaltung, wie er war, bemerkte er nicht, daß diese Theilung seines Interesses Mißfallen erregte, bis nach aufgehobener Partie die Mutter der Römerin abseits zu ihm trat und ihn zwar höflich, aber mit Matronenernst in’s Gebet nahm. In einer Villeggiatur, belehrte sie ihn, sei es allgemeine Sitte, daß Personen, die sich näher aneinander geschlossen, der Gesellschaft gegenüber in diesem Verhältniß verharrten und für die ganze Saison die Rolle einer anmuthigen, besonderen Wechselgefälligkeit durchführten. Da er nun einmal mit ihrer Tochter in solche Beziehung gekommen sei, so schicke es sich nicht wohl, mit einer andern jungen Dame in gleiche Beziehung zu treten. Goethe war eifrig bemüht, sich zu entschuldigen; als ein Fremder, bemerkte er, habe er jene Sitte nicht gekannt, in Deutschland sei es vielmehr herkömmlich, sämmtlichen Damen der Gesellschaft, der einen mit und nach der anderen, sich dienstlich und höflich zu erweisen, und das habe ihm hier um so mehr am Platze gedünkt, als die beiden jungen Damen ja durch Freundschaft enge verbunden seien. Indem er so der älteren Dame gegenüber jede Vorliebe für die Mailänderin abzustreifen suchte, empfand er auf einmal mit der größten Bestimmtheit, daß diese ihn wirklich ganz erobert hatte; und um die Herzensfreiheit, die er bis dahin in Italien bewahrt hatte, war’s geschehen.

Goethe suchte am nächsten Morgen sogleich ihre Gesellschaft auf, und da sie im Laufe der Unterhaltung es beklagte, an der englischen Conversation von Herrn Jenkins, Madame Angelica und Andern nicht Theil nehmen zu können[WS 1], erbot er sich, ihr zur Erlernung des Englischen behülflich zu sein. Das war freilich eine Beschäftigung, die mindestens eben so geeignet war, die Liebe des Lehrers, als die Sprachkenntnisse seiner Schülerin zu fördern.

Die artistischen Morgenwanderungen wurden nun ausgesetzt, um möglichst früh mit der Geliebten zusammen sein zu können, und auch diese versäumte ihrerseits keine Gelegenheit, in der Nähe des Lehrers zu sein. Man hatte ihm an einem der nächsten Tage an der großen Mittagstafel den Platz rechts neben Angelica Kaufmann angewiesen. Eben als er diesen eingenommen, erschien seine Schülerin gegenüber am Tisch und besann sich keinen Augenblick, während die übrigen Tischgenossen sich um ihre Plätze becomplimentirten, um die Tafel herumzugehen und sich neben Goethe niederzulassen. Angelica bemerkte es mit Verwunderung und ahnte als eine scharfblickende Frau, daß mit ihrem bisher so frauenmeidenden Freunde etwas Besonderes müsse vorgegangen sein, wie sehr er sich auch Mühe gab, sein Gespräch zwischen den beiden Tischnachbarinnen gebührend zu theilen.

Leider sollte seine lebhafte Gemüthsbewegung noch an demselben Tage eine Steigerung schmerzlicher Art erfahren. Als er gegen Abend sich nach den jungen Damen umsah, fand er die älteren Frauen in einem Pavillon sitzend, wo sich die herrlichste der Aussichten darbot. Goethe schweifte mit seinen Blicken in die Runde und überzeugte sich, daß Amor als der höchste Landschaftsmaler erst einem solchen Bilde das Gepräge vollendeter Klarheit und Schönheit aufdrücke. Es hatte sich ein Ton, erzählt er selbst, über die Gegend gezogen, der weder dem Untergang der Sonne, noch den Düften des Abends allein zuzuschreiben war. Die glühende Beleuchtung der hohen Stellen, die kühlende blaue Beschattung der Tiefe war herrlicher, als sie ihm je in Oel oder Aquarell erschienen waren. Auf die Einladung der Damen an einem Fenster sich niederlassend, hörte er, in Beschauung der Landschaft und in Gedanken an die Geliebte vertieft, lange nur mit halbem Ohr einem Gespräch über Ausstattung einer Braut und die Eigenschaften des Bräutigams zu, und fragte zuletzt, wer denn die Braut sei. Da vernahm er, eben im Augenblick als die Sonne untertauchte, zu seiner höchsten Bestürzung, es sei Niemand anders, als seine Schülerin. Um seine Bewegung zu verbergen, verließ er augenblicklich die Gesellschaft, suchte ein einsames Plätzchen zur Bekämpfung seiner Schmerzen auf und sah sich nun in Italien abermals von den Wetzlarer Leiden bedroht.

