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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[787]

No. 50.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die Gasselbuben.

Geschichte aus den bairischen Vorbergen.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)

Der Feichtenbauer und dessen Tochter waren unter dem Gespräche fortschreitend dem Nebenhause näher gekommen; jetzt blieb Christel stehn und hielt den Vater zurück. „Es ist gut, daß Du davon anfangst, Vater,“ sagte sie, „einmal hätt’ die Red’ doch darauf kommen müssen und so können wir die Sach gleich jetzt abmachen, ein für allemal.... Leider Gott’, es ist wahr,“ fuhr sie aufseufzend fort, „mit mir und dem Wendel steht’s bös, es müßt’ sonderbar zugehn, wenn Ihr Zwei wieder gut’ Freund’ werden solltet …“

„Auf der Welt nimmer!“ warf grimmig der Alte dazwischen.

„Ich kann ihn also nit haben …,“ begann sie nach kurzem Innehalten und mit gepreßtem Tone, „Du willst es; so soll’s auch so sein, und Du wirst von mir kein Sterbenswörtel mehr hören, und wenn’s mir auch das Herz abdrucken thät’ … aber damit Du auch gewiß weißt, wie Du daran bist, Vater – sag’ ich Dir, den Domini will ich nit, und also will ich von Dir auch keine Silben mehr hören von ihm.... Ich denk’, ich werd’ ledig bleiben, Vater, und mit Dir allein forthausen, so lang’ es Gottes Willen ist!“

„So, so?“ grollte der Bauer wieder. „Ich hör’ Dich schon gehn, Du Feinspinnerin, wenn Du auch noch so stat (still) auftrittst! Du meinst: das kann ich leicht abwarten, der Alte wird’s nimmer lang’ machen, bis ihn der Steffel holt, darnach kann ich doch thun, was mich freut!“

„Das denk’ ich nit, Vater,“ sagte Christel mit so herzlichem Tone, daß es, um glaubhaft zu sein, der betheuernden Geberde nicht bedurfte, mit welcher sie die Hand auf die Brust legte. „Ich werd’ den Wendel gern haben, so lang’ ich ein offnes Aug’ hab’ … aber wider Dein’ Willen kommt er niemals auf den Feichtenhof!“

„Also niemals, niemals!“ rief der Bauer mit lachendem Kopfnicken. „Denn so lang’ ich ein offnes Aug’ hab’, bleib’ ich dabei und auch noch drüber hinaus! Beweisen kann ich’s freilich nit, aber ich weiß es doch – da inwendig in mir drinn’ steht’s geschrieben. so gewiß wie ein Evangelium, es ist kein anderer Mensch, der mich zum Bettelmann hat machen wollen, wie er!“

„Komm’ herein,“ mahnte Christel, ihn unterbrechend, „es thut Dir gewiß nit gut, wenn Du bei Deiner Krankheit so lang’ draußen bleibst, in der kalten Luft … komm’ herein in die Stube …“

Er gab ihrem Drängen nach und folgte der führenden Hand, aber er that es unter steten Ausbrüchen seines Unmuths. „In die Stube!“ höhnte er. „Ja wohl – in die Stube im Zubauhaus, in eine Tagwerker-Kammer muß sich der Feichtenbauer verkriechen … der reiche Feichtenbauer! … Du meinst wohl, es braucht nichts, als das Haus wieder aufbauen? Du meinst wohl, daß ich umsonst in dem Brandschutt’ herumstöbre wie ein Narr? Denkst nit daran, daß das Geld alles droben gewesen ist, in dem Kasten im ersten Stock … daß Alles hin ist … die Thaler und die Schein’, das Papier und das Silber? Es kann wohl im Ernst so weit kommen, daß wir froh sein dürfen, wenn Du irgendwo einen Dienst find’st als Bauernmagd und ich einen Platz in einem Zubauhaus oder wohl gar beim Hüter im Gemeindehaus.... O wenn ich’s erbitten könnt’,“ rief er, in dem kleinen Gemache angekommen, mit lauter Stimme aus, indem er, auf der Ofenbank niedersitzend, die beiden Hände vor’s Gesicht schlug und in bittere Thränen ausbrach, „wenn ich den, der mich in das Elend gestürzt hat, in meiner Gewalt hätt’ und dürft’ meine Wuth an ihm auslassen, ich wollt’ gern dafür zehn Jahr’ zu tiefst in der Höll’ braten!“

„Pfui, Vater, schäm’ Dich, so was nur zu denken!“ rief Christel unwillig. „Du machst Andern Vorwürfe, daß sie kein Christenthum haben – kehr’ zuerst vor Deiner eignen Thür, Vater, und schau’, wie’s bei Dir selber steht! Denk’ nach, wie Du gestern Deine Verlobniß eingebracht hast; nachher will ich Dir den eigentlichen Anstifter von dem Unglück sagen! Du bist es selber, Vater! Wärst Du nit im Bergwirthshaus hinter der Flaschen sitzen geblieben – wärst Du mit mir heim, wie ich Dich so inständig gebitt’ hab’, dann wär’ alles anders! Wenn Du und ich daheim gewesen wären und hätten sorgen können, daß die Ehhalten alle ihre Schuldigkeit thun, und daß keins nachlässig oder unachtsam ist mit Feuer und Licht – dann stünd’ der Feichtenhof heut’ noch so schön da, wie er gestern gestanden ist!“

Das Erscheinen eines Mannes, der durch das Fenster hereinsah, unterbrach das Gespräch; es war der hausirende Leinwandhändler, der Tags zuvor mit dem Bauer zusammengetroffen.

Der Mann hatte seine Zusage pünktlich erfüllt, und war, der Einladung folgend, bald auf den Hof gekommen, wo er bei [788] der muntern Art und dem freigebigen Wesen, das der Bauer gezeigt, ein Geschäft erwarten durfte, das für Umweg und Mühe volle Entschädigung bot. Er hatte, als er den Bauer nicht angetroffen, ruhig und so lange gewartet, bis das Gewitter losbrach, und nach demselben, bis der Abend schon zu weit vorgerückt war, um noch ein Weiterwandern zu gestatten. Nicht zweifelnd, daß man ihm gern Nachtherberge gewähren werde, hatte er sein Kleinod, den Rückenkasten mit seiner Waare, im Wohnhause, wo er ihn ganz sicher glauben durfte, eingesteckt, und selbst in einer Kammer neben jener der Knechte Unterkunft gefunden, wo ein paar feiernde Betten für die Heumäher bereit standen, die im Sommer zur Aushülfe gedungen wurden. Von der Wanderung ermüdet war er bald fest eingeschlafen und erwachte nicht eher, als bis der Lichtschein des in Flammen stehenden Hauses ihn weckte, und Gluth und Dampf ihn bereits von allen Seiten umgaben. Halb angekleidet wollte er im Wahnsinn des Schreckens hinausstürzen, seinen Kasten zu retten, denn noch wäre es möglich gewesen, trotz Feuer und Rauch in dem gewölbten Hausgange bis zu demselben durchzudringen, aber mit haarsträubendem Entsetzen gewahrte er, daß die Thür seines Gemachs in’s Schloß gefallen, und er, mit dessen Beschaffenheit nicht vertraut, außer Stande war, dasselbe zu öffnen. Vergebens schrie er überlaut um Hülfe, vergebens rüttelte er an Thür und Schloß; seine Stimme war übertönt von dem Sausen und Knistern der Flammen und von dem Gepolter der Dachbalken, die schon sich abzulösen und zu senken begannen – seine Kraft erlahmte an dem Widerstande und der Festigkeit, womit Eisen und Holz sich aneinander klammerten. Es gab keinen andern Ausweg, als durch das Fenster, dessen Eisenkreuz minder fest eingelassen war, und das, seinen verzweifelten Anstrengungen nachgebend, sammt dem Holzrahmen aus dem Gemäuer brach … er versuchte sich selbst durch die Oeffnung zu zwängen … es gelang … in einer Secunde stand er im Freien, aber zu spät, im nämlichen Augenblick neigte sich der Hauptgiebel, stürzte nach innen zusammen und schlug mit der Wucht des Falles und der Schwere die Gewölbe des Erdgeschosses durch, daß rings aus Qualm und Rauch nur noch die Umfassungswände emporstarrten, drinnen aber Alles in einen Gluthheerd zusammengeschüttet lag, aus welchem eine sprühende Funkengarbe emporstieg. Weithin hatte der Einsturz Trümmer und Steine geschleudert; ein Stück hatte den Händler an den Kopf getroffen, daß er taumelnd niederstürzte, aber angestachelt vom Triebe des Lebens hatte er sich noch mit letzter Kraft aufgerafft und war erst unter den Obstbäumen, bis zu denen er sich geschleppt, blutend und mit vergehenden Sinnen in’s Gras niedergesunken. …

Jetzt kam er gleich dem Bauer aus dem abgebrannten Hause zurück; er hatte wie dieser, so weit es möglich war, im Schutt nach etwaigen Ueberbleibseln und Spuren seines Kastens gesucht und war nun, erschöpft und matt, dem Zubauhause zugewankt, um dort vielleicht für ein Stündchen Ruhe zu finden. Der Alte stand auf, als er ihn gewahrte, öffnete das Fenster und rief ihn herein. „Bist auch da, Bandelkramer?“ rief er ihm entgegen. „Du hast einen bösen Einstand auf dem Feichtenhof – mit dem Einkaufen wird’s eine gute Weil’ stat hergehn … aber ich kann nichts dafür, daß die Einladung so schlecht ausgefallen ist …“

„Kommt her,“ sagte Christel ihn unterbrechend, „ich hab’ zwar nur blutwenig Leinenzeug, aber zu einem Verband wird’s doch schon noch ausreichen; Ihr habt da eine böse Wunde am Kopf …“

„Ja wohl,“ sagte der Händler, während sie ihm das vertrocknete Blut abwischte und dann ein Tuch um die Stirn band, „es muß ein tüchtiges Loch sein – ich hab’ gemeint, es wär’ die halbe Welt, die auf mich niederstürzt, und doch ist das Glück dabei wieder größer gewesen, als das Unglück … der Balken hätte mich ebensogut erschlagen können – so aber bin ich doch noch auf der Welt; mein Weib ist keine Wittib und meine Kinder sind keine Waisen geworden und –“ setzte er lächelnd hinzu, „der Löw’ ist mir durch’s Fenster nachgesprungen … den hab’ ich auch noch …“ Dabei streichelte er den Spitz, der, als ob er wüßte, daß von ihm die Rede sei, sich an sein Knie drängte und ihm schweifwedelnd die Hand leckte.

„Das ist auch was Recht’s,“ erwiderte der Bauer unmuthig, „deswegen sind wir doch Bettelleut’ … alle miteinander!“

„Ei – so arg’ ist’s doch nicht gleich,“ sagte der Händler entgegen; „es ist wahr, mein Kasten ist verbrannt und in demselben viele schöne Waar’, Leinenzeug und Spitzen und silberne Fingerringe, Ketten und Kreuzeln und Firmthaler, wie ich sie halt führe … auch das, was ich erlös’t hab’, ist mit zu Grund gegangen … aber ein Bettelmann bin ich drum noch nicht! Ich habe Gott sei Dank noch meine gesunden geraden Glieder … ich muß freilich so gut wie von vorn anfangen mit meiner Handelschaft und eine gute Weil’ wird’s schmale Bissen abgeben … aber Weib und Kind werden drum doch keinen Hunger leiden … das Schwabenland ist gut deutsch und ich hab’s immer gehört, unser Herrgott verläßt keinen Deutschen!“

Christel sagte nichts, aber ihr Auge traf das des Vaters, der den Blick abwandte.

„Und vollends bei Euch,“ fuhr der Händler fort, wird das Unglück, so schwer es allemal ist, auch zu zwingen sein. … Ihr habt Eure schönen Wiesen, habt Aecker und Wald, das ist Alles nicht mit verbrannt. das bringt Euch wieder genug ein, und auch das Haus steht in einem halben Jahr wieder da wie ein kleines Schlößlein .. ein kluger Mann, wie Ihr, wird es wohl gut versichert haben …“

Der Bauer zuckte zusammen und langte nach dem Knie, als ob es ihm dort plötzlich einen Stich gegeben, er verbarg aber, wie ihn das Wort des Krämers an wunder Stelle getroffen hatte, und rief mit geringschätzigem Lachen: „Versichern? Nein – das hat’s bei mir nie gebraucht! Ich hab’ nie einen Kreuzer Schulden gehabt auf dem Feichtenhof, also hat auch Niemand mich zwingen können, daß ich das thun sollt’ … ich hab’ mich auf unsern Herrgott verlassen … sie sagen ja, das sollt’ die beste Versicherung sein …“

„Das ist sie auch,“ sagte der Händler, indem er kopfschüttelnd aufstand; „das ist die Versicherung, in der ich auch eingeschrieben bin … aber nichts für ungut, Feichtenbauer, das macht halt ein Jeder, wie es ihm gefällt! Ich will mir jetzt ein Fleckchen suchen, wo ich ein wenig schlafen kann – dann such’ ich noch einmal unter’m Schutt’ drüben nach, ob ich nicht doch noch etwas herausfinde von meiner Waar’, und dann – dann nehm’ ich in Gottes Namen den Weg wieder unter die Füß’, gehe heim zu den Meinigen und sehe zu, daß ich neue Waare bekomme. … Freilich,“ setzte er mit etwas gedämpfter Stimme hinzu, „mein Bub’, mein Aeltester, hat sich auf den neuen Firmungsrock, den er zu Pfingsten bekommen sollte, umsonst gefreut. … Na, da muß er sich halt noch ein Jährchen mit dem alten behelfen. …“ Er verließ die Stube, indem er, sich rasch der Thür zuwendend, die Hand erhob, als wolle er nach dem Verbande greifen, – in Wahrheit geschah es, um im Auge eine Thräne zu zerdrücken, deren er sich nicht erwehren konnte, und die er nicht zeigen wollte.

Wieder suchte Christel das Auge des Vaters und sah ihn mit leicht verständlicher Mahnung an, das Wort aber, das in dem Blicke lag, blieb ungesprochen, denn der Alte, dem die Unterbrechung willkommen war, trat verwundert zur Thür, an welche vernehmlich gepocht worden war, und rief: „Was kommt denn da für ein höflicher Besuch? Nur herein – wo das Unglück so grob angeklopft hat, braucht’s keine Umständ’ mehr!“

Es war Domini, der eintrat – unbefangen, als ob nichts vorgefallen; mit demselben lachenden Gesicht, mit welchem er gestern an der Wallfahrtskirche dem Bauer entgegen getreten war, und so zutraulich, als wären sie im besten Einvernehmen auseinander gegangen. Mit raschem scheuen Blick überflog er das Gemach, aber er that, als gewahre er gar nicht, daß Christel bei seinem Eintritt durch die Küchenthür verschwand.