Goethe will in den Berichten, die er in späterem Alter über diese Tage geschrieben, uns glauben machen, daß sich das Verhältniß in seinem Gemüth bald auf die anmuthigste Weise zurecht gelegt habe. Indem er gezwungen gewesen sei, die Geliebte nunmehr als Braut, als künftige Gattin anzusehen, habe sie sich vor seinem innern Blick aus dem trivialen Mädchenzustande in einen würdigeren erhoben, und in seinem Begegnen mit ihr habe sich fortan eine höhere, uneigennützige Zuneigung, mit Ehrfurcht verbunden, ausgesprochen. Es läßt sich aber in manchen Fällen nachweisen, wie Goethe in den aus spätern Jahren herrührenden Darstellungen früherer Herzensbeziehungen über Manches einen farbendämpfenden Schleier zu breiten liebte, oft vielleicht nur, um seinem weichen Gefühl schmerzliche Erinnerungen erträglicher zu [619] machen. So können wir auch im vorliegenden Falle zeigen, daß der Schmerz[WS 2] um den Verlust seiner Geliebten noch lange, bis etwa in den Juni des folgenden Jahres hinein, in seiner Brust nachgeklungen habe und oft hindernd genug zwischen all’ die ernsten Aufgaben getreten sei, die er sich noch für den weiteren Aufenthalt in Italien vorgesetzt hatte. Doch dürfen wir ihm Glauben schenken, wenn er sagt, er habe diesmal, durch frühere Erfahrungen und reifere Jahre unterstützt, sich entschlossener von der erst im Keimen begriffenen Leidenschaft loszureißen gesucht.

In der Frühe des nächsten Morgens nach der schmerzlichen Entdeckung ließ er sich für die Mittagstafel entschuldigen, machte, die Mappe unter dem Arm, einen weiten Weg durch das Gebirge, wich nach der Rückkehr den englischen Studien aus und hatte Acht darauf, der heimlich Geliebten nur im Beisein mehrerer Personen zu begegnen.

In diese Tage fällt die erste Conception des wunderschönen Gedichtes Amor als Landschaftsmaler, wenn es gleich erst in einem Briefe an Herder vom 22. Februar des nächsten Jahres erwähnt wird. Goethe deutet selbst in seinem Bericht über die Villeggiatur zu Castel Gandolfo auf den Sinn des Gedichtes hin, da, wo er erzählt, er habe sich nach der erschütternden Aufweckung aus seinem süßen Liebestraum rasch zu dem inzwischen vernachlässigten Landschaftzeichnen zurückgewandt und dabei die Erfahrung gemacht, daß seine Technik zwar wie früher unzulänglich gewesen, aber daß er im Sehen in den letzten Tagen einen großen Fortschritt gemacht. Die ganze Fülle der landschaftlichen Bilder jener Gegend sei durch seine Gemüthsaufregung seinem Auge gleichsam fühlbar geworden, und so habe er dem Schmerz nicht grollen können, der ihm den innern und äußern Sinn in solchem Grade geschärft habe. Eben dieses drückt auch unser Gedicht in sinnbildlich poetischer Weise aus. Der Dichter sitzt in der Frühe des Herbstmorgens auf einer Felsenspitze und starrt, von seinem Liebesschmerz hingenommen, in den Nebel, der, wie ein grau grundirtes Tuch gespannt, Alles in die Breite und Höhe deckt.

Da findet sich Amor ein und malt ihm ein Landschaftsbild:

Und er richtete den Zeigefinger,
Der so röthlich war wie eine Rose,
Nach dem weiten ausgespannten Teppich,
Fing mit seinem Finger an zu zeichnen.
Oben malt’ er eine schöne Sonne,
Die mir in die Augen mächtig glänzte,
Und den Saum der Wolken macht’ er golden,
Ließ die Strahlen durch die Wolken dringen;
Malte dann die zarten, leichten Wipfel
Frisch erquickter Bäume, zog die Hügel,
Einen nach dem andern, frei dahinter;
Unten ließ er’s nicht an Wasser fehlen,
Zeichnete den Fluß so ganz natürlich,
Daß er schien im Sonnenstrahl zu glitzern,
Daß er schien am hohen Rand zu rauschen.
Ach, da standen Blumen an dem Flusse,
Und da waren Farben auf der Wiese,
Gold und Schmelz und Purpur und ein Grünes,
Alles wie Smaragd und wie Karfunkel!
Hell und rein lasirt’ er draus den Himmel,
Und die blauen Berge fern und ferner,
Daß ich, ganz entzückt und neu geboren,
Bald den Maler, bald das Bild beschaute.

Der poetischen Fiction entkleidet, heißt dieses: die aus dem Nebelflor vor dem Dichter sich entwickelnde Landschaft schaut er aus dem Grunde in so wunderbarer Klarheit und Körperlichkeit, weil die Kraft seines Sinnes durch die Liebe gesteigert ist. Und wie es ihm damals mit der vor ihm ausgebreiteten Landschaft erging, so ergeht es uns fort und fort mit dem poetischen Bilde, das er uns in dem Gedichte vorführt; es tritt uns jeder Zug darin mit einer wunderbaren Kraft und Reinheit stereoskopisch klar entgegen, was sich zum Theil daraus erklärt, daß ihm jene poetische Fiction gestattete, das poetische Gemälde durch und durch nach der Lessing’schen Regel zu entwerfen: der Dichter solle den zu malenden Gegenstand nicht als einen fertigen, sondern als einen werdenden darstellen.

Als Goethe gegen den 24. October wieder in Rom angelangt war, ergab er sich von Neuem einer mannigfachen und angestrengten Thätigkeit, die zwar seine Liebesleiden zu mildern, aber nicht zu ersticken vermochte. Dazu kam, daß er Anfangs December die Nachricht erhielt, der Bräutigam seiner still Geliebten habe unter irgend welchen Vorwänden sich zurückgezogen und von der Verlobten losgesagt, und diese sei aus Gemüthsbewegung darüber in ein heftiges Fieber verfallen, welches für ihr Leben fürchten lasse.

Voll schmerzlicher Besorgniß ließ er sich tagtäglich, und die erste Zeit sogar zweimal täglich, nach ihrem Zustande erkundigen, und stellte zugleich genaue Nachforschungen über die Vorwände des Bräutigams an, weil er von dem Gedanken geängstigt wurde, durch sein Benehmen gegen die Braut in Castel Gandolfo Anlaß zur Auflösung des Verhältnisses gegeben zu haben.

Zu seiner Beruhigung erfuhr er, daß unter den Vorwänden nicht im mindesten jener Villeggiatur gedacht worden sei, und er pries sich glücklich, damals seine Neigung im Zügel gehalten und sich so bald von dem lieben Mädchen zurückgezogen zu haben.

Aber höchst schmerzlich war es ihm, sich ihr schönes heiteres Auge durch Thränen getrübt, das frische Jugendroth ihrer Wangen durch Kummer und Krankheit gebleicht vorstellen zu müssen, und er gelangte erst zu einiger Beruhigung, als er Mitte December auf einer kleinen Gebirgstour eben da, wo er in den schönsten Herbsttagen sie kennen gelernt hatte, in Castel Gandolfo die Nachricht von ihrer Genesung erhielt.

So zitterte also die Herzensbewegung, die er mit zu großem Selbstvertrauen als eine angenehme Unterhaltung für die Villeggiaturzeit selbst eingeleitet hatte, noch immer in seinem Busen fort und mag sich oft genug störend und verwirrend zwischen sein ernstes Bildungsstreben gedrängt haben. Als interessantes Document seines Gemüthszustandes gegen den Jahresschluß hin hat sich ein sehr anmuthiges Gedicht erhalten, dessen Goethe zwar erst im Bericht vom Januar 1788 gedenkt, dessen Entstehung aber ohne Zweifel in den December, wenn nicht gar in den November 1787 zurückreicht. Aus einem Briefe vom 9. Februar des nächsten Jahres erfahren wir, daß es Goethe’s Leibliedchen geworden war, wieder ein Beweis, wie tief ihm das Verhältniß zu Herzen ging, und wie viel er noch in spätem Alter auf das Gedicht hielt, bezeugen die Gespräche mit Eckermann an vielen Stellen. Da es von Goethe aus der Gedichtsammlung ausgeschlossen worden ist und daher manchem Leser noch unbekannt sein mag, erlaube ich mir, es ganz mitzutheilen. Viehoff hat ihm in seinem Commentar folgenden jetzt ziemlich allgemein adoptirten Titel gegeben:

Amor als Gast.