„Da bin ich, Feichtenbauer,“ sagte er, ihm die Hand bietend, „wir sind gestern nit recht gut voneinander gegangen, aber das macht nichts! Es wär’ schlecht von mir, wenn ich nach dem Unglück, das über Dich gekommen ist, Dir was nachtragen thät’ … deswegen bin ich schon in aller Früh’ da, und will Dir sagen, wie leid mir’s ist, daß Dir so was geschehn ist, und will Dich bitten, Du sollst keinen Verschmach weiter auf mich haben …“

„Ich dank’ Dir, Domini,“ rief der Alte, von dem Ton gutmüthiger Biederkeit gerührt, „ich dank’ Dir tausendmal! Jetzt seh’ ich’s, daß Du wirklich ein guter Freund bist, der Einen in der Noth nit verläßt! Ich hab’ keinen Verschmach auf Dich – ich bin froh, wenn Du mir nichts nachträgst … ich thät’ ja auch für mein Leben gern halten, was ich Dir versprochen hab’ …“

„Ach was, laß das gut sein!“ rief Domini mit einem [789] Lachen, das unbefangen klingen sollte, aber nur gezwungen klang. „Gestern ist ein lustiger Tag gewesen, wir haben alle Zwei ein Bissel zu viel im Kopf gehabt … da red’t man allerhand daher, was Einen den andern Tag reut! Das wär’ bös, wenn man Alles halten müßt’, was man im Rausch versprochen hat! Mach’ Dir deswegen keinen Kummer, Feichtenbauer … Du giebst mir mein Wort zurück, ich Dir das Deinige, ich weiß ja doch, daß Du es nit halten kannst, weil die Christel nit will!“

„Ja, sie will freilich nit,“ entgegnete er, „durchaus nit – ich hab’ sie gar nie so gesehn, es ist, als wenn sie einen völligen Abscheu hätt’ vor Dir … und wenn ich sie auch zwingen könnt’ und thät, wirst wohl Du sie nimmer wollen …“

„Ich? Warum?“ fragte Domini verwundert. „Wegen den Abscheu? Den fürcht’ ich nit, Feichtenbauer … es hat schon gar manches Madel mit allen zwei Händen zugelangt, wo sie zuvor gekratzt und geschlagen hat! Und sonst wüßt’ ich nit, warum ich für mein Theil sie nimmer wollen sollt …“

„Warum? Weil ich gestern noch einen schönen Bauernhof gehabt hab’ und einen Haufen Geld und weil ich heut’ nichts mehr hab’ als eine Brandstatt … weil der reiche Feichtenbauer über Nacht ein armer Abbrändler ’worden ist …“

„Oho …“ unterbrach ihn Domini, „so weit wird’s wohl nit gefehlt sein! Der Feichtenhof ist ein Prachtgut – Du hast keinen Kreuzer Schulden darauf, in einem halben Jahr ist Alles wieder so schön wie zuvor, und Du hast wieder einen Haufen Thaler beieinander. … Wenn sonst nichts dazwischen wär’, da machte ich heut’ noch die Stuhlfest’ mit der Christel …“

„Ist das wahr, Domini?“ rief der Alte, noch mehr erschüttert von solcher Uneigennützigkeit. „Du bist ein braver Mensch – ich wollt’ nur, die Christel hätt’s mit angehört, aber ich will es ihr schon sagen …“

„Das mußt nit thun, Feichtenbauer,“ unterbrach ihn Domini treuherzig, indem er zugleich nach der Küchenthür spähte, die ihm nur angelehnt schien. „Zu was sollt’ es nutzen? Sie hat einmal den Widerwillen gegen mich, und wenn man ihnen abredet, werden die Weiber nur immer bockbeiniger, da ist Eine wie die Andere … Alles will seine Weil’ haben, drum lass’ es der Zeit über, vielleicht besinnt sie sich doch noch anders, wenn sie merkt, daß sie mir zu viel gethan hat … ich will unter der Hand schon fleißig nachfragen, daß ich nit weit weg bin, wenn der Apfel vom Baum fallen wird. … Derweil aber giebt’s was Anderes zu thun! Derweil wollen wir von Dir reden, Feichtenbauer – vielleicht kannst Du Geld brauchen für den Anfang – sag’s nur ungenirt, ich geh’ dann zu meinem Vater hinein und hol’ Eins …“

Der Alte erhob sich und wollte Domini, der ihn spröde abwehrte, mit zitternden Armen umfangen.

„Freund in der Noth!“ rief er gerührt. „Das vergess’ ich Dir Zeit meines Lebens nit! Dafür kannst von mir begehren, was Du willst, und wenn ich’s nit thu’, so darfst Du mich …“ „Mach’ nit so viel Aufhebens wegen der Kleinigkeit!“ unterbrach ihn Domini. „Das ist ja nichts Besondres … Du lassest mir’s auf dem Feichtenhof einkommen, und ich geb’ Dir, was ich zuweg’ bringen kann! Extra viel wird’s nit sein … so ein paar tausend Gulden höchstens …“

Die Dankbarkeit des Bauers hätte sich noch lange in ihren Ausbrüchen nicht eindämmen lassen, wäre nicht einer der Knechte athemlos und schon von ferne rufend auf das Zubauhaus zugelaufen gekommen, als hätte er eine neue Unglücksbotschaft zu bringen.

„Das Landgericht kommt!“ rief er. „Sie sind schon da! Der Assessor kommt schon in aller Eil’ über den Steig herauf …“

„Dummer Kerl,“ rief Domini, der leicht die Farbe gewechselt hatte, „wie kannst Du so daher rennen und Einen erschrecken, als wenn Gott weiß was geschehen wäre! Das ist ja natürlich, daß das Landgericht kommt und den Augenschein vornimmt! Deswegen sind ja die Herren auf der Welt, daß sie’s herausbringen, wenn so was passirt … und der Herr Assessor,“ setzte er mit unverhohlenem Spott hinzu, „das soll ein ganz Feiner sein, Einer von denen, die das Gras wachsen hören. … Meinetwegen,“ fuhr er dann fort und wendete sich zu gehn, „mich kümmert’s nicht! Wir Zwei sind handeleins, Feichtenbauer, nicht wahr? Ich mache mich jetzt gleich auf den Weg, Du weißt schon wohin und in ein paar Tagen komm’ ich mit dem Geldsack wieder …“

Er griff nach der Thür, als dieselbe sich öffnete und den Händler wieder einließ, der mit der Meldung kam, der Assessor sei wirklich da, man solle im Zubauhause einen Tisch zurecht machen, um nach der Besichtigung der Brandstätte das Protokoll darüber aufnehmen und die Verhöre pflegen zu können.

„Sieh da, ist der Herr auch hier?“ sagte der Mann, als er Domini gewahrte. „Seid Ihr nicht derselbe, dem ich gestern die Uhrkette abkaufen wollte mit dem Napoleonskopf? Nun bin ich froh, daß Ihr sie mir nicht gegeben habt, nun wäre das Geld hin und die Kette wäre mit meinen Sachen auch verbrannt … Ihr habt sie aber nicht mehr, wie ich seh’!“ setzte er hinzu, den Anzug und die Westentaschen des Burschen musternd.

Ueber Domini’s Antlitz flog es wie der Schatten eines vorüberstreichenden Vogels.

„Ja, ja, so geht’s halt auf der Welt!“ erwiderte er lachend. „Ich wollte, ich hätte Euch die Kette zu kaufen gegeben, dann hätt’ ich wenigstens das Geld. … Jetzt habe ich von Beiden nichts! Ich bin heut’ über Nacht beim Wirth am Fall gewesen, bis ich in der Früh’ gehört hab’, daß Feuer ausgekommen ist auf dem Feichtenhof … da hab’ ich mich gleich auf den Weg gemacht, es ist noch kaum grau gewesen … ich bin den nächsten Weg über’s Moos und durch den Wald gelaufen … da hab’ ich die Kette verloren – ich muß an einem Ast damit hängen geblieben sein oder sie ist mir weggerissen, wie ich über einen Zaun oder ein Stiegel gesprungen bin! Schade d’rum – ich ließ mich’s gleich fünfzig Gulden kosten, wenn ich die Kette wieder hätt’!“

Man verließ das Haus und ging dem Beamten entgegen; der Knecht, der Händler, der Feichtenbauer und auch Christel, die an dem zuletzt an der Thür stehenden Domini vorüberschritt und ihn so wenig beachtete, als den Thürpfosten, an dem er lehnte. Er sah und fühlte die grenzenlose Verachtung, die sie ihm zeigte und zeigen wollte, und es schwebte ihm schon auf den Lippen, sie anzureden und zurückzuhalten, aber er zwang es in sich zurück, mit von Rachgier und wilder Lust funkelnden Blicken sah er ihr nach, wie ein Raubthier, das sich zum Sprunge rüstet. „Ich könnt’ sie zerreißen vor Wuth,“ knurrte er in sich hinein, indem er zugleich die Augen lüstern über die wohlgefälligen Formen des Mädchens gleiten ließ, „und dann könnt’ ich’s doch wieder nicht! Ich glaube, die Dirn’ hat mir’s angethan - seit ich sie wieder gesehn habe, bin ich wie ausgewechselt - und ich muß sie doch kriegen, und wenn’s mich das Leben kosten sollt’! Ich muß den Schlag von gestern hereinbringen … ich muß sie haben … weil sie mich nit ausstehn kann, muß ich sie erst recht haben.“…

Er wendete sich in das Haus zurück; er wollte durch die Hinterthür hinaus, um den Anderen nicht mehr zu begegnen; an der in den obern Stock oder vielmehr in den niedrigen Dachraum führenden Treppe hielt er an wie von einem plötzlichen Gedanken ergriffen, setzte den einen Fuß auf die Stufe und lugte langgestreckten Leibes in den halbdunkeln Bodenraum hinauf, wie Jemand, der die Gelegenheit zu einem geheimen Vorhaben erspäht. „Was giebt’s?“ rief ihm eine schneidige Weiberstimme entgegen. „Wer will was drunten?“ Es war Susi, die oben in der Kammer beschäftigt schien und aus der Thür trat, daß es möglich war, von unten das etwas hellere Gemach zu überblicken.

„Wer wird’s sein?“ rief Domini rasch gefaßt entgegen. „Ich hab’ Dich da oben im Zwielicht bemerkt und hab’ Dich nit recht gesehn; ich hab’ nit gewußt, ob ich meinen Augen trauen darf – seit wann ist denn die schöne Susi, die lustige Kellnerin, in der Einöd’ heroben auf dem Feichtenhof?“

„Seit einem halben Jahr,“ sagte das Mädchen und kam, noch immer in dem früheren leichten Anzug, zu ihm die Stufen herab. „Grüß Gott, Metzger. Domini … das ist seltsam, nit wahr? Ja, ich hab’s einmal mit der Bauernarbeit probiren wollen, aber es wird nit gut thun in die Läng’ … es ist mir zu langweilig!“

„Das will ich glauben,“ lachte Domini, „einem so schönen Madel und einem so alerten dazu muß wohl die Zeit lang werden in der Einsamkeit! Jetzt geht mir freilich ein Licht auf, warum ich Dich nirgends mehr gefunden hab’!“

„Wirst Dich wohl nit zu grob angestrengt haben mit dem [790] Suchen,“ sagte sie mit einem zweifelnden Blick, in welchem doch wohl zu lesen war, wie sehr sie geneigt war, die Schmeichelei zu glauben.

„Auf Ehr’ und Seligkeit …“ erwiderte der Bursche und schlang ihr den Arm um die volle Hüfte. „Wie hätt’ ich Dich vergessen können! Weißt es noch, wie fidel wir gewesen sind, selbiges Mal, wie Du beim Bärenwirth gewesen bist, in Kopfstein? … was meinst, könntest mir heut’ Abend nit wieder auf ein Stünd’l die Thür zu Deiner Kammer offen lassen?“

„Oho,“ entgegnete Susi leichtfertig, „das geht nit so geschwind und seit wir abgebrannt sind, hat’s auf dem Feichtenhof mit der eignen Kammer schon von vornherein aufgehört … die Tochter, die Christel selber muß mit mir zusammenschlafen da droben in der Dachkammer!“

„Das schadet ihr auch nicht,“ rief Domini, indem er mit ein paar Sätzen die Treppe hinaufeilte und in die Kammer hineinsah, „das ist ganz recht für die hochmüthige Person! Aber Du,“ fuhr er, zu Susi zurückkehrend, fort, „Du solltest nit da bleiben, Susi … für Dich wüßt’ ich ganz ein anderes Leben, wenn Du mit mir gehn wolltest! Die grobe Bauernarbeit ist nichts für Dich und wenn jetzt das Bauen kommt, wird die Schererei erst recht angehn! Geh’ mit mir, Madel – wir gehn in meine Heimath, da wird Geld geholt, dann eine flotte Wirthschaft gekauft und frisch weg geheirath’!“

„Ja, wenn man Dir trauen dürft’,“ sagte Susi schwankend, „Du hast mir selbiges Mal auch das Maul gemacht mit dem Heirathen …“

„Wenn’s aber damals nit schon wahr gewesen wär’, thät’ ich’s jetzt nit wieder sagen!“ schmeichelte er. „Also kannst mir wohl glauben – darum komm’, Susi; geh’ mit mir … heut’ noch … jetzt gleich, auf der Stell’ geh' mit!“

„Freilich, zu tragen hätt’ ich nit schwer, weil doch Alles verbrunnen ist – aber ich kann doch nit so mir nichts davon gehn aus dem Dienst …“

„Heut’ noch mußt mit mir gehn,“ drängte Domini, „an dem will ich’s erkennen, ob Du gern was thun willst, mir zu Lieb’; ich will’s schon einrichten, daß Du fortkannst. Hast Du kein Bas’l oder sonst ein Gefreund’tes in der Näh’ …“

„Niemand,“ sagte sie nachsinnend, „die Buchstallerin von Buch ist die Firm-Godl von meiner Schwester, aber das ist wohl gar zu weitschichtig …“

„O, das langt weit aus,“ rief Domini lachend, „ich geh’ jetzt fort und in einer Stund’ schick’ ich Dir durch einen Buben einen Zettel, als wenn die Buchstallerin auf dem Tod liegen thät und ließ Dich zu ihr bitten. … Sie werden Dich nachher nit aufhalten und Du gehst und im Wirthshaus am Fall da wart’st auf mich, es kann aber wohl ein bissel spät werden, bis ich komm’! Morgen schicken wir dann Botschaft herauf, daß Du nimmer kommst, und reisen miteinander in’s Tirol hinein. … Willst, Madel? Ja oder Nein …“

„Ja …“ sagte die leichtsinnige Dirne und wehrte den Abschiedsliebkosungen des Burschen nicht, der flüchtigen Fußes durch die Hinterthür enteilte.

Indessen war der Beamte schon in voller Thätigkeit, mit dem Eifer eines Kunstverständigen, dem im Bereiche seiner Liebhaberei ein besonders merkwürdiger Fall aufgestoßen, die Brandstätte und die gesammte Oertlichkeit mit einer Genauigkeit zu beschreiben, als ob es gelte, ein Gemälde oder ein Karte davon zu entwerfen. Der Hauptpunkt, auf welchen es dabei ankam, war die Feststellung des Ortes, wo das Feuer begonnen, weil sich hieran die Beantwortung der weitern Frage über die Entstehung knüpfte. Die Aussagen der Dienstboten, die zur entscheidenden Zeit allein auf dem Hofe gewesen, gingen übereinstimmend dahin, daß vorher nicht das mindeste Auffallende oder Verdächtige wahrnehmbar gewesen und daß plötzlich Haus und Scheune in der rechten Ecke, wo sie aneinander stießen, gleichzeitig und wie mit Einem Schlage in Flammen dagestanden seien. An dieser Stelle hatte unter der in den oberen Stock führenden hölzernen Stiege eine Thür aus dem Wohngebäude in die Scheune geführt, welche noch reichlich mit Futtervorräthen angefüllt war. Unter der Treppe selbst war gespaltenes Brennholz aufgeschichtet gewesen; unmittelbar darüber hatte sich das Prunkgemach des Hauses, die sogenannte gute Stube und in dieser der Schrank befunden, der dem Feichtenbauer zur Aufbewahrung seiner Hausbriefe und Werthpapiere, so wie des Geldes und sonstigen werthvollen Besitzes diente. Unter der Treppe, zwischen dem Scheitholz und der Scheunenthür war der Kasten des Händlers gestanden. Jetzt lag Alles unter dem Schutt des oberen Gemäuers und der durchgeschlagenen Wölbung wüst und wirr durcheinander, und obwohl der Assessor da, wo der Schrank des Feichtenbauers im oberen Stockwerk gestanden, Alles wegräumen ließ und auf’s Genaueste durchsuchte, war außer einigen kaum kenntlichen Holzresten nirgends auch nur die geringste Spur des Geldes zu entdecken, das doch mindestens als geschmolzenes Silber vorhanden und der völligen Zerstörung entgangen sein mußte.

Daß das Feuer nicht zufällig oder fahrlässig entstanden, war die allgemeine Ueberzeugung, es lag absichtliche Brandstiftung vor, und damit erhob sich die weitere Frage nach dem Thäter und zur Ermittelung desselben nach den Personen, die im Hofe gewesen oder in die Nähe gekommen.