Cupido, loser, eigensinniger Knabe,
Du batst mich um Quartier auf einige Stunden!
Wie viele Tag’ und Nächte bist Du geblieben,
Und bist nun herrisch und Meister im Hause geworden!

Von meinem breiten Lager bin ich vertrieben;
Nun sitz’ ich an der Erde, Nächte gequälet;
Dein Muthwill’ schüret Flamm’ auf Flamme des Heerdes,
Verbrennt den Vorrath des Winters und senget mich Armen.

Du hast mir mein Geräth verstellt und verschoben;
Ich such’ und bin wie blind und irre geworden;
Du lärmst so ungeschickt; ich fürchte, das Seelchen
Entflieht, um Dir zu entflieh’n, und räumt die Hütte.

Wunderlich genug sucht der Dichter diesem Liedchen, dessen specielle Beziehung aus dem Vorhergehenden so klar wird, sowohl in seinem Bericht über den Januar 1788, als in den Gesprächen mit Eckermann, eine ganz andere, allegorische Deutung zu geben.

Er will es dort nicht im nächsten Sinne genommen, nicht jenen Dämon dabei gedacht haben, den wir gewöhnlich Amor nennen, sondern, wie er sich ausdrückt, „eine Versammlung thätiger Geister, die das Innerste des Menschen ansprechen, auffordern, hin und her ziehen und durch getheiltes Interesse verwirren“. Demgemäß wäre also hier Amor eine Verkörperung seiner italienischen Vielgeschäftigkeit, während in der That, wie das Gedicht auch ausdrücklich sagt, Amor der Störer seines ernsten und vielseitigen Bildungsbestrebens, der Verzehrer des Vorrathes an Bildungsstoffen war, den der Dichter sich in Italien für die nordische Winternacht zu sammeln bemüht war.

Wie kam Goethe zu dieser verdunkelnden Erläuterung? Giebt sich darin wieder die Neigung kund, seine zartesten und theuersten Herzensbeziehungen der Welt zu verdecken? Oder war ihm in der That (wozu sich allerdings auch Parallelfälle bezeichnen lassen) in späterem Alter das rechte Verständniß der eigenen früheren Production gänzlich abhanden gekommen?

Der schönen Mailänderin hatte sich, sogleich nach dem Mißgeschick, das sie getroffen, Angelica Kaufmann tröstend angenommen. Auch nach der Wiedergenesung fand sie, die vorher völlig Fremde, im Zucchi’schen Hause die freundlichste Aufnahme und [620] wurde von Angelica selbst in höhere Gesellschaftskreise eingeführt, wo sie sich sehr gut zu benehmen wußte. Man greift wohl nicht fehl, wenn man annimmt, daß Angelica, die das lebhafte Interesse ihres Freundes an dem schönen Mädchen bemerkt hatte, ihm nunmehr nach der Auflösung ihres Brautstandes den Weg zur Anknüpfung eines näheren Verhältnisses habe ebenen wollen. Dazu stimmt wenigstens gut die Rolle, die Angelica beim Wiedersehen der Beiden spielte. Es geschah mitten im Gewühl des Carnevals, daß Goethe auf dem Venetianischen Platze in der Reihe der Kutschen den Wagen Angelica’s bemerkte und an den Schlag trat, um sie zu begrüßen. Sie hatte sich kaum freundlich gegengrüßend zu ihm herausgeneigt, als sie sich zurückbog, um ihrem Freunde einen Blick auf die neben ihr sitzende wiedergenesene schöne Mailänderin zu öffnen. Mit Freude gewahrte er, daß diese sich durchaus nicht verändert hatte, nur schienen ihre Augen ihn noch frischer und glänzender, als früher, anzublicken, und zugleich mit einer Freudigkeit, die ihn bis in’s Innerste durchdrang. So blieben die beiden Liebenden eine Zeit lang einander sprachlos gegenüber, bis Angelica das Schweigen mit den Worten unterbrach: „Ich muß hier wohl den Dolmetscher machen, denn ich sehe, meine junge Freundin kommt nicht dazu, das, was sie mir so oft wiederholt hat, Ihnen selbst auszusprechen, wie sehr sie Ihnen für den Antheil verpflichtet ist, den Sie an ihrem Schicksal und ihrer Krankheit genommen haben. Das Erste, was ihr beim Wiedereintritt in’s Leben zum Trost gereicht und wiederherstellend auf sie gewirkt habe, sei die Theilnahme ihrer Freunde und vor Allem die Ihrige gewesen.“