Es waren nur Zwei: der hausirende Leinwandhändler, gegen welchen aller Verdacht wegfiel, da er selbst schlimm genug in das Unglück mit hineingezogen worden, und Wendel, der gekommen war, seine Kleider zu holen. Susi war es hauptsächlich, die darüber Auskunft zu geben vermochte; sie erzählte, es sei ihr aufgefallen, daß der letztere ohne Fuhrwerk, so ganz allein heimgekommen sei und völlig verwirrt darein geschaut habe – er sei brennroth gewesen im ganzen Gesicht und habe ihr auf die Frage, was denn das Alles bedeute, gar keine Antwort gegeben und sei in die Knechtkammer am Stall gegangen. Wie er wieder herausgekommen, habe er einen Pack in der Hand gehabt, sei mitten im Hofe stehn geblieben und habe sich lang das Haus angeschaut, ohne daß sie etwas Besonderes daran hätte gewahren können. … Dann hatte er ihr von freien Stücken zugerufen, der Bauer habe ihm Feierabend gegeben, er gehe Holzkirchen zu, denn er wolle nach München und sehen, ob er nicht dort einen Platz bekommen könne. … Dann war er eiligen Schrittes davongegangen, ohne auch nur noch ein einziges Mal umzusehn – das war am frühen Nachmittage, zur Zeit des Dreibrods gewesen; das Gewitter sei schon am Himmel gestanden und bald darauf losgebrochen. …

Die Frage des Beamten an den Feichtenbauer, ob er gegen irgend jemand einen bestimmten Verdacht habe, verneinte derselbe; Christel stand gegenüber und hielt ihr Auge fest auf ihn gerichtet … unter seinem Banne vermochte er nicht, seinen innersten Gedanken Worte zu geben.

Der Einzige, der bei der Gerichtshandlung etwas gewonnen hatte, war der Leinwandhändler; beim Wegräumen des Schuttes und der Kohlen war zwar nicht sein Kasten aufgefunden worden, wohl aber ein Theil des Inhalts, Stoffe und Zeuge, die in einen Lederumschlag eingehüllt gewesen, der dem Feuer längeren Widerstand geboten hatte und dann durch einige Holzstücke geborgen worden war, welche sich darüber zu einem hohlen Raume verschoben hatten. Bis dahin hatte der Gleichmuth des Mannes Stand gehalten; als er die Reste seiner Habe vor sich sah, gewannen Schmerz und Rührung in ihm die Oberhand – er schämte sich der Thränen nicht mehr, die ihm über die Backen rollten, und sammelte die angebrannten werthlosen Stücke, die geschwärzten Ringe und zerschmolzenen Kettentrümmer mit einer Sorgfalt zusammen, als hinge davon das Wohl und Weh seines ganzen Lebens ab. Das versengte Lederstück diente ihm, die Sachen zusammenzupacken, und er wurde eben noch rechtzeitig damit fertig, um den Sitz, den ihm der menschenfreundliche Beamte in seinem Wagen anbot, einnehmen zu können – er begann es jetzt erst zu spüren, daß die Beine ihn auf der Fußwanderung nicht weit würden getragen haben.

Ueber Allem war der Abend herangekommen und die letzten von den Landleuten, die zu etwaiger Hülfe zurückgeblieben, begannen ebenfalls, sich auf den Heimweg zu machen, von Christel’s herzlichem Dank begleitet, die das traurige Amt für den Vater versah, der, von Anstrengung und Aufregung erschöpft, sich in das Zubauhaus zurückgezogen hatte.

Unter denen, welche gingen, war auch Susi mit dem ihr richtig zugekommenen Zettel über die Erkrankung ihrer Verwandten; Christel war gütig genug, ihrem Verlangen nichts in den Weg zu legen – sie sprach ihr Bedauern aus und trug ihr auf, die Base zu grüßen. „Wäre mir nicht Alles verbrannt,“ sagte sie, „würde ich Dir von der Lebensessenz mitgeben – die thut alten Leuten über die Maßen gut! Geh’ nur und komm’ bald wieder [791] – Du bist in der guten Zeit bei uns gewesen, wirst uns in der bösen wohl nit davonlaufen!“

Susi, sich getroffen fühlend, zögerte einen Augenblick, bald aber überwog in ihrem leichtsinnigen Gemüth der Reiz der zu erwartenden Abenteuer über die flüchtige Regung des Bessern – sie eilte den Uebrigen nach.

Die untergehende Sonne goß ihren vollen Goldglanz über den verödeten, wieder einsam gewordenen Platz; es dunkelte stärker – Christel warf noch einen letzten Blick in das Abendroth, das sie umstrahlte, wie eine im Erlöschen begriffene schöne Erinnerung; sie machte noch einen Rundgang durch den Nothstall, wo das gerettete Vieh untergebracht war, und verschwand dann in dem Zubauhause, dessen Thür fest hinter sich verriegelnd.


Aus Auerbach’s „Barfüßele“.

 . . . Amrei stand auf und sagte: „Ich habe aber jetzt noch eine Bitte: lasset mich ein paar Minuten reden, ganz frei. Darf ich?“

 „Ja, warum nicht?“

 „Schaut, Euer Johannes hat mich mitnehmen wollen und zu Euch bringen als Magd, und ich hätt’ auch gern bei Euch gedient zu anderen Zeiten, lieber als sonstwo, jetzt wär’s unehrlich gewesen, und gegen wen ich mein Leben lang ehrlich sein will, dem will ich nicht zum ersten Mal unehrlich mit einer Lüge kommen sein. Jetzt muß Alles sonnenklar sein. Mit einem Wort: der Johannes und ich, wir haben uns von Grund des Herzens gern, und er will mich zur Frau haben …“

 „Oho!“ schrie der Bauer …




Als sie die kleinen Geschäfte des neuen ordnungslosen Haushaltes verrichtet hatte und nach einem Blick auf den in tiefem Schlafe liegenden Vater in die Dachkammer trat, war es fast vollständig Nacht geworden. In dem engen und niedrigen Gemache, dessen Balkendecke mit der Hand zu erreichen war, standen an den beiden Seitenwänden zwei Bettstellen aus unangestrichenem Tannenholz, deren schlichte Einfachheit vollkommen übereinstimmte mit dem ärmlichen Strohsack und der Decke, die das dürftige Lager bildeten; die Mittelwand dazwischen war ganz durch einen großen buntbemalten Kleiderkasten verdeckt, gegenüber an der vierten Seite öffnete ein kleines, mit einem Eisenkreuz verwahrtes Fenster unter dem vorspringenden Hausgiebel hinweg die Aussicht auf den Abhang, an welchem das Gehöfte lag, über die niedrigern Hügel und Waldhäupter in den Nachthimmel hinaus, an dessen westlichem Rande noch ein rother Steifen verglomm, wie als letzte Kohle des erloschenen Sonnenbrands. Trotz der widersprechenden bittern Gefühle, die in den letzten Stunden auf sie eingestürmt, trotz der furchtbaren durchwachten Nacht und des in Leid vergangenen Tages fühlte Christel kein Verlangen nach Ruhe und Schlaf; nachdem sie die kleine Oellampe in der schwarzgerauchten Mauernische niedergestellt, setzte sie sich an’s Fenster und sah, die [792] heiße müde Stirn’ in die Hand gestützt, in die lautlose Nacht hinaus.

Das Abendroth war eben vollständig ausgeglüht; Finsterniß deckte es zu, aber hoch darüber aus dem Dunkel blitzte ein Stern, wie die hoch geschwungene Fackel eines Wegweisers. … So war es auch in des Mädchens tief betrübtem Gemüthe; was ihr das Leben schön gemacht hatte, was sie angestrahlt gleich einer hellen freudigen Sonne, war hinabgegangen – unwiederbringlich; aber vergebens spähte sie in undurchdringlicher Nacht nach einem Sternschimmer des Trostes und der Hoffnung.

Plötzlich schrak sie empor; in der Todesstille, die draußen waltete, drang das Rauschen eines wie im Traum sich regenden Blattes an das lauschende Ohr. Es war, als ob ein leiser, vorsichtig angehaltener Schritt durch das Gras des Baumgartens schlüpfe … sie horchte auf und sah gespannter in die Finsterniß … eine dunkle Gestalt glitt unter den Bäumen heran, und ehe sich ihre Gedanken zur Vermuthung bilden konnten, war dieselbe schon verwirklicht; die Gestalt war unter das Fenster heran getreten, und ein unterdrückter Ausruf, von der Freude erzeugt und im Werden wieder vom Schrecken getödtet, floh von ihren Lippen.

„Wendel!“ rief sie mit halberstickter Stimme. „Bist Du ’s denn … oder ist’s Dein Geist?“

„Ich bin’s wohl,“ erwiderte der Bursche, indem er sich auf den unter dem Fenster aufgeschichteten Stoß von Reisigbündeln schwang, so daß er stehend bis an’s Fenster reichen konnte. „Es ist kein Geist, sondern ein recht elendiger armer Mensch, der ’s nit ausgehalten hat, daß er im Zorn von Dir fortgehn soll, und ohne ein letztes ‚B’hüt’ Gott!‘ Ich hab’ Dich noch einmal sehn müssen, Christel, und drum bin ich her, und es ist mir Ein Ding, wenn sie mich fangen und gleich in Ketten und Banden legen …“

„Das ist recht, Wendel,“ erwiderte das Mädchen mit warmer Herzlichkeit, „ich dank’ Dir dafür, daß Du gekommen bist, und ist mir schier alleweil gewesen in meinem Sinn, als wenn Du kommen müßtest … aber wie red’st denn daher? Wenn Dich auch wer sehn thät’, wer sollt’ Dir was anthun? Du bist wohl noch verwirrt und geschreckt von gestern her …“

„Ja wohl, von gestern her!“ sagte der Bursche traurig. „Gestern ist mein Glück gestorben und begraben worden … ich wollt’, ich wär’ auch mit eingescharrt worden, statt daß ich fort muß, in die weite Welt, über’s Meer, in ein Land, wo mich Niemand find’t, und ich auch von keinem Menschen mehr etwas hör’ …“

„Von keinem Menschen?“ fragte Christel mit zärtlichem Vorwurf. „Also auch von mir nit?“

„Auch von Dir! Was würd’ es etwa sein, was ich von Dir hören könnt’? Was sonst, als daß es gegangen ist, wie ’s wohl gehen muß … daß Du mich vergessen hast mit der Zeit und daß ein Anderer …“

„Wenn Dich das trösten kann, Wendel, dann nimm’s mit auf den Weg, daß die Christel Dich nit vergißt und ihr Lebtag keinen Andern nimmt. … Ich hab’s heut’ meinem Vater noch einmal gesagt, und wenn er auch nichts von Dir wissen will – wer weiß ob nit einmal eine andere Zeit kommt! Das Eis zerschmilzt und ein Stein kann weich werden, warum sollt’ mein Vater nit auch seinen Sinn ändern können … ich will schon das Meinige dazu thun, daß es geschieht! Ich vergiss’ Dich niemals, Wendel, das versprech’ ich Dir, und wenn Du ’s auch treu und redlich im Sinn behältst, wer weiß, wie ’s dann noch werden kann … unser Herrgott wird uns nit verlassen …“

„Unser Herrgott weiß nichts mehr von mir,“ sagte Wendel dumpf, „er hat mich schon verlassen!“

„Wendel,“ rief Christel erschrocken, „was sind das alleweil für Reden … und wie kommst mir denn vor? Ich seh’s durch die Finsterniß, daß Du ganz bleich bist und verwacht, und wie verweint. … Komm’ zu Dir selber; wenn Du so red’st, bist ordentlich zum Fürchten …“

„Ja,“ rief er im Tone des tiefsten Schmerzes, „ich bin ein Mensch, vor dem man sich fürchten muß. … Mir wär’ besser, ich hätt’ einen Mühlstein am Hals und lieget’ drunten im Meer, wo ’s am tiefsten ist!“

Christel war aufgesprungen und stand erstarrt. „O du heilige Mutter … was soll das bedeuten?!“ stammelte sie.

Von dem Kleiderschranke in der Kammer ertönte leises Knarren – sie vernahm es nicht in ihrer Erregung.

Der Schmerz hatte Wendel die Sprache geraubt, unter Thränen fand er sie wieder. „Warum hab’ ich denn nit sterben können vor der entsetzlichen Stund’!“ jammerte er. „Gestern, wie ich Deine Lieb’ erfahren hab’ … da hätt’ ich sterben sollen, ich wär’ von Stund’ auf in den Himmel gekommen und hätt’ die Glückseligkeit gleich mitgebracht … Und jetzt …“

„Wendel …“ schrie das Mädchen von einer plötzlichen Ahnung durchblitzt … „Red! Sag’, daß ich Dich falsch verstanden hab’ … das Unglück von heut’ Nacht …“

(Fortsetzung folgt.)




Bei Henriette Hanke.


Aeltere Leserinnen der Gartenlaube, wenn sie in stiller Stunde innerer Einkehr einen Rückblick thun auf hinter ihnen liegendes Glück und Leid, erinnern sich gewiß noch heute mit innig empfundenen Nachgenuß lebhaft des Vergnügens, das ihnen einst die Lectüre der Schriften Henriette Hanke’s geschaffen hat. Vom Ende der zwanziger Jahre an bis fast hinauf zum Ausgang der fünfziger war die Feder dieser liebenswürdigen Schriftstellerin unermüdlich thätig, und wohl auf keinem Familienlesetische haben, namentlich während der dreißiger und dem ersten Lustrum der vierziger Jahre, die Schriften Frau Hanke’s gefehlt. Selten aber hat auch eine Schriftstellerin mit dem Aufwand so einfacher und geringer Mittel es verstanden, alle Phasen des Frauenlebens, die Lust und das Leid, das Glück und das Mißgeschick in Häuslichkeit und Familie in dem Grade anziehend und anschaulich zu schildern, für ihre simple Fabel die Leserin einzunehmen und zu erwärmen, für ihre Figuren das lebendigste Interesse, das innigste Mitgefühl, die resoluteste Theilnahme an deren Wohl und Wehe wach zu rufen und zu fesseln, wie gerade Henriette Hanke. Daß ihren Schriften neben dem unbestreitbaren Werth in ihrer Art auch das Glück zur Seite stand, dagegen hat die würdige Frau selbst sich niemals verschlossen.

Wer mit seinen geistigen Productionen bei dem ebenso unberechenbaren wie wunderlichen, seltsamen und wankelmüthigen tausendköpfigen süßen Ungeheuer, das man Publicum nennt, Glück machen will, der muß eben Glück haben. Nun, Frau Henriette Hanke hatte das Glück, Glück zu haben!

Der Kreis, in welchem sich das Productionstalent dieser Schriftstellerin bewegte, seiner ganzen äußeren und inneren Wesenheit nach auch nur bewegen konnte, muß allerdings als ein eng beschränkter bezeichnet werden. Aber die engen Grenzen, die ihrem Talent gezogen waren, wurden von ihr frühzeitig weislich erkannt, und indem sie sich niemals darüber hinaus wagte, machte sie sich im Laufe ihrer Thätigkeit innerhalb ihres kleinen Gebietes als vollkommene Herrscherin sowohl gedanklich als auch in der Form vollgültig und allseitig anerkannt geltend, und unbedenklich möchte ich auch auf diese Henriette den Ausspruch Angelika Catalani’s anwenden, den die große Sängerin einst über das Talent Henriette Sontag’s von sich gab: „Ihr Genre ist nicht groß, aber sie ist groß in ihrem Genre!“[1]

Im Hochsommer des Jahres 1853 kam ich, ein fahrender [793] Gaukler, mit der in Schlesien wohlaccreditirten Schiemang’schen Schauspielertruppe auch nach Jauer, der Stadt der einst weltberühmten – heute freilich schon in’s Reich der Sage versunkenen – Bratwürste, männiglich auch bekannt als Blüchersche Fiedelbogenwichse aus Adolf (rectius: August Ludwig) Follen’s Lied: „An der Katzbach!“ (oder ist das Lied von Karl Follen? ich bin wirklich unsicher!) nicht minder oft genannt aber auch als Geburtsstadt und Wohnsitz Frau Henriette Hanke’s.

Nachdem wir unsere Pfosten geschlagen und etwa zwei Wochen gegaukelt hatten, schlug ich eines schönen Tages alle Bedenken, die mich, den Wanderkomödianten, bisher zurückgehalten der von mir in ihren Schriften längst hochverehrten, im edelsten Wortsinne frommen Frau Hanke einen Besuch abzustatten, bei Seite, setzte mich in meinen besten Visitenstaat und machte mich kurz resolvirt auf den Weg.

Frau „Pastor“ Hanke wohnte am Ring in dem Hause, das unsere Zeichnung getreu wiedergiebt, und welches einem Kaufmann gehörte, der zwar ebenfalls den Namen Hanke führte, mit ihr aber nur „schlesisch“ verwandt war, das will sagen: so etwa im fünfzigsten Gliede vielleicht! Angelangt in dem Hause und auf dem Flur des ersten Stocks, den Frau Hanke inne hatte, trat mir hier eine saubere ältliche Person entgegen, die, auf meine Anrede, sich als „Schleißerin“ der Frau „Pastor’n“ mir freundlichst präsentirte, nach Empfang meiner Karte, auf der natürlich auch der „Charakter“ nicht fehlte, mich ein wenig warten hieß und dann ging, mich zu melden.

„Se seind willkummen!“ hinterbrachte mir nach kurzer Frist die Jungfern Schleißern (Jettel, dünkt mir, hieß die brave Person) und hielt mir die Thür offen.

Das ziemlich große, von Sauberkeit strahlende Zimmer, in das ich eintrat, war „altfränkischen Hausraths voll“. Dort in der Nische des linken Fensters auf zierlichem nußbaumausgelegten Tisch mit geschweiften Füßen stand ein kleines portatives Schreibepult mit grünem Tuch überzogen, dessen kahle Stellen von seinem Vielgebrauchtwerden zeugten. Und viel gebraucht allerdings war und wurde das kleine Pult! Hatte doch an ihm Frau Henriette, wie sie selbst mir dann erzählte, alle ihre bisher erschienenen Erzählungen niedergeschrieben, arbeitete sie doch auch zur Stunde noch täglich daran!

Dieser kleine Schreibekasten und ein Bücherschrank, hinter dessen Glasthüren grünseidene Vorhänge die Schätze seines Innern profanen Augen verhüllten, waren die einzigen Gegenstände im Zimmer, die vielleicht andeuten konnten, daß man sich im Sanctuarium einer – obendrein vielgelesenen – Schriftstellerin befand. Nichts außerdem verrieth es. Von all’ jenem Apparat, mit dem sonst wohl Schriftstellerinnen ihr Arbeitszimmer anzufüllen lieben, um sich selbst zu illustriren, sich den Anstrich der Gelehrsamkeit oder den der Genialität zu geben, war hier keine Spur vorhanden. Wohl aber spiegelte das Zimmer in seiner Gesammtheit den Geist und den Charakter seiner Bewohnerin wieder: keuscheste Frauenwürde, Frische des Gedankens und der Empfindung, Klarheit, Heiterkeit und behagliche Ruhe des Geistes, Simplicität im schönsten Sinne neben herzlichster Lust an anmuthigem Sinnengenuß. Hier sehe ich im Geist manche liebenswürdige jüngere Leserin das schöne blond-, braun- oder schwarzgelockte Köpfchen bedenklich skeptisch schütteln, ein wenig ironisch fragend: „Das Alles las der Mann sofort aus der Einrichtung des Zimmers heraus?“ Ja, schöne Leserin, Deinem Zweifel zum Trotz las ich es heraus! In der äußern Umgebung eines Menschen, insofern ihre Gestaltung seine Wahl, liest man wie in einem offenen Buche. Sie charakterisirt uns sofort den ganzen Menschen, erschließt uns seine Persönlichkeit, die Richtung seines Geistes, seinen Geschmack und seine Passionen. Allerdings gehört zu dieser Kunst des Lesens eine gewisse Summe Erfahrung, Welt- und Menschenkenntniß, die man nicht auf den Schul- und Collegienbänken und aus Büchern erwirbt. Darum überkam mich denn auch in Frau Henriettens Arbeitszimmer sofort der anheimelnde, wohlthuende Hauch jener echten und reinen Häuslichkeit, die niemals verfehlt, auch auf den zerfahrensten Sinn ihren sanft bestrickenden und hinnehmenden Zauber auszuüben.

Eine offenstehende Flügelthür, deren zurückgeschlagene, in schön geschwungenen Falten schwer herabwallende Portière den Blick durchließ, verband das Arbeitszimmer mit einem zweiten Gemach, das ich später als Speisezimmer kennen lernte und das, in seiner Art gleich würdig und reizvoll heiter ausgestattet, wie das Sanctuarium, nicht minder den feinen und reinen Schönheitssinn der Hausfrau documentirte. Im Lehnstuhl in der rechten Fensternische saß die Schriftstellerin, in ihrer äußern Erscheinung auch das prächtige Urbild einer verehrungswürdigen Matrone repräsentirend. Sie trug ein aschgraues Seidenkleid von kleidsamem, den Jahren der Trägerin wohlanpassendem Schnitt, darüber, breitgesteckt, ein blüthenweißes Spitzentuch und auf dem silbern schimmernden Scheitel eine gleichermaßen blüthenweiße Spitzenhaube. Von Figur war sie eher klein als groß, ihre Formen waren zierlich, aber noch von gefälliger Fülle und angenehmer Rundung. Alle ihre Bewegungen geschahen mit jener eigenartigen Grazie, die ein unveräußerliches Erbtheil geistig vornehmer Frauen zu sein scheint. Die Gesichtszüge der Matrone sprachen eine verständliche Sprache, sie waren ebenso bedeutsam, wie das klug und heiter blickende Augenpaar und das seelenvolle Lächeln, das um den gefällig gewölbten Mund schwebte. Bei meinem Eintritt erhob sich die Matrone, trat mir mit unverstellter Herzlichkeit einen Schritt entgegen und reichte mir die Hand, die ich ehrerbietig zu küssen wagte, was sie gütig hinnahm.

„Wie hübsch von Ihnen, eine alte einsame Frau zu besuchen!“ redete sie mich mit herzgewinnender Freundlichkeit an und deutete mit graziöser Handbewegung auf den Sessel ihrem Sitz gegenüber. „Und zu diesem Besuch einer alten Frau haben Sie sich wahrlich geschmückt wie ein Bräutigam, der zur Braut geht,“ fuhr sie heiter scherzend fort.

Unser Gespräch war im vollen Fluß, ehe ich hatte dazu kommen können, von meiner wohleinstudirten Anrede auch nur eine Phrase anzubringen.

Wovon und worüber wir plauderten? Nun, liebenswürdigste Leserin, von allem Möglichen! Unsere Conversation war hin und herspringend, schlug viele Saiten an, Eines gab das Andere – sie war, wenn auch nichts weniger als das, was man so in specie und nicht selten mit etwelchem ironischen Beigeschmack „geistreich“ zu nennen pflegt, doch heiter, anregend, anziehend, animirt, lebhaft in Rede und Gegenrede. Die würdige Frau verstand ebenso trefflich zu hören, als sie zu sprechen wußte, sie verstand aber auch, den Gast unbefangen sprechen zu machen, indem sie, frei und vorurtheilslos in ihren Anschauungen und Urtheilen, nur den Menschen und nur diesen nahm, indem sie jede Persönlichkeit ganz so gelten ließ, wie sie einmal war.

Bald nach meinem ersten Besuch ließ mich die Frau Pastorin durch ihre getreue alte Jungfer Schleißern zu Tische laden. „Ock bluß uff neie Kartuffeln“ – wie Jettel gleich bei der Einladung bemerkte. Nun ja, wir speisten allerdings auch wunderschön aufgeborstene, herrlich schmeckende neue Kartoffeln mit nußkernsüßer frischer Kleebutter, aber unser kleines Diner war außerdem, wenn auch nicht besonders reichhaltig, doch in seinen Bestandtheilen, so einfach sie übrigens waren, so vorzüglich, daß seine einzelnen Schüsseln unbedenklich dem ausgesuchtesten Diner von der Stelle fort hätten eingereiht werden können. Ich verstand mich schon damals ein wenig auf solche Dinge; habe ich doch das erleuchtete Studium der Gastronomie auch unter den ihm äußerlich ungünstigsten Verhältnissen noch zu cultiviren gewußt!

Während der vierzehn Tage, die wir noch im Städtchen weilten, besuchte ich nunmehr fast täglich Frau Hanke. War ich damals auch nicht mehr jung, so war ich doch auch noch nicht alt, und manche hochfliegende Pläne, die heute längst in Nichts zerstäubt sind, manche Ideale, heute längst gestorben, trug ich damals noch neben unzähligen süßen und reizenden Thorheiten in gluthheißem, mächtig pulsendem Herzen, und ohne Rückhalt durfte ich der vortrefflichen Greisin mein ganzes Herz ausschütten, that es auch, sicher und gewiß bei ihr des innigsten Verständnisses, des regsten Mitempfindens für Alles. Nahm sie doch sogar lebhaftesten Antheil an meiner Menschendarstellungskunst, obschon sie selbst, weil sie aus Rücksicht für ihre Gesundheit Abends das Haus nicht mehr verließ, das Theater nicht besuchte, hörte sie doch auf’s Aufmerksamste zu, wenn ich den Inhalt eines neuen oder mindestens ihr noch unbekannten Stückes ihr referirte und ihr die Auffassung der Rolle, die ich etwa darin zu spielen hatte, darzulegen und zu zergliedern suchte. Wie manchen feinen Wink wußte sie mir zu geben, wie manches kluge Wort auch über die Kunst der Menschendarstellung hat sie zu mir gesprochen! Und mit welcher erquickenden Naivetät und Offenheit erzählte sie mir aus ihrem einfachen Leben!

[794] Dort drüben jenes Hans, das da auf der andern Seite des Ringes vor uns lag, war ihr Vaterhaus. Dort war sie als Henriette Arndt geboren. Ihr Vater war Kaufmann. Er oder die Mutter (oder gar Beide – mein Gedächtniß läßt mich hiebei im Stich!) starben früh und auf unsere Henriette, als die Aelteste der Geschwister, fiel die Pflege und die Erziehung der Jüngeren neben der Fortführung des Geschäftes, der Bedienung der Kunden in dem Laden. Mit dem zwanzigsten Jahre (wenn ich nicht irre) wurde sie die Gattin des Pastors Hanke, der, den vortrefflichen natürlichen, geistigen und gemüthlichen Fond der jungen Frau alsbald erkennend, es sich angelegen sein ließ, die Lücken in ihrer Bildung zu decken und auszufüllen, und gleichwie er in Henriette die treusorgsamste Hausfrau fand, ebenso fand er in ihr auch die lerneifrigste, erfolgversprechendste, dankbarste Schülerin. Wo Pastor Hanke Pfarrer war, habe ich vergessen, ich glaube aber, irgendwo im Hannöverschen wird es gewesen sein.

Eines Tages erschien auf dem Pfarrhof eine Verwandte des Gatten zu Besuch. Beim abendlichen traulichen Beisammensein lenkte sich das Gespräch, von jener Verwandten mit weiblich schlauer Geschicklichkeit darauf hingeleitet, auch auf Schriftstellerei, auf schreibende Frauen etc. – Unser Pastor zog gegen das mehr und mehr Mode werdende Schriftstellern der Frauen kräftig zu Felde und ließ besonders seinen Tadel laut werden gegen schriftstellernde Hausfrauen, die über ihr Schreiben Häuslichkeit, Gatten und Familie vernachlässigten und so keineswegs den Platz ausfüllten, auf den die Vorsehung sie gestellt. Trotz alledem rückte jene Verwandte dennoch mit dem Geständniß vor, daß sie das Manuskript einer Erzählung im Koffer berge und auf dessen Vorlesung „brenne“.

Verwundert schaute unsre Henriette die Verwandte an. War doch bei ihr bisher mit der Vorstellung einer Schriftstellerin immer der Gedanke des Außergewöhnlichen, ja sogar des Wundersamen verbunden gewesen, und nun saß mit einem Male in der simplen Frau dort, in der Verwandten ihres eignen Gatten, eine Schriftstellerin, wenn auch erst eine werden wollende, vor ihr. Auf ihre Bitte war denn auch der Pastor artig und liebenswürdig genug, die Vorlesung der Erzählung sich gefallen zu lassen, er ließ es aber nach Anhörung an neckendem Tadel und gutmüthigem Spott keineswegs fehlen. Für unsre Henriette indeß wurde der Besuch dieser schriftstellernden Verwandten zu einem bedeutsamen Wendepunkt. Unausgesetzt trug sie sich mit dem Gedanken, ebenfalls sich in einer Erzählung zu verfnchen. „Es kann doch am Ende so schwer nicht sein, eine kleine Geschichte zu erfinden und niederzuschreiben!“ sagte sie sich täglich, und Plan auf Plan drängte sich in ihrem Kopf. Dennoch mußte sie sich gestehen, als sie endlich an die Ausführung der lange herumgetragenen Idee ging, daß das Ding doch bedeutend schwieriger sei, als sie sich vorgestellt hatte. Nach langem Mühen und vielem Verwerfen kam schließlich eine Erzählung zu Stande, die sie in traulicher Stunde dem Gatten vorlegte. Und wo hatte die junge Hausfrau ihr Manuscript geschrieben? Nirgends anderswo als auf dem Vorrathsboden! Um vor jeder Ueberraschung durch ihren Gatten sicher zu sein, etablirte sie sich mit eben dem kleinen Schreibekasten, den die Leserin kennen gelernt hat, unter Vorräthen des Haushalts aller Art, und ihr Erstlingswerk wurde also buchstäblich zwischen Backpflaumen und Flachs zu Papier gebracht.

Henriette Hanke’s Wohnhaus in Jauer.

Der gute Pastor machte zwar ein sehr verwundertes, sehr ernstes Gesicht bei Entgegennahme des nicht allzu umfangreichen Manuscripts, aber er nahm es doch mit in sein Studirzimmer und – er las es auch! Nachdem er es gelesen, küßte er eines Morgens mit herzlicher Rührung sein junges Weib und sagte nur: „Fahre getrost fort!“ Als Henriette nun aber die Möglichkeit einer Herausgabe anzudeuten wagte, verwies er sie freilich lächelnd auf das Horazische Nonumque prematur in annum – aber nur, um die Freude zu haben, nach Verlauf einiger Monate sein Frauchen mit dem gedruckten Buch zu überraschen.[2]

So gerieth unsre Henriette unter die Schriftstellerinnen.

Ob der Roman, der hauptsächlich zuerst sie in Ruf brachte und ihr den Weg zu den Herzen der deutschen Frauenwelt bahnte: „die Perlen“, noch bei Lebzeiten ihres Gatten erschien, ist mir aus ihrer Mittheilung nicht mehr genau erinnerlich. Täuscht mich aber mein Gedächtniß nicht, so ist’s mir, als hätte sie mir erzählt, daß ihr Gatte schon im vierten Jahr ihrer Ehe gestorben sei. Dessen besinne ich mich jedoch bestimmt, daß der ehrenwerthe Pastor Hanke mit seinem Tode sein Weib in keineswegs glänzender Vermögenslage zurückließ.

Nach Ablauf des üblichen Gnadenjahres siedelte die junge Wittwe wieder nach Jauer über. In ihrem Talent und dessen Ausübung suchte und fand sie den Trost für den herben Verlust, den sie erlitten, in ihrem Talent aber auch fand sie nunmehr die Quelle ihres Lebensunterhaltes, jetzt, wo sie alleinstehend, vermögenslos, auf sich selbst und nur auf sich selbst angewiesen war. Wie redlich sie gestrebt, wie fleißig und unermüdlich sie gearbeitet, und wie ihr so seltsam entdecktes Talent sie nicht im Stiche gelassen – ein seltener Erfolg ist Beweis dafür geworden. Die Ausgabe ihrer gesammelten Werke letzter Hand zeigt die stattliche Reihe von einhundertsechsundzwanzig Bänden.

Dankbar gegen den Himmel, der ihr das Talent gegeben, innig und aus voller Seele erkenntlich für das viele Gute, welches ihr Verleger Hahn in Hannover, jener um die deutsche Literatur so hochverdiente Mann, für sie gethan (die Hahn’sche Hofbuchhandlung zahlte der Frau Hanke bis an ihr Lebensende alljährlich eine ausreichende Rente), [795] lebte die liebenswürdige Greisin in ihrem Gott zufrieden ihre Tage, heiter und froh die Früchte ihres Fleißes genießend, heiter und froh die Würde und die Bürde des Alters tragend. Dankbar gegen Gott und Menschen, in ruhiger Heiterkeit und Klarheit der Seele und des Geistes wird sie sicher auch von dem Licht dieser Welt geschieden sein, hinzugehen dorthin, wo wir jenes große „Vielleicht!“ aufzusuchen haben.

C. Sp.     




Moderne Geister-Offenbarungen.

Die Lehre der Spiriten. – Sitzung im Breslauer Verein. – Spiritistisches Abenteuer in München.

Der Spiritismus oder Spiritualismus (Geisterlehre), seit dessen erstem Auftauchen nun gerade zwei Decennien verflossen sind, macht in der letzten Zeit wieder da und dort so viel von sich reden und beschäftigt die Gemüther in so lebhafter Weise, daß ich nur den Dank der Gartenlaube-Leser zu verdienen glaube, wenn ich heute über diese mitten in dem realistischen Treiben unserer Tage so seltsam dastehende Erscheinung einen nach den räumlichen Verhältnissen des Blattes eingehenden Bericht erstatte.