„Das ist Alles wahr,“ fügte das liebenswürdige Mädchen hinzu, indem es ihm über die Freundin her die Hand reichte, die er mit der seinigen ergriff, aber auch gar zu gern mit seinen Lippen hätte berühren mögen. Still beglückt und mit inniger Dankbarkeit gegen Angelica zog er sich in’s Gedränge der Fastnachtsthoren zurück.

Und er bewarb sich nun nicht ernstlich um die freigewordene Hand der Geliebten? wird man fragen. Er that es nicht, und den eigentlichen Grund, warum er es unterließ, hat er hier ebenso wenig bestimmt ausgesprochen, wie bei der Auflösung der Verhältnisse zur Sesenheimer Friederike und zur Frankfurter Lili die Gründe, warum er sich zurückzog. Denn wenn er selbst berichtet, er habe die letzte Zeit hindurch manches Erfreuliche von ihr gehört und die Vermuthung nähren können, daß ein mit Zucchis befreundeter wohlhabender junger Mann „gegen ihre Anmuth nicht unempfindlich und ernstere Absichten durchzuführen nicht abgeneigt sei,“ so liegt darin keine genügende Erklärung. Warum trat er nicht als Mitbewerber mit dem jungen Mann in die Schranken? Zu Hoffnungen hatte ihn doch wahrlich des Mädchens bisheriges Begegnen berechtigt. Scheute er sich das liebenswürdige Kind der schönen Heimath zu entziehen? Aber sie sehnte sich ja, wie er selbst berichtet, die Welt außer Italien kennen zu lernen, und war in ihren einfachen Lebensverhältnissen nicht verwöhnt worden. Oder zweifelte er, ob sie in seine Weimarischen Gesellschaftsverhältnisse passen würde? Aber er stellte sie ja doch selbst als ein anmuthvolles[WS 3] Mädchen von großer Bildungslust und Bildungsfähigkeit dar, die sich auch in höheren Gesellschaftskreisen mit Tact und Geschicklichkeit bewegt habe. Wenigstens wäre sie ihm eine minder unebenbürtige Gattin geworden, als Christiane Vulpius, mit welcher er wenige Monate später eine Verbindung anknüpfte. Am wahrscheinlichsten däucht mir noch, daß ihm das Verhältniß zu Frau von Stein im Wege stand, wenn es gleich in ihm selbst schon im Absterben begriffen war und nicht lange nachher durch ein entschiedenes Zerwürfniß sich auflöste. Wie dem auch sein mag, das Entsagen ist ihm in diesem Falle nicht leicht geworden, und an der süßschmerzlichen Bewegung seines Inneren, an welcher er die letzten Monate in Rom bis zu seinem Aufbruch nach der Heimath (22. April 1788) litt, hatte die bevorstehende Trennung von der Geliebten gewiß ihren guten Theil. Scheint er auch in der letzten Zeit das Zusammentreffen mit ihr gänzlich vermieden zu haben, so versäumte er doch nicht, ihr einen Abschiedsbesuch zu machen.