Die Lehre der Spiriten, Spiritisten oder, wie sie namentlich in Amerika heißen, der Spiritualisten, ist ungefähr folgende: In der Natur zeigt Alles eine stufenweise Entwicklung, nirgends finden wir eine Kluft, überall fortschreitende, naturgemäße Entwicklung, aus welcher zuletzt durch Gottes Willen und Allmacht der Mensch hervorging. Dieser besteht von Geburt ab gewissermaßen aus drei Theilen: dem Körper, dem Geiste und dem „Fluidum“, einem Theile des Urfluidums, woraus, nach der Ansicht der Spiritisten, die Welt erschaffen. Letzteres, eine Art Aether, hat den ganzen Körper des Menschen durchdrungen, ist in ihn „versenkt“ und vermittelt dessen sinnliche Wahrnehmungen seinem unsterblichen Geiste. Es nur empfindet, fühlt (das Schöne, Gute) und ohne dasselbe würden Körper und Geist nie in Beziehungen treten können. Der Tod des Menschen erstreckt sich nur auf seinen Körper; das Fluidum mit dem Geist wandert in eine andere Welt, ersteres als neuer unsichtbarer Leib des Geistes. Alle Leidenschaften des Individuums, welche hienieden der freie Wille nicht besiegt hatte, behält es, vermag aber, in Abwesenheit des Körpers, nicht diese zu befriedigen; der fluidale Leib leidet daher mehr oder weniger Qual und Pein, die sich verringern, wenn der Geist die ihm drüben vom Schöpfer noch immer und in reichem Maße ertheilten Winke und Rathschläge benutzt und sich bessert. Jeder Geist im Jenseits kann, wenn er will, mit den Menschen in Verbindung treten, respective mit den in diese „eingekörperten“ Geistern, indem er sein Fluidum auf das Fluidum des betreffenden Menschen wirken läßt, der dann Medium wird und heißt.

Der Spiritist will nicht Geister beschwören, da er wohl weiß, daß es von dem freien Willen des Geistes abhängt, ob er sich mittheilen wolle, oder nicht; dabei kommt es noch darauf an, ob diejenige Person, welcher er sich mittheilen will, auch die nöthigen Eigenschaften besitzt, damit sie ihm als Medium zu einem schriftlichen Verkehre dienen könne; das heißt, es hängt davon ab, ob das Fluidum eines Geistes und dasjenige des Menschen (eines Mediums) so geartet sind, daß sie sich verbinden können; denn nur in diesem Falle kann ein Geist auf den Organismus eines Menschen wirken. Das Fluidum des Mediums, das mit seinem Nervensystem eng verbunden ist, muß also im Stande sein, dem Geiste als Leiter zu dienen.

Die Manifestationen der Geister sind zweierlei: intelligente oder physische. Die ersteren geschehen bewußt, indem das schreibende Medium mit Wissen sich dem Willen des sich offenbarenden Geistes überläßt, oder unbewußt, indem Dichter, Denker, Künstler ihre Gedanken von außen durch den Geist mitgetheilt erhalten (Inspiration). Die physischen Manifestationen sind diejenigen, mit welchen die Geister auf das Gehör, Gesicht (durch persönliche Erscheinung), ja selbst auf das Gefühl wirken. Die Spiritisten weisen den Vorwurf, sie seien bemüht, durch die Manifestationen der Geister voreilig den Schleier von Dingen zu ziehen, die Gott absichtlich verhüllt habe, mit der Bemerkung zurück, daß die „schlechten oder leichtsinnigen“ Geister überhaupt Nichts mittheilen können, weil sie Nichts wissen, daß sie vielmehr den Menschen durch Lügen und Vorspiegelungen zu ärgern suchen – daß aber die guten Geister, wenn sie Etwas mittheilen, dies nur mit Erlaubniß und auf Veranlassung Gottes thun.

Dies ungefähr sind die Grundlehren des Spiritismus, dessen Anhänger, auf zehn bis zwölf Millionen geschätzt, über alle fünf Welttheile verbreitet sind. Eine zahlreiche periodische Literatur (in Amerika erscheinen allein vierzehn spiritistische Journale, während die Zahl der über diesen Gegenstand dort erschienenen Bücher auf mehr als vierhundert angegeben wird) vermittelt den Verkehr zwischen den einzelnen Vereinen und Gesellschaften, die in Frankreich, Italien, Spanien, England, Rußland, Mexico bestehen und in den allerletzten Jahren sich auch in Pesth, Lemberg, Prag, sowie in mehreren Städten Deutschlands, wie Wien, Leipzig, Breslau etc. constituirt haben.

Ueber den Spiritistenverein in der letztgenannten Stadt nun bin ich in der Lage, detaillirtere und um so zuverlässigere Mittheilungen zu machen, als ich der Berichterstattung für die Gartenlaube halber dem Vereine beitrat und seinen Sitzungen persönlich beiwohnte. Der Bericht dürfte auch darum Anspruch auf Beachtung haben, weil seine Schilderung so ziemlich auf das Treiben aller anderen Vereine anwendbar sein wird.

Die Gesellschaft der Spiritisten zu Breslau, an deren Spitze als Leiter ein homöopathischer Arzt steht, will alle Thatsachen aus spiriten Erfahrungen studiren und auf das moralische Seelenleben anwenden, wobei alle Erörterungen über Politik und confessionell-religiöse Streitfragen ausgeschlossen bleiben. Zuerst benutzte man, um mit nicht eingekörperten Geistern sich in Verbindung zu setzen, den Psychographen, das heißt eine hölzerne Maschine, bestehend aus einer beweglichen Vorrichtung mit einem Zeiger, dem ein Alphabet untergelegt wurde, die dadurch in Bewegung nach den Buchstaben gerieth, daß Jemand, welcher das nöthige Fluidum besaß, an jenem Zeiger mit seiner Hand festhielt. Zuerst wurden so Buchstaben, dann Worte und zuletzt ganze Sätze gegeben, welche mit der Verstandeskraft und dem Wissen des Anhaltenden in keiner Verbindung stehen konnten. Später zeigten sich somnambule Media, dann geistig Inspirirte, welche, ohne zu schlafen, über hohe, geistige Dinge sprachen, die weit über dem eigenen Fassungs- und Ideenkreis des Inspirirten lagen. Zuletzt entwickelte sich das sogenannte inspirirte Schreiben, bei welchem ein Medium eine Feder ergreift und nun, ohne zu sprechen, dasjenige aufzeichnet, was der citirte Geist ihm eingiebt, und ihm folgte das inspirirte Sprechen.

Der Breslauer Verein bemüht sich nun, alle die oben geschilderten Lehren und Einrichtungen zur moralischen Vervollkommnung seiner Mitglieder zu benutzen und theils durch eigene Experimente, theils auch aus medianimischen Schriften, wie z. B. „das Licht des Jenseits“ von Constantin Delhez, einer spiritischen Monatsschrift, sich zu erbauen. Gegenwärtig zählt der Breslauer Verein nur zwanzig Mitglieder, besitzt aber doch mehrere sehr ergiebige Medien, nämlich einen männlichen Somnambulen, der aber ziemlich passiv ist, einen vierzehnjährigen Knaben, den Sohn des oben erwähnten Vereins-Leiters, der als Inspirirter durch einen geistigen Führer spricht, zwei Frauen, welche an dem Psychographen durch Magnetismus aus Mittheilungen geistiger Führer Belehrungen im Sinne der reinsten Moral erhalten, und endlich vier medianimisch schreibende Männer.

Dies sind die activen Mitglieder des Breslauer Spiritisten- Vereins, der jede Sitzung mit den Worten: „Gott! Setze Dich. Ich bin August X, Wilhelm Y oder Peter Z!“ beginnt und jede mit der Weisung. „Nun, Adieu, höre auf!“ schließt. Darunter sind jedoch nicht die Zusammenkünfte der Vereinsmitglieder, sondern die Sitzungen des sogenannten Anhaltens und Inspirirtwerdens zu verstehen.

Nachdem ich die allgemeinen Grundlehren des Spiritismus, wie sie mir theils aus Studium, theils aus Anschauung bekannt geworden, schilderte, will ich jene geheime Spiritisten-Sitzung beschreiben, welcher ich beizuwohnen Gelegenheit hatte. Sie fand zu Breslau am Sonntag, den vierzehnten November 1869, Vormittags 91/4 Uhr statt, und um für sie Zutritt zu erlangen, mußte ich Mitglied des Spiritisten-Vereins werden, als welches ich zu der Sonntags-Sitzung besonders eingeladen worden. [796] Als ich in das elegante Zimmer bei dem Leiter des Breslauer Vereins eintrat, erblickte ich einen auf drei Füßen stehenden runden Tisch, auf dessen Platte man einen weißen Bogen Papier mit zwölf Kupferstiftchen befestigt hatte, worauf oben die Worte: „Heilig ist Gott der Vater. Amen!“, links eine Paraphrase des Vater-Unsers, rechts das Wort „Nein!“, ein großes und ein kleines Alphabet, sowie die Zahlen von 1 bis 9 und 0 geschrieben standen. Auf der Mitte des Tisches war in Form eines sogenannten Storchschnabels ein braunpolirter Psychograph befestigt, vor dem ein kleines weißes elfenbeinernes Crucifix stand.

Bevor die Sitzung begann, traten der Leiter, ein Breslauer Arzt, dessen vierzehnjähriger bleicher Sohn, den die Gesellschaft für ein inspirirtes Medium hält, und der Schatzmeister des Vereins zu mir, reichten mir und sich untereinander zum Gebet die Hände, worauf der Arzt Gott den Vater (Jesum Christum halten sie nur für einen sehr fein organisirten Bruder) um Segen und Erleuchtung für das Beginnen bat. Hierauf setzte sich das vierzehnjährige Medium in die Ecke des im Zimmer aufgestellten Divans und sprach, ohne jedwede Aufregung, im einfachsten Ton von der Welt Folgendes:

„Ich bin Johann Sparmer. Setze Dich! – Es giebt Vieles zwischen Himmel und Erden, was wir nicht verstehen – so sagen die Menschen – aber sie geben sich nicht Mühe, dieses Etwas zu erkennen, zu wissen, was eigentlich dieses Etwas ist, um es dann zu verstehen. ‚Es ist unmöglich!‘ sagen sie. O nein! – Einestheils wollt Ihr es nicht untersuchen, weil es Euch allerdings aus den ehrgeizigen Träumen herausreißt; anderntheils könnt Ihr es nicht, Ihr seid in Eurem Geiste noch zu schwach! Dieses Etwas will ich Euch erklären. Es ist der Magnetismus. Dieser regiert, so zu sagen, unter der Oberleitung Gottes das ganze Weltall; jedes Geschöpf, jede Welt, Alles, was in der Welt ist, besitzt Magnetismus; der magnetische Strom zieht durch Alles. Alle Verbindungen, mögen sie sein, wie sie wollen, sind durch Magnetismus hervorgerufen. Daß Manches sich nicht verbindet, wird dadurch hervorgebracht, daß, so zu sagen, Nordpol zu Nordpol, Südpol zu Südpol zusammenkommen; am geregeltsten in seinen Wirkungen ist der Magnetismus bei dem entwickelten Geschöpfe, dem Menschen und dem Geiste des edlen und starken Geschöpfes. Die Geister – auch schwache – umgeben den Menschen, durch den Magnetismus wirken sie auf ihn; es ist ein Gefühl, welches sich der des magnetischen Stromes Unkundige nicht erklären kann, der Kundige jedoch benutzt ihn, je nach der Stärke seines Geistes, der Gute in einer Gott wohlgefälligen Weise, um sich zu belehren und zu steigen, und später, wenn er Lehren genug gesammelt hat, zur wahren Erkentniß des Weltgeistes, der Vernunft und Gottes zu kommen; der Schwache dagegen, um ihn zu seinem materiellen, irdischen Nutzen zu verwenden. Man nennt dies den Geisterverkehr!

Ich weiß nicht, ob ich dies genügend klar machen kann, es ist eine Tiefe darin, welche eben nur Gott, der vernünftigste und edelste Geist, ausfüllen kann. Ich werde heute schließen. Ueber die besonderen Einwirkungen der Geister auf die Medien werde ich in einer späteren Sitzung sprechen!“ – Dies waren, nach stenographischer Aufzeichnung, die Aeußerungen des vierzehnjährigen inspirirten Medii, Aeußerungen, welche der halb erwachsene Knabe ohne irgend welche Exaltation seinem Vater dictando mittheilte, woran er noch folgendes kurze Gebet knüpfte, das man auch als vom Geiste Sparmer inspirirt annahm: „Gott, ich bitte dich, erleuchte alle unsere Brüder, Menschen wie Abgeschiedene, daß sie dich in deiner wahren Größe erkennen mögen und immer weiter vorschreiten auf dem Wege des Lichtes! – Nun Adieu, höre auf!“

Als ich nach dieser Inspirationssitzung wahrscheinlich ein sehr ungläubiges, oder doch zweifelvolles Gesicht machte, wurde ich gefragt, was ich von dieser Auseinandersetzung und Offenbarung halte, worauf ich erwiderte: „Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube, weil ich keinen Beweis habe, daß überhaupt ein ‚sogenannter Geist‘ das eben Gehörte inspirirt hat, da wohl anzunehmen ist, daß ein vierzehnjähriger Knabe, der im Spiritismus groß gezogen und einigermaßen geistig begabt, solche allgemeine Phrasen wie die obigen zu machen im Stande ist. Aber angenommen, der Knabe sei wirklich inspirirt, so imponire mir der völlig unbekannte Geist Sparmer keineswegs, da er keine hervorragende Persönlichkeit gewesen!“ – Der Führer entgegnete hierauf, daß er diese meine Antwort vorhergesehen, ich aber wohl noch später an die Unfehlbarkeit des inspirirten Medii glauben würde. Hiernach erschien ein junges Mädchen, die Wirthschafterin des Arztes, am Psychographen, legte ihre Hände auf und schrieb: „Heilig ist unser Gott und Vater! Ich bin Eleonore Gleisberg (die geistige Führerin des Mädches). Meine Lieben, Ihr fühlt immer noch nicht, wie schwach Ihr ohne höheren Beistand seid. Ich weiß, woran das liegt, auch Ihr wisset es, nur gehet Ihr zu leicht darüber hin. Es ist dies nicht gut, besser wäre es, wenn Ihr, wie ich Euch früher schon sagte, mit Liebe und ernstem Gebet daran gehen wolltet. Nehmt meine Worte, welche immer aus wohlgemeintem Herzen kommen, mit Liebe und Ueberlegung auf. Ich werde meine Anhänglichkeit zu Euch nicht aufgeben, nur würde meine Freude groß sein, wenn ich sähe, daß meine Arbeit Früchte bringen möchte; denn meine Ermahnungen haben oft wenig Erfolg. Nun Adieu!“

Ebenso wenig wie die Inspiration befriedigte mich die Sitzung an dem Psychographen, weshalb ich bat, selber einen Geist citiren und diesem eine Frage vorlegen zu dürfen. Das Erste wurde abgelehnt, das Zweite gestattet, indem man mir bedeutete, ich müsse aber die geistige Führerin des Mediums, also hier die Eleonore Gleisberg, befragen. Ich legte danach dem abgeschiedenen Geiste die einfache Frage vor: „Welcher Unterschied ist zwischen Glaube und Wissen?“ worauf man mir entgegnete, daß jene philosophische Frage für die geistige Führerin der Wirthschafterin, hier also des psychographirenden Medii, zu schwierig sei, man überhaupt auch nur solche Fragen an die Geister thun dürfe, welche über den Ideenkreis nicht hinausgingen, in welchem sie sich als eingekörperte Geister, d. h. als lebende Menschen, bewegt, und daß die Mutter des jungen Mädchens, ihre geistige Führerin, eine einfache Frau gewesen. Als ich hierauf den Geist meiner vor einigen Jahren verstorbenen Mutter citiren wollte und ich die Ueberzeugung aussprach, daß mir dieser, sei eine Correspondenz überhaupt möglich, gewiß erscheinen würde, verneinte man auch dies mit dem Bemerken, daß dieser Geist, als ein edler und feingebildeter, schon in einer Atmosphäre schwebe, aus der er nicht mehr zu mir dringen könne. Da ich keinen Beweis vom Gegentheil beibringen konnte, mußte ich mich bescheiden und die Sitzung wurde mit einem Gebet beschlossen, und ich verließ unbefriedigt und unüberzeugt das Zimmer und das Haus.

Bei dieser Gelegenheit kommt mir ein anderes spiritistisches Abenteuer in das Gedächtniß, das ich schon in früheren Jahren gehabt habe und das ich den Lesern der Gartenlaube nicht vorenthalten will, weil sie das am Ende noch interessanter oder doch – unterhaltender finden dürften, als das ersterzählte von Breslau. Während meines Aufenthaltes in München vor mehreren Jahren lernte ich den Redacteur einer dortigen ultramontanen Zeitung kennen, der sich viel mit Mystik und religiösen Forschungen beschäftigt hatte und in Folge dessen stets salbungsvolle, von Frömmigkeitsbalsam triefende Floskeln auf den Lippen trug und dadurch einen ebenso unangenehmen als peinlichen Eindruck machte. Seine Gattin war eine wohlthätige hübsche Münchenerin mit sehr weltlich-lüsternem Blick, und ihre schönen schwarzen Augen schauten begehrlich in die blühende Gotteswelt hinein, doch war auch sie, wenigstens äußerlich, von dem Gifte eines heuchlerischen Pietismus afficirt und betrachtete ihren heiligen, der Offenbarung seliger Geister so nahen Mann mit einer wahren Verehrung, und jedes seiner Worte schien ihr eine köstliche Perle, ein Himmelsthautropfen zu sein, den ihre schönen Augen begeistert von seinen Lippen küßten.

Dieses Ehepaar führte mich nun zu einem ihnen befreundeten Oekonomen, der einen Psychographen und außer diesem ein magnetisch schreibendes Medium besaß und auf meinen Wunsch mit beiden experimentiren wollte. Bei unserem Eintritt saß die Magd Marie, das Medium, starr und steif in einem Winkel des Zimmers und erhielt erst Leben, als man vor der Sitzung soupirte, bei welchem Souper sie einen höchst prosaisch-irdischen Appetit entwickelte, woraus ich schloß, daß sie einen besonders starken Geist besitzen müsse, da der Träger dieses Geistes, ihr Körper, ein so bedeutendes Consum zu seiner Existenz nöthig habe. Unser Wirth hatte ein durchaus nichtssagendes Gesicht, ausdruckslose Augen und einen rothen Zwickelbart. Der Mann erregte bei Tisch meine ganze Bewunderung, da er zu gleicher Zeit ebenso viel Braten und Salat zu sich nahm, als er eifernde und polternde Reden über die Genußsucht der halsstarrigen bösen Welt von sich gab. Das Medium Marie war klein, von sehr schwächlichem Körperbau, [797] äußerst dünnem Haarwuchs, fieberhaft gerötheten Wangen, und hatte matte blaue Augen, die nur während des Schreibens einigen Glanz erhielten. Außerdem hatte sie nicht das Aussehen der sonstigen sogenannten „Somnambulen“, auch gab sie ihre Mittheilungen nicht im magnetischen Schlafe, sondern im Wachen, während eines exaltirten Zustandes, der sich vorher durch ein heftiges Zittern des ganzen Körpers ankündigte. Daß sie sehr magnetisch, erschien mir evident, doch war wohl ihr ganzes Nervensystem überreizt und geschwächt und schien ihre Gehirnthätigkeit deprimirt, während die Ganglien auf’s Höchste gereizt waren, und es ist lächerlich, diesen ihren Zustand über das gesunde, eigene Selbstbewußtsein zu stellen und davon religiöse Aufschlüsse von abgeschiedenen Geistern aus dem Jenseits zu erwarten.

Nach beendeter Mahlzeit nahm das Mädchen eine große Schiefertafel und einen neuen scharfgespitzten Schieferstift, ergriff diesen lose an dem entgegengesetzten Ende zwischen zwei Fingern und zitterte heftig. Bevor die Manipulation begann, nahm unser Wirth ein großes Folio-Buch und notirte darin meinen Vor- und Familien-Namen, Stand, Geburtsort und Alter, woraus der Redacteur den abgeschiedenen Geist des alten Sokrates befragte, ob er geneigt sei, mir zu antworten. Nach dieser Frage sah das Mädchen starr auf die Tafel und bald schrieb sie mit Blitzesschnelle in lang gezogenen, für mich fast ganz unleserlichen Buchstaben die Worte. „Ich habe es schon gesagt!“ – Nachdem der Redacteur und der Oekonom diese Antwort mit verklärten Mienen aufgenommen, sehr fromm die Augen verdreht und die Worte. „Gelobt sei Jesus Christ!“ gemurmelt hatten, theilte mir der Wirth sehr vergnügt mit, daß Sokrates gestern geäußert, er kenne mich schon seit längerer Zeit, woran ich die bescheidene erste Frage knüpfte, wo und wann ich die Ehre gehabt hätte, ihm bekannt zu werden? – worauf das Mädchen schrieb. „Wir kennen Alle, nennt man die Namen!“ – Nach dieser wahrhaft sokratischen Antwort fragte ich zweitens: „Was ist der thierische Organismus in seiner Beziehung auf sich betrachtet?“ – Statt der einfachen Antwort: „Sensibilität, Irritabilität und Reproduction!“ – wurde geschrieben: „Ist noch nicht an der Zeit!“ – Meine dritte Frage war: „Was ist Irritabilität?“ – Die Antwort hätte sein müssen: „Irritabilität ist die Reizbarkeit, welche der Organismus in sich trägt und gegen welche er auch reagirt. Sie steht darum dem Proceß der Assimilation entgegen!“ – Hierfür ließ Sokrates schreiben: „Ist schon gesagt!“ – Darauf bedeutete man mir, daß die entkörpertem, abgeschiedenen Geister durchaus Nichts sagten, was schon einmal gedruckt sei.

Die seligen Geister haben demnach mehr Respect vor dem geistigen Eigenthum der armen Schriftsteller, als die profane, unselige, heutige Welt, für welchen Aufschluß ich dem Herrn Redacteur sehr dankbar bleibe. Da man mich aufforderte nur religiöse Fragen und keine profan-wissenschaftliche zu stellen, so fragte ich ferner: „Wie verhält sich die Gottheit und Menschheit in Christo zu einander?“ – worauf die Sibylle unter sehr heftigen Zuckungen des ganzen Körpers die Worte aufzeichnete: „Lies, Joseph!“ – So hieß nämlich der Bruder des Medii mit Vornamen. Als dieser aber aus seinem Buche, in dem er alle Fragen und Antworten eifrig protokollirt, keine passende Antwort finden konnte, bezeichnete sie eine Stelle des Buches ganz genau, worauf mir Herr Joseph länger denn zehn Minuten ein Gewirr von exaltirten und mystischen Phrasen vorlas, das mir zuletzt völlig unverständlich blieb, dem Herrn Redacteur aber die begeisterte Exclamation entlockte: „So ist es!“ – wonach das Mädchen sehr eifrig die Worte niederschrieb: „Jetzt ist die Frage gelöst!“ – Da man meine stumme Verwunderung über diesen crassen Unsinn für den Ausdruck meiner tiefsten Ueberzeugung nahm, so lud man mich ein, unter dem Hinweis auf die mir durch jene Antworten zu Theil gewordene Begnadigung, eine auf meine Person bezügliche religiöse Frage zu thun, worauf ich zu wissen wünschte: „Wie sich mein Glaube zu den hier empfangenen Offenbarungen verhalte?“ – und die Antwort darauf war: „Du mußt es sein!“ – Jetzt hatte ich vollkommen genug und der Herr Redacteur nahm statt meiner das Wort, indem er fragte: „Meine liebe Frau ist leidend, was soll ich thun?“ – worauf das Mädchen die einzig vernünftige Antwort niederschrieb: „A–r–z!“ – Er bat sodann noch um Aufklärung darüber: „Ob die Insecten ihre jetzige Gestalt bereits im Paradiese gehabt hätten?“ – und nun ward ihm durch die Pythia die denkwürdige Antwort: „Mensch und Thier hatten nicht die Bestimmung wie nach dem Fall!“ –

Hierauf erklärte Maria, daß der Geist von ihr gewichen und sie, müde und abgespannt, sich nach ihrem Bette sehne; sie verließ das Zimmer, während unser Wirth mir erklärte, daß ihm noch niemals der Fall vorgekommen sei, daß ein zum ersten Male Anwesender, wie ich, überhaupt eine Antwort erhalten habe, und ich die mit mir gemachte Ausnahme als eine besondere Begnadigung des Himmels in demüthigem Glauben und brünstigem Gebete dankbar anerkennen müsse. Als ich darauf erwiderte, daß ich aus der heute gewonnenen Anschauung durchaus keine tiefere Ueberzeugung von der Einwirkung der Geister auf den Menschen gewonnen hätte, freute er sich über meine Aeußerung, die er nicht nur natürlich fand, sondern, wie er sagte, erwartete, indem er mich versicherte, das Gegentheil gar nicht geglaubt zu haben. Er sähe es mir aber an, daß ich sehr zum Glauben neige, ein tüchtiger Spirit werden und bald würdig sein würde, in ihre Gesellschaft zu treten. Hiernach schloß der Redacteur die Sitzung mit den Worten: „Gelobt sei Jesus Christ!“

Wie sind die Leute doch in ihrem Wahne glücklich, wie beruhigt und sicher fühlen sie sich, während der Wissensdurstige, der Forscher in steter Aufregung, fortwährendem Ringen nach Wahrheit schwankt und wankt, grübelt und denkt, annimmt und verwirft, um immer neu einzusehen, daß er nicht am Ende seines Forschens ist!




Eine Schulfahrt der Neuenburger Cadetten.
Von Stephan Born.
(Schluß.)


Wir hatten die Grenze des Baumwuchses längst überschritten und oft genug die Gelegenheit benutzt, unsere Hüte mit Alpenrosen zu schmücken. Die Gegend hatte einen vollständig alpinen Charakter angenommen, und wie freudig war die Ueberraschung, als die Vorhut plötzlich von der Höhe des Col des Essets, sechstausendsiebenhundertdreiunddreißig Fuß über dem Meere, die nachrückende Schaar mit Schneebällen bombardirte! Der Paß mußte gegen die wackeren Vertheidiger mit Sturm genommen werden. Noch eine kräftige Anstrengung und der höchste Sattel war erklommen. Vor uns lag der gewaltige Gebirgsstock der Diablerets, rechts in verführerischer Nähe sandte der Paneyrossaz-Gletscher seinen krystallenen Mantel hernieder in’s Thal, links etwa vierhundert Fuß unter uns, in einer kleinen Stunde Entfernung, winkten die Hütten von Enzeindaz zum Nachtquartier.

„Wer kommt mit auf den Gletscher?“ ruft unser Hauptmann. Etwa ein Dutzend junger Leute schließen sich ihm an, die Anderen ziehen Enzeindaz und der sehnlichst erwarteten Suppe entgegen. Der Tag begann zu sinken, als wir unser heutiges Ziel erreichten. Vor den Hütten saßen die Sennen, vom schweren Tagewerk ausruhend, und Keiner erhob sich, um den ankommenden Gästen entgegen zu eilen. Weder unsere schmetternden Trompeten noch die blauen Uniformen schienen ihnen sonderlich zu imponiren. Neben ihren Bergen, dies war augenscheinlich, gab es für sie nichts Großes auf Erden. Drunten im Thale war alle Welt an die Fenster geflogen, wenn unsere stattliche Truppe nur von ferne sich zeigte, selbst manches Sträußchen war uns von schöner Hand zugeworfen worden. Droben auf der Alp, das sahen wir jedem Gesicht an, waren wir sicher willkommen, doch weit entfernt, unsere Wirthe nur einigermaßen aus ihrem gewohnten Gleichmuth zu bringen. Und hätte ein König mit glänzendem Gefolge an unserer Statt hier zugesprochen, es wäre darum kein größeres Aufhebens um ihn gemacht worden, und der Meister Senn, ein knochiger Alter, an den man uns wies, hätte ebenso gelassen sein Pfeifchen weiter geraucht und nach einem herzlichen „Guten

[798] 

Die böse Strecke an der Bergwand der Diablerets.
Nach der Natur aufgenommen von Bachelin.

[799] Abend“ Seine Majestät in waadtländischem Patois gefragt, ob er auch Schalen und Tassen für die vielen Mäuler mitgebracht; Milch habe er wohl genug, aber gar wenig Geschirr.

Er machte indessen Feuer auf dem Heerde, hängte einen großen Kessel Milch darüber, und als sie abgekocht war, kamen auch die letzten Wanderer vom Paneyrossaz-Gletscher an. Auch nicht Einer fehlte, da es zum Essen ging, und das halbe Dutzend Schüsselchen und Schalen von verschiedenstem Kaliber wanderte von Mund zu Mund. Es wurde spät, ehe die letzten Sechs abgefüttert wurden, aber sie hatten dann auch den Vortheil, ihr Brod in die warme Milch brocken zu dürfen, was den Ersteren als ein zu zeitraubendes Geschäft nicht gestattet war. Eine zweite Auflage desselben Gerichts blieb nicht aus, zu einem Kännchen Kaffee sogar war Stoff vorhanden, wie der Alte schmunzelnd bemerkte, und als er nun gar noch einige Flaschen Wein herbei zauberte, die er im Frühjahr für fremde Gäste mit auf die Alp genommen, da drückten wir ihm zärtlich die Hände und tranken auf das Wohl des Meisters Senn von Enzeindaz. Die Jungen suchten allmählich ihr Nachtlager auf den Heuböden der zerstreuten Hütten. Ein einziges Bett, gestand jetzt unser Wirth, könne er uns anbieten, und es wurde mir, als dem Aeltesten der Truppe, großmüthigst zugesprochen. Dies Bett war reinlich überzogen, die dürren Blätter, die seinen Hauptbestandtheil ausmachten, waren aufgeschüttelt worden und raschelten bei jeder Bewegung, die meine müden Glieder sich erlaubten; einige Ziegenfelle ersetzten den Luxus der wärmenden Decke. Es wurde stiller und stiller in den Hütten, die Müdigkeit, welche Alle ohne Ausnahme beherrschte, ließ keinen Schelmenstreich aufkommen, der Traumgott allein trieb sein neckisches Spiel mit den jugendlichen Schläfern und nur das Blöken der Heerden und ihr helles Geläut unterbrach die Stille der Nacht.

Der Rutsch im Schnee auf dem Plateau des Sanetsch.
Nach der Natur aufgenommen von Bachelin.

Um vier Uhr Morgens wurde die Tagwacht geblasen, aller Ecken und Enden krochen fröhliche Gesichter aus dem Heu, das Frühstück war schnell besorgt; die Schalen warmer Milch gingen wieder von Mund zu Mund und ein Stündchen später waren wir auf dem Marsch. Ueber blumige Triften, zwischen weidende Heerden führte dieser Pfad, erst sanft, dann steiler ansteigend, nach dem Col de Cheville, der Grenze von Waadt und Wallis. Wir waren seit Beginn unserer Reise vom schönsten Wetter begünstigt, wiederum war kein Wölkchen am Himmel, und die weißen Firnen der Diablerets schimmerten und glitzerten unter den schrägen Strahlen der Morgensonne. Von der Höhe des Passes bot sich uns plötzlich das schauerlich ergreifende Bild des von den Trümmern der Diablerets verschütteten weiten Thales. Auf den Diablerets ereignen sich bekanntlich zuweilen ungeheure Felsstürze, wie deren im Jahre 1714 in einem Bezirke von drei Stunden unter fürchterlichem Dampfen und Krachen niedergingen und in sich mehrere Hütten, Heerden und sechszehn Alpenhirten begruben. Sie zerstörten viele große Wälder, welche als Dämme gegen Schneelawinen gedient hatten, herrliche Weiden lagen heute noch unter den haushohen Felsenblöcken begraben und die Hirten erzählen sich schauerliche Geschichten von schrecklichen Kämpfen, die nächtlich zwischen Walliser und Waadtländer Teufeln auf den Trümmern der Diablerets stattfinden und wobei die Steine als furchtbare Geschosse hin und wider fliegen.