Er fand sie im reinlichen Morgenkleide, wie sie zuerst in Castel Gandolfo ihm begegnet war; sie empfing ihn vertraulich entgegenkommend und drückte mit natürlicher Anmuth wiederholt den Dank für seine Theilnahme aus. „Ich werde es nie vergessen,“ sagte sie, „daß ich aus tiefer Verwirrung mich erholend unter den lieben und verehrten Namen der Anfragenden auch den Ihrigen nennen hörte; ich fragte wiederholt, ob es denn auch wahr sei. Sie setzten Ihre Erkundigung mehrere Wochen hindurch fort, bis endlich mein Bruder Sie besuchte, um für uns Beide den Dank auszusprechen. Ob er es so ausgerichtet hat, weiß ich nicht; ich wäre gern mitgegangen, wenn sich’s geschickt hätte.“ Dann fragte sie ihn nach dem Wege, den er zu nehmen gedächte, und als er ihr seinen Reiseplan[WS 4] vorerzählt hatte, rief sie: „O Sie Glücklicher, der Sie so reich sind, daß Sie sich dergleichen nicht zu versagen brauchen! Wir Andern müssen uns in die Stelle finden, welche Gott und seine Heiligen uns angewiesen haben. Schon lange sehe ich vor meinem Fenster Schiffe kommen und gehen (die Fenster gingen gerade auf die Treppen der Ripetta, und die Bewegung war eben sehr lebhaft), ich sehe ausladen und einladen; das ist unterhaltend für mich, und ich denke manchmal, woher und wohin dies Alles?“

Von ihrem Bruder, der wegen seiner Kenntnisse, Fertigkeiten und Redlichkeit bei seinem Principal, Herrn Jenkins, in großer Gunst stand, sprach sie mit Zärtlichkeit; sie freute sich, ihm seine Haushaltung ordentlich zu führen, ihm möglich zu machen, daß er bei mäßiger Besoldung noch immer etwas erübrigen und in einem vortheilhaften Handel anlegen könne, und so verbreitete sie sich noch weiter redselig und vertraut über ihre Familienzustände. Ihre Gesprächigkeit war dem Dichter willkommen, da er, alle Momente ihres zarten Verhältnisses noch einmal rasch an seinem Geiste vorüberführend, nicht eben in der besten Verfassung zum Reden war. In Gegenwart des eintretenden Bruders schloß sich dann der Abschied, wie er sagt, „in freundlicher, mäßiger Prosa.“

Als er vor die Thür kam, fand er seinen Wagen ohne Kutscher, den eben ein dienstfertiger Knabe zu holen fortlief. – Die Geliebte sah heraus zum Fenster des Entresols, das sie in einem stattlichen Gebäude bewohnte; es war gar nicht hoch, so daß man es fast mit der Hand hätte erreichen können. „Man will mich nicht von Ihnen wegführen,“ rief er ihr zu, „man scheint zu wissen, wie ungern ich von Ihnen scheide.“ Ihre Antwort und das weitere Gespräch, das sich daran knüpfte, hat er uns leider! aus Furcht, „es durch Wiederholung und Erzählung zu entweihen,“ nicht aufbewahrt. Es war, wie er sich in der seltsam gezirkelten Sprache seines Alters ausdrückt, „ein wunderbares, zufällig eingeleitetes, durch innern Drang abgenöthigtes lakonisches Schlußbekenntniß der unschuldigsten und zartesten wechselseitigen Gewogenheit, das mir deshalb auch nie aus Sinn und Seele gekommen ist.“

H. Epaulis.
  1. Auf allen bedeutenderen Stationen seiner Lebensfahrt knüpfte Goethe ein neues Liebesverhältniß an und gewann jedes Mal eine neue Ausbeute erotischer Gedichte. Sein Aufenthalt in Italien (vom September 1786 bis in den April 1788) scheint hiervon eine Ausnahme zu bilden, da die gewöhnlich als Document und Frucht einer italienischen Liebe aufgefaßten römischen Elegien, wie Viehoff in seinem Leben Goethe’s näher nachgewiesen hat, auf deutschem Boden und unter dem Einfluß des Verhältnisses zu Christiane Vulpius entstanden sind. In der That ist der lyrische Ertrag seines Aufenthaltes in Italien nicht groß; doch zeugen zwei seiner kleineren Gedichte, durch Anmuth beide ausgezeichnet, von einer italienischen Liebe. Sie gewinnen erst volle Klarheit und zugleich ein höheres Interesse, wenn das vom Dichter nur bruchstücklich und zerstreut Angedeutete in näheren Zusammenhang gebracht wird. Ich mache den Versuch um so lieber, da dieses Herzensverhältniß an sich schon eine anziehende, bisher noch nicht genugsam aufgehellte Partie in dem Leben des großen Dichters bildet.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Theil nehmen können
  2. Vorlage: Schmez
  3. Vorlage: anmuthvollees
  4. Vorlage: Reseplan