Rührend ist die Erzählung von einem der Hirten, welcher bei diesem entsetzlichen Bergsturz auf wunderbare Weise sein Leben rettete. Eine breite Felswand hatte sich nämlich quer über seine [800] Hütte gelegt, ohne dieselbe einzudrücken. Er beschloß, sich einen Ausweg an’s Tageslicht zu schaffen, und grub Wochen und Monate, während er sich mit dem Käsevorrath ernährte, der in seiner Hütte lag, und seinen Durst an einem Wasserfaden stillte, der durch dieselbe rieselte. Nach einem Vierteljahre endlich sah er sich am ersehnten Ziel. Bis zum Schatten abgemagert erreicht er sein heimathliches Dorf Avent, wo die entsetzten Einwohner vor ihm als vor einem Gespenst entfliehen, bis ein zitternder Priester es wagt, unter Beschwörungsformeln sich ihm zu nahen, ihn wieder erkennt und den Seinen zuführt.

Als wir auf die walliser Seite hinabstiegen, war es noch ziemlich früh am Morgen, und wir ahnten nicht, daß die Hirten, mit denen wir zusammentrafen, die letzten menschlichen Wesen waren, welchen wir in den nächsten zwölf Stunden begegnen sollten. Wie fröhlich hüpften die Kleinen über Geröll und scharfkantige Steine jetzt hinab in das todeseinsame Thal! Nicht ganz so munter schritten die Großen, ich darf es ehrlich gestehn; doch für die gemarterten Füße gab die kühle Fluth des Sees von Derborence ein erquickendes Bad. Diesen See, den der Bergsturz durch Stauung der Lizerne gebildet, die hinabströmt in’s Wallis, hat Calame durch eines seiner unsterblichen Bilder verherrlicht. Wie ein schwermuthvolles Auge blickt die grüne Tiefe aus der weiten, trostlosen Einöde.

Bis hierher waren wir einem Pfade gefolgt, den hier und da auch ein Touristenfuß betritt, um über den Pas de Cheville in’s Rhonethal zu gelangen. Wir aber gedachten die vor uns sich erhebende steile Gebirgswand zu erklimmen, um von dort aus über den Sanetschpaß in’s Bernerland hinabzusteigen. Keiner von uns hatte eine klare Vorstellung von der Aufgabe, die wir uns gestellt; unser Führer übernahm deshalb jetzt die Leitung des Zuges, ohne daß wir Erwachsenen die Verantwortlichkeit darum minder gefühlt.

Noch einmal ging es über die Felsentrümmer der Diablerets, jetzt aber aufwärts. Nach zwei Stunden befanden wir uns in einem engen Gebirgskessel, in welchem die Milliarden Atome eines aus ungeheurer Höhe herabstürzenden Staubbachs zu einem schäumenden Wasser sich vereinigen. Hier wurde das Mittagsmahl eingenommen. Flugs war das mitgebrachte Fleisch zerschnitten und vertheilt, und wer kein Brod mehr hatte, bekam immer noch etwas von seinem Nachbar; einen kühlenden Trunk schöpfte man aus dem Bach.

„Wir haben jetzt eine böse Strecke zu überwinden,“ sagte der Führer zum Doctor. Sie war in der That „böse“. Schon der erste Angriff auf die vor uns anstrebende Bergwand ließ manches Herz ungestümer pochen, denn unter den Tritten der Ersten, welche sich mühsam genug mit Anwendung von Händen und Füßen an der Felsmasse hinaufzogen, rollten gewaltige Steine hinunter und drohten die nachfolgenden Kletterer zu tödten, wenn nicht ein rechtzeitiges Commando der Linie der Ansteigenden eine schräge Richtung anbefohlen hätte. Dies jedoch war nur das Vorspiel des wirklichen Drama’s, das uns erwartete; denn plötzlich befanden wir uns vor einer thurmhohen senkrechten Kalksteinwand, deren hie und da zu Tage tretende Schichtenköpfe von etwa vier Zoll Tiefe sich als einzige Stützpunkte für Hände, Füße oder Kniee anboten. Die Gemsjäger, welche diese Felsentreppen benutzen, heißen sie den porteur de bois. In aller Stille wurden die Rollen unter den Lehrern vertheilt: je einer derselben folgte einer Anzahl Cadetten, von denen die gewandtesten vorangeschickt wurden. Auf die erste Stufe, die mindest gefährliche, weil am tiefsten in den Felsen eingeschnitten, mußte Einer nach dem Andern gehoben werden, da sie für ein gewöhnliches Menschenkind sonst nicht leicht zu erreichen war. Von hier ab hieß es, die Sprossen der Felsenleiter je nach den Verhältnissen sich selber wählen. Langsam, aber stetig ging es aufwärts; nur wo die Noth es gebot, einem ängstlichen und deshalb allzuhastigen Kletterer mehr Ruhe anzuempfehlen oder ihm eine sicherere Stufe zu weisen, fiel ein ermahnendes, freundliches Wort. Mancher herrliche Zug von Aufopferung kam hier zum Vorschein. Auf eine der schwierigsten Stellen hatte sich ein fünfzehnjähriger Held, nachdem er als der Erste das schwindelnde Ziel gewonnen, wieder zurückbegeben. Sich mit einer Hand an einem Vorsprung festhaltend, reichte er die andere den Nachkommenden hülfreich zu, nahm ihnen die hier nur zu lästigen Stöcke ab, langte sie einem höher Postirten zu und bog sich oft mit dem ganzen Oberleib tief hinunter, um auch den kürzeren Arm eines kleineren Cameraden noch zu erfassen und dem Erschöpften hinaufhelfen zu können. Seinem vortrefflichen Beispiele folgten dann Andere; zwei, drei legten sich als Vorspann an einen langen Alpenstock und ergötzten sich daran, einen armen, keuchenden Nachzügler die obersten Stufen hinaufzuziehen. Endlich erschienen auch der Doctor mit dem Führer als die Letzten, und Beide wurden mit begeistertem Zuruf empfangen. Man fühlte allgemein, daß man etwas Rechtes brav überstanden hatte, und schritt dann um so muthiger dem freilich noch fernen Ziele zu. Als endlich nach zweistündigem anhaltenden Steigen der über achttausend Fuß hohe Kamm des Gebirges gewonnen war, von wo ein prächtiges Schneefeld hinabführt auf das Plateau des Sanetsch, da kannte der Jubel keine Grenzen, und die Freuden des Winters wurden im Hochsommer mit einer glänzenden Rutschpartie vorausgenossen. Im Nu waren die Stöcke unter die Beine genommen und sausend ging es die geneigte Fläche hinunter.

Auf den Rutsch im Schnee folgte ein stilles Hinbummeln ohne Sang und Klang, ohne Excursionen nach rechts und links, ein Zeichen herannahender Ermüdung. Die Vegetation war außerordentlich dürftig geworden, die Rhododendronbüsche waren längst verschwunden und nur hier und da erfreute ein seltenes Edelweiß mit seiner sammetnen Blüthe den glücklichen Finder. Dunkelbraune Schiefergebirge stiegen jetzt zu unserer Rechten empor und ihre finsteren senkrecht abstürzenden Wände schienen auch einen Schatten auf die eben noch so fröhlichen Herzen zu werfen, als plötzlich ein neues Ereigniß dem Geiste frische Spannkraft verlieh. Wir waren an die Morge gelangt und suchten lange vergeblich nach einer Furth. Der Sanfleurongletscher, aus welchem dieser Bach entspringt, hatte in Folge der glühenden Tageshitze dem Wasser reichlichere Nahrung gegeben und nun galt es, dasselbe zu durchwaten. Schuhe und Strümpfe wurden ausgezogen, der natürliche Trieb mit dem Wasser zu pantschen und zu plätschen, so unwiderstehlich er für den lieben Bengel sonst ist, war hier schnell abgekühlt, denn der Bach, welcher den Erwachsenen selbst an die Kniee reichte, wies nur drei Centigrad auf dem Thermometer. Der letzte Rest des mitgenommenen Proviants wurde hier vertheilt und vorwärts ging es sogleich, um etwaigen Erkältungen vorzubeugen.

Ueber den glattpolirten Boden des Gletschers, der ehemals das ganze Plateau bedeckt hatte, eilten die Bursche wie tanzend; über Schrunden und Risse setzten sie in hohem Bogen mit Hülfe des Alpenstocks. Einige von uns älteren Cameraden bildeten die Nachhut, aus Sorge, daß Niemand zurückbleibe. Da stießen wir auf eine rührende Scene. Vor uns her zottelte wehselig mit hängendem Kopfe ein schon etwas größerer Knabe, von den beiden Kleinsten der Schaar wie der greise Jakob von seinen Enkeln geführt. Sie hatten ihm einen Theil seiner Bürde abgenommen und gaben sich die erdenklichste Mühe, seinen gesunkenen Muth wieder aufzurichten, indem sie ihm ein verführerisches Bild von dem gar nicht mehr weiten Nachtquartier vormalten, wo er dann in einem molligen Bett sich so herrlich ausruhen könne. Wie die schützenden Engel walteten die Kinder um den großen Jungen. Da, wo die Steine gar zu glatt und abschüssig waren, hielten und stützten sie ihn wie ein zages Lamm. Wir ließen sie ruhig gewähren, uns innerlich über die Scene ergötzend; denn wir hatten die Erfahrung gemacht, daß die momentane Schwäche Einzelner durchaus nicht physischer, sondern nur moralischer Natur war. Nach einer halben Stunde hatte der Muth solcher geistig Maroden stets wieder neue Schwingen erlangt und der eben noch Verzagende stand dann in den vordersten Reihen. Solche Wunder bewirkt die reine Gebirgsluft.

Gsteig, unser Tagesziel, war indessen noch vier Stunden entfernt und der Führer drängte nach vorwärts, damit wir von der Nacht nicht überrascht würden. Wir befanden uns endlich auf Berner Gebiet. Wohl ein halbes Dutzend Bäche, welche die Quellen der Saane bilden, hatten wir überschritten und dabei auch einen der kleinsten Knaben auf der Schulter hinübergetragen, die Schatten des Abends mahnten zur Eile. Wie von der Gemmi hinab nach Leuk, so führt hier ein endloser Zickzackpfad hinunter nach Gsteig, nur daß jener, weil täglich von zahlreichen Touristen betreten, möglichst gut in Stand gehalten wird, während den Sanetsch hinab das kantige Steingeröll den hartgeprüften Füßen nirgends eine feste Stütze bietet. Solche Zickzackwege fordern die menschliche Geduld und die Kraft der Kniee auf tückische Weise heraus. Bei jeder Wendung vermeint man, das Ziel vor Augen [801] zu sehen, und ewig und ewig wiederholt sich dieselbe Marter, dieselbe Pein. Wir hatten die Vorhut angewiesen, wenn wir spätestens vor Anbruch der Nacht Gsteig nicht erreichen sollten, uns Licht entgegenzusenden.

Glücklich hatten wir auch mit dem Gros der Truppe die rauhen Zickzacks zurückgelegt und betraten jetzt einen Wald, das erste Zeichen einer milderen Gebirgsregion, seit wir am Tage vorher von Pont de Nant aufgebrochen. Wie um dies Ereigniß zu feiern, hatten die Erstangekommenen Reisig zusammengetragen, ein Feuer angezündet, die Trompeter spielten auf und munter wurde über die sprühende Gluth gesprungen, bis auch der letzte Nachzügler – die Nacht war plötzlich hereingebrochen – mit Hülfe der weithin leuchtenden Flammen sich eingefunden. In der Ferne zuckten Blitze, und der Führer trieb mehr und mehr zur Eile. Wir schlossen uns eng an einander, so weit es der schmale holperige Weg durch den Wald gestattete. Bald sah man die Hand nicht mehr vor Augen, und nur, wenn der düstere Schein des Wetterleuchtens auf eine Secunde den Wald erhellte, wagte man es, den Fuß sorglos weiter zu setzen. Wir hatten so während einer halben Stunde, dem Rufe des Führers folgend, uns fortgetappt, als dieser erklärte, wir dürften nicht weiter, bis er den Weg gefunden, er habe ihn verfehlt. Wir mußten am Ufer der Saane angekommen sein, denn donnernd tobten die Wasser in unserer unmittelbaren Nähe.

Wer an dieser Stelle ausrufen möchte, es sei am Ende tollkühn und vermessen, mit fünfzig Knaben so unberechenbare Fahrten im Hochgebirge zu unternehmen, dem möchten wir erwidern, daß für die Bildung des Charakters nichts wohlthätiger ist als frühe Gewöhnung an Ueberwindung von Schwierigkeiten und Gefahren, und vor allen Dingen, daß es auch eine Vorsehung für Verirrte giebt. Sie sandte uns diesmal im rechten Augenblick den Mann mit der Laterne. Unser verständiger und besorgter Führer hatte wohl gethan, uns Halt zu gebieten, denn es zeigte sich, daß wir nur wenige Minuten von der geländerlosen Brücke über die Saane entfernt waren, die wir jetzt gefahrlos und beruhigten Herzens überschritten.

Um zehn Uhr Abends saß die gesammte Mannschaft in der geräumigen Wirthshausstube des Gasthofs „zum Bären“ in Gsteig vor einer dampfenden Suppe, diesmal ohne Käse, und freute sich des muthig Vollbrachten. Erinnerungen an einzelne Erlebnisse während des wechsel- und genußreichen Tages würzten die Unterhaltung: man gedachte so manches aufopfernden Zuges von Seiten des unermüdlichen Führers Louis Allamand aus Bex, und die Cadetten, ohne jede Aufforderung von den Lehrern, sammelten in aller Stille unter sich ein beträchtliches Trinkgeld, um es dem wackeren Manne noch an demselben Abend zu überreichen.

Es bedurfte keiner weiteren Ermahnung, die Nacht nicht mit Schwatzen zu verbringen. Als kurz nach elf Uhr die officielle Runde auf dem Heuboden gemacht wurde, lag Alles in tiefster Ruhe. Am andern Morgen fand man freilich den Kleinsten auf dem unteren Boden in ruhigem Schlummer. Er war trotz aller Vorsichtsmaßregeln und Warnungen durch das Luftloch hinabgerollt, ohne Schaden zu nehmen, ohne nur aufzuwachen. O seliger Kinderschlaf!

Hier wollen wir von der jugendlichen Schaar uns trennen. Sie hat ihre Hauptaufgabe, die Alpenfahrt, glücklich vollbracht. Auf dem Heimwege, welcher zwei Tage in Anspruch nahm, konnte man, Dank der Sparsamkeit, welche bis dahin gewaltet, streckenweise den Luxus von Leiterwagen, der Eisenbahn von Bulle bis Freiburg, und zum Schluß den Genuß des Dampfschiffes von Murten bis Neuchatel sich gestatten.

Wer sich in der Noth oder der Hast des Lebens noch Herzensfrische genug bewahrt hat, um an dem heranwachsenden Geschlecht, an denen, welche dereinst unsern Platz einnehmen sollen, sich theilnehmend zu freuen, der wird mit uns solchen Schulfahrten eine höhere Bedeutung beilegen. Sie erfrischen Körper und Geist, sie entwickeln bei einfachster Lebensweise heitere Genügsamkeit, sie verlangen ein Vergessen seiner selbst im Dienste des Ganzen, sie wecken innige Freundesbündnisse in jungen Gemüthern, sie fördern die Kunst des Beobachtens und Findens, den freundlichen Anschluß des Schülers an den Lehrer, sie mehren die in der Schule und im Leben erworbenen Kenntnisse, sie veredeln die Liebe zur Heimath. Tausend wohlthätige Keime, welche auf einer solchen Fahrt in die angeregte, empfängliche Seele der Jugend fallen, sind bestimmt, dem Vaterlande dereinst goldene Früchte zu tragen.




An unsere Freunde!

Es ist uns eine große Freude, den Lesern der Gartenlaube heute schon die angenehme Mittheilung machen zu können, daß für den kommenden Jahrgang folgende ausgezeichnete Erzählungen zum Abdruck vorliegen:

Aus eigener Kraft. 0 Von Wilh. von Hillern, Verfasser des „Arztes der Seele“.

Der Fels der Ehrenlegion. 0 Von Berth. Auerbach.

Die Türken in Wien. 0 Geschichtliche Erzählung von Herm. Schmid.

Außerdem – und dies diene zugleich als Antwort auf die vielfachen Anfragen und die namentlich in süddeutschen Zeitungen verbreitete falsche Nachricht von dem jüngsterfolgten Tode unsrer verehrten Mitarbeiterin – dürfen wir jetzt schon den viele Freunden der Marlitt’schen Muse verrathen, daß

E. Marlitt

bereits seit einigen Wochen an einer neuen Erzählung arbeitet, die ebenfalls im Laufe des nächsten Jahrgangs zur Veröffentlichung kommen wird. Wenn wir zu den gefeierten Namen Marlitt, Berth. Auerbach, H. Schmid, W. von Hillern noch den des Paul Heyse hinzufügen, der uns gleichfalls eine Erzählung zugesagt, so glauben wir mit Stolz auf den novellistischen Theil des nächsten Jahrgangs hinweisen zu können. Ueber die sonstigen Beiträge später ein Mehreres. D. Redaction. 




Blätter und Blüthen.

Aus den Sonntagsbriefen eines Zeitgenossen. „... Frische Fische, gute Fische für Alle“ – so möchte ich meinen heutigen Sonntagsbrief überschreiben.

König Heinrich der Vierte von Frankreich wollte es dahin bringen, daß jeder Bauer Sonntags sein Huhn im Topf habe, es gelang nicht, der Bauer kommt nicht dazu, Hühnerfleisch zu essen, und im Sprüchwort heißt es: „Wenn der Bauer ein Huhn verspeist, ist entweder der Bauer krank, oder das Huhn.“ Die Hühnerzucht hat in unseren Tagen viele Fortschritte gemacht, aber ein allgemeiner billiger Nahrungsstoff ist dadurch doch nicht gewonnen worden.

Jetzt zeigt sich ein Anderes und das kann von großer Bedeutung werden, denn Freiheit, Bildung, Schönheit für Alle kann doch nur geschaffen werden, wenn der Hunger gestillt ist. „Es geht kein Tanz vor Essen“ – sagt wiederum das Sprüchwort.

In Berlin ist eine Einrichtung getroffen worden, daß an jedem Wochentage große Massen frischer Seefische verkauft werden und zwar das Pfund zu einen Silbergroschen. Da haben wir nun eine der schönen segensreichen Folgen der erleichterten Communication. Das Binnenland ist der See nahegerückt und es ist von unberechenbaren Folgen, daß es möglich ist, den an Nahrungsstoff so gehaltvollen Seefisch auch auf den Tisch des minder Bemittelten zu bringen.

Es wird nun die Aufgabe sein, weiter hinein im Vaterlande durch thätige Menschenfreunde oder durch Vereine Veranstaltungen zu treffen, daß während der kalten Jahreszeit auch dort der Seefisch zur allgemeinen Nahrung wird. Solche Einrichtungen sind mehr werth als alle noch so humanen Reden und bilden zugleich den wirksamsten und haltbarsten Gegensatz gegen die verführerischen Flausemachereien der sogenannten Socialdemokraten. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ gilt auch von den politischen Parteien.

Als ein Haupturheber der Berliner Einrichtung wird der Abgeordnete Georg von Bunsen genannt, der Sohn des berühmten Gelehrten und Staatsmannes, dessen Briefwechsel mit Humboldt vor Kurzem erschienen ist und tiefe Einblicke in unsere Zeitgeschichte bietet. Er ist auch einer der Mitbegründer des in Berlin so heilsam wirkenden Asyls für Obdachlose.



[802] Amerikanischer Eisenbahn-Comfort. Wie man der Gartenlaube aus San Francisco schreibt, wurde auf der jetzt bis Alameda, am andern Ufer der San Francisco-Bay, fertigen Pacific-Eisenbahn in den letzten Wochen die Einrichtung getroffen, daß zum Behufe eines schleunigen Verkehrs wöchentlich einmal ein Zug von San Francisco nach Omaha, und umgekehrt, fährt, welcher die ganze Strecke binnen achtundsiebenzig Stunden zurücklegt und während dieser Zeit nur anhält, um Feuerung und Wasser einzunehmen. Diese Züge, deren Fahrpreis um etwa dreißig Dollars höher ist, als der gewöhnliche, sind mit Wohn-, Schlaf- und Speisesalons versehen, von welchen letztern einer für neunzehn Personen Platz bietet, indem vier Tische für je vier, ein Tisch für je zwei und einer für eine Person aufgestellt sind. Hier werden die Mahlzeiten servirt, und zwar: das erste Frühstück von sieben bis neun Uhr zu einem Dollar, das zweite Frühstück à la carte und endlich das Mittagessen von fünf bis sieben Uhr für einen Dollar fünfzig Cents. Der übrige Theil des Speisewaggons ist für die Aufbewahrung der Eßwaaren und des Wasserreservoirs und für die Küche bestimmt. In einem andern Salon findet man zwei Melodions, Instrumente, welche die Mitte halten zwischen Clavier und Orgel, und hier bringt man den meisten Theil des Tages zu, indem man plaudert und musicirt. Die Schlafwagen sind von der Gartenlaube bereits geschildert worden. Das Innere aller dieser Waggons ist mit großer Pracht ausgestattet. Möbel aus schwarzem Wallnußholz und mit Sammt gepolstert, reiche Vergoldungen an den Wänden, flimmernde Spiegel. „Man wird,“ heißt es in dem Briefe an die Gartenlaube, „zwischen diesen Waggons und den elegantesten Hotels in Newyork, bezüglich der Ausstattung, kaum einen Unterschied finden; man reist mit dem bewunderungswürdigsten Comfort durch diese Wildniß, und es ist mir nur noch wie ein Traum, daß ich vor noch nicht einem Jahre zu der Tour von Omaha nach San Francisco mehr als elf Tage brauchte und dabei allen denkbaren Beschwerden, wie Hunger und Hitze, Kälte und Schnee, ausgesetzt war. Die ganze Tour von San Francisco bis Newyork nimmt mit diesem Zuge die Zeit von Montag Morgen bis Samstag Abend in Anspruch, und auf dieser ganzen Strecke von sechshundertfünfzig deutschen Meilen braucht der Reisende nur zweimal den Wagen zu wechseln, in Omaha und in Chicago! Mögen sich die deutschen Eisenbahnen ein Beispiel daran nehmen!“




Oberammergau. Aus officieller Quelle geht uns von Oberammergau die nachfolgende Mitteilung zur Veröffentlichung zu:

Ferne und abgeschlossen von dem Getümmel der Welt wird hier in aller Stille ein Werk vorbereitet, mit Recht geeignet, die Aufmerksamkeit des christlichen Volkes auf sich zu lenken.

Das Jahr 1870 legt nämlich der Gemeinde Oberammergau die fromme Verpflichtung auf, dem im Jahre 1633 von ihren Voreltern zur Abwendung der Pest abgelegten Gelöbnisse, die Leidensgeschichte Jesu alle zehn Jahre in dankbarer Verehrung und zur erbaulichen Betrachtung öffentlich vorzustellen, neuerdings nachzukommen. In diesem Sinne hat die Gemeinde schon Anfangs des heurigen Jahres um die Allerhöchste Genehmigung zur Aufführurg „des Passions“ nachgesucht und haben Se. Maj. der König unterm 14. April d. J., inhaltlich Allerhöchster Entschließung des Königl. Staatsministeriums des Innern, selbe allergnädigst zu ertheilen geruht.

Mit einem Eifer, der der Heiligkeit des Gegenstandes vollkommen angemessen, wurden die Vorbereitungen sofort in Angriff genommen und sind selbe zur Zeit bereits so weit vorgeschritten, daß der Zuschauerraum von circa 15,000 Quadratfuß, von welchem die Hälfte mit guter Bedachung versehen ist, nahezu vollendet ist – Ebenso ist man zur Zeit vollauf mit Herstellung, beziehungsweise Renovation der Decorationen etc. beschäftigt, und dürften die Oberammergauer hierdurch den Beweis liefern, wie sehr ihnen daran liegt, das Vermächtniß ihrer Väter zur Ehre Gottes und zu Nutz und Frommen ihrer Mitmenschen in würdiger Weise zur Darstellung zu bringen, und daß dieselben weder Zeit noch Opfer scheuen, diesen schönen Zweck zu erreichen.

Gott gebe seinen Segen dazu!




Ein ebenbürtiger Rival. Ein solcher ist den beliebten und mit Recht weitverbreiteten „Münchener Bilderbogen“ von Braun und Schneider erstanden in den „Deutschen Bilderbogen“, die im Verlag von Gustav Weise in Stuttgart erscheinen. Es ist offenbar der Verlagshandlung Ernst, nur Tüchtiges in gutem Holzschnitt mit diesen wohlfeilen Bildern auf den literarisch-artistischen Markt zu bringen, denn von den besten und renommirtesten Zeichnern Deutschlands ist in der Reihe der Mitarbeiter dieser Deutschen Bilderbogen kaum ein Name zu vermissen. Wir dürfen nur rasch einen Stoß dieser Bilder durchblättern, so fallen uns Namen wie W. Camphausen, Deiker, C. E. Böttcher, Ad. Menzel, Lor. Ritter, Schmitz, Offterdinger, C. Beckmann, Rob. Kretschmar, Aug. Beck, A. Schrödter, Hiddemann, Th. Hosemann, F. Specht, O. Pletsch, R. Jordan, Simmler, Rothbart, H. Scherenberg, C. Reinhardt etc. in die Augen. Ein mit so redlichem Willen, in die Volkskreise Bilder nur von wirklichem Kunstwerth zu bringen, geleitetes Unternehmen verdient um so mehr Empfehlung, als auch für die Wahl der Gegenstände das Feld dadurch in’s Unermeßliche erweitert ist, daß diese Blätter sich nicht auf komische, humoristische und dem Kinder- und Volksleben entnommene Stoffe beschränken, sondern ebenso frei in Geschichte, Sage, Literatur greifen und selbst architektonische und naturgeschichtliche Bilder ihrem Zweck, der Bildung und Erheiterung des Volks, entsprechend darstellen. Ausstattung und Preis treten ebenfalls der Verbreitung dieser Bilderbogen nicht störend entgegen.




Auerbach’s „Barfüßele“ liegt nun complet vor und ist damit ein Werk vollendet, welches der deutschen Poesie und der deutschen Kunst immer zur Zierde gereichen wird. Wir erfüllen einen vielfach laut gewordenen Wunsch, indem wir in der heutigen Nummer der Gartenlaube abermals eine der vortrefflichen Illustrationen Vautier’s zum Abdruck bringen, gewiß, daß dieses heute schon in Tausenden von Exemplaren verbreitete Prachtbuch Jedem, der es als Gabe auf den Weihnachtstisch der Familie zu legen gedenkt, Dank und Ehre einbringen wird.




Für die Hinterbliebenen der im Plauenschen Grunde Verunglückten ist wieder an Beiträgen die Summe von 1303 Thlr. 27 Ngr. eingegangen, und namentlich sind es unsere Landsleute im Auslande, denen wir den größern Theil dieser reichen Spende zu verdanken haben. Specielle Quittung erfolgt in einer der nächsten Nummern. Indem wir hiermit nun unsere Sammlung als geschlossen betrachten, bemerken wir, daß dieselbe im Ganzen die Summe von 6395 Thlr. 12 Ngr. 7 Pf. ergeben hat.


Als Weihnachtsgeschenke empfohlen!

Auerbach, Barfüßele. Mit 75 Illustrationen von Vautier. ungeb. 2 Thlr., geb. 2 Thlr. 25 Ngr.

Bock, Buch vom gesunden und kranken Menschen. 8. Aufl. broch. 1 Thlr. 27½ Ngr., geb. 2 Thlr. 5 Ngr.

Gartenlaube, 1859. 1860. 1862 bis 1868. broch. à 2 Thlr., eleg. geb. in gepr. Decke à 22/3 Thlr.

Glaßbrenner, Adolf, Neuer Reineke Fuchs. Vierte, verbesserte Ausgabe. broch. 1 Thlr.

Marlitt, Gold-Else. 5. Aufl. ungeb. 1 Thlr., geb. 1 Thlr. 8 Ngr.

Marlitt, Das Geheimniß der alten Mamsell. 4. Aufl. ungeb. 2 Thlr., geb. 2 Thlr. 10 Ngr.

Marlitt, Thüringer Erzählungen. 1 Thlr. 15 Ngr.

Prutz, Rob., Buch der Liebe. eleg. geb. 1 Thlr. 15 Ngr.

Schefer, Leopold, Für Haus und Herz. Hinterlassene Gedichte. Herausgegeben von Rud. Gottschall. Eleg. geb. 1 Thlr. 27 Ngr.

Stolle, ausgewählte Schriften. Volks- und Familienausgabe. 30 Bände. Zweite Auflage. broch. à Band 7½ Ngr.

Storch, Gedichte. eleg. cart. 1 Thlr. 6 Ngr., prachtvoll geb. mit Goldschnitt 1 Thlr. 15 Ngr.

Storch, ausgewählte Romane und Erzählungen. Volks- und Familienausgabe. 31 Bde. broch à Bd. 7½ Ngr.

Traeger, Gedichte. Siebente, sehr vermehrte Auflage. Prachtvoll geb. mit Goldschnitt 1½ Thlr.

Wislicenus, Gustav Adolph, die Bibel. Für denkende Leser betrachtet. broch. 23/4 Thlr.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Der citirte Ausspruch Angelika Catalani’s lautet verbotenus: „Ihr Genre ist nicht das größeste, aber sie die Größte in ihrem Genre!“ – und die Catalani that ihn, wenn ich nicht sehr irre, im Jahre 1827 – in Berlin im Hause Herz Beer’s (des Vaters Michel’s und Giacomo’s), bei einem Diner, an dessen Tafelrunde außer ihr und der Sontag auch noch Sophie Müller, Alexander von Humboldt, August Wilhelm von Schlegel, Gans, Hegel, Varnhagen, Ludwig Robert und andere mehr und minder berühmte künstlerische und literarische Notabilitäten saßen. Die Catalani, derzeit freilich schon ein wenig „antiquirt“, aber noch immer „groß“, konnte damals, als sie jenen – besonders in der Version, wie ich ihn oben citirt, zum geflügelten Wort gewordenen – Ausspruch über die Sontag abgab, allerdings noch nicht wissen, daß diese, die bis jetzt nur in Opern wie „Italienerin in Algier“, „Cosa rara“, „Schnee“ und anderen desselben leichten Genres die Hörer entzückt hatte, kaum zwei oder vier Jahre später durch ihre Leistungen als „Semiramis“, „Desdemona“, „Donna Anna“ etc. beweisen würde, daß sie auch im größten Genre zu herrschen nicht blos berufen, sondern auch auserwählt sei.
  2. Wir erinnern uns, daß Anfang der vierziger Jahre diese Episode aus dem Leben der Schriftstellerin in anderer Weise dargestellt wurde. Henriette Hanke, zurückgeschreckt von der Antipathie ihres Mannes gegen alles Schriftstellern der Frauen, hatte das Manuscript allerdings heimlich auf dem Vorrathsboden geschrieben, aber nicht dem Gatten, sondern direct einem Verlagsbuchhändler vorgelegt, der dasselbe auch gegen ein sehr geringes Honorar zum Druck übernahm. Das Buch erschien selbstverständlich ohne den Namen der Verfasserin und nur mit der Bezeichuung „von einer Frau“. – Die Frau Pastorin empfing durch dritte Hand ihr Freiexemplar und legte dies unter Zittern und Bangen als das Erstlingsproduct einer Freundin dem gestrengen Gatten mit der Bitte vor, es zu lesen und ihr sein Urtheil darüber zu sagen. Verdrießlich wollte der Pastor das Gesuch ablehnen, aber Henriette bat so dringend und wußte im Interesse ihrer Freundin so viel Gründe aufzuführen, daß der Feind aller Frauenschriftstellerei endlich einwilligte und sich in sein Zimmer zurückzog. Mit welchen Gefühlen und bangen Zweifeln indeß die wahre Verfasserin an ihrem Arbeitstisch saß und auf das Erscheinen des Richters über Leben und Tod ihres ersten literarischen Kindes wartete, kann man sich denken. Endlich erschien er – mit freudestrahlenden Blicken. „Siehst Du, Henriette,“ rief er ihr entgegen, „wenn Du ein Buch wie dieses schreiben könntest, wie Deine Freundin, ich würde Dir mit Vergnügen die Erlaubniß zur Schriftstellerei geben. Das ist eine ganz vortreffliche Erzählung, die ich Dir und allen Frauen dringend anempfehle.“ Da stand die hocherröthende Frau still auf, legte ihren Arm um den Nacken des geliebten Gatten und unter Thränen glücklich lächelnd sagte sie: „Die Freundin heißt Henriette Hanke und ist Dein glückliches Weib.“ Der Gatte soll auch die heimliche Schriftstellerin nicht ausgezankt, aber herzig geküßt haben.
    D. Red.“