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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[585] No. 38.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der Dommeister von Regensburg.
Geschichtliche Erzählung von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


Indessen hatte Loy die Gelegenheit wahrgenommen, da die Aufmerksamkeit durch andere Dinge von ihm abgelenkt war, und hatte sich seitwärts in’s Dunkel der Häuser gedrückt; es drängte ihn, zum Dome zu eilen und Nachsicht zu pflegen in der seiner Obhut übertragenen Bauhütte. „Ein alter Spruch, ein wahrer Spruch,“ murmelte er in sich hinein, „wenn die Gemein’ unsinnig wird, läuft sie an den Wänden hinauf … aber das Mitlaufenmüssen, das hat seinen Haken! Wie gut, daß ich gleich im ersten Augenblick vorgesorgt habe; die Fluth steigt immer höher und hat leichtlich Alles überschwemmt, noch ehe das Wölflein wiederkommt mit Kaisers Bescheid …“

In diesen Gedanken ward er durch eine zarte Hand unterbrochen, welche sich ihm aus dem Dunkel auf seinen Arm legte, und eine weiche Stimme flüsterte: „Seid Ihr es nicht, Herr, der gestern Nachts mit Meister Roritzer ging?“

Ein Jüngling, kaum den Knabenjahren entwachsen, stand vor ihm, in ein dunkles Wamms gehüllt, das Angesicht halb in dem umgeschlagenen Mantel verbergend.

„He, Bürschlein,“ rief Loy verwundert, „ich kenne Dich nicht. Was rufst Du mich hier an und fragst nach Meister Roritzer? Wohl bin ich sein Freund und wenn’s gilt, bin ich nie weit von dem Orte, wo er ist. Wo soll ich mit dem Dommeister gewesen sein? Was suchst Du bei ihm? Wer bist Du?“

„Gleichviel, Herr … fragt mich nicht,“ war die leise und hastige Antwort; „so Ihr der seid, den ich vermeine, sagt an, wo der Meister jetzt verweilt? Ob es nicht möglich ist, ihm Kundschaft zu bringen?“

„Du scheinst doch ein Regensburger Stadtkind zu sein,“ entgegnete Loy und maß seinen Mann trotz des Dunkels mit scharfen Augen, „und weißt nicht, daß der Dommeister fortgeritten ist an den Kaiserhof? Der muß wohl schon über Straubing hinaus sein, den holt keine Kundschaft ein, wenn nicht ein geflügelter Bote sie trägt … hoffentlich,“ brummte er für sich in den Bart, „hat ihn der meine längst erreicht …“

„Nun denn, wenn Ihr sein Freund seid, so hört mich für ihn …“ er zog ihn etwas bei Seite, ein Strahl des aus Wolken brechenden Mondes huschte über sein Gesicht.

„Wie ist mir denn?“ tief der Bildschnitzer. „Wo hab’ ich meine Augen gehabt? O, jetzt weiß ich, warum mir diese Züge so bekannt vorkamen … hab’ ich Euch doch erst heut’, diesen Morgen noch gesehen in des Dommeisters Stube …“

„Ihr träumt, Herr …“ stammelte der Jüngling; die Nacht verbarg das heiße Roth, das ihn überflog.

„Ist sonst bei offenen Augen nicht Brauch bei mir,“ erwiderte Loy. „Wohl hab’ ich Euch dort gesehen, freilich nicht Euch selbst, aber Euer Conterfei, Euer Bildniß … auf einem Altar sah ich Euch stehen, als Engel der Liebe, und ich weiß nicht … mir ist, als wär’s nicht viel anders, und Ihr steht jetzt wieder so vor mir …“

„Um aller Heiligen willen, wenn Ihr mich denn kennt, verrathet mich nicht …“

„Aber was führt Euch hieher? In diesem Gewand? In dieser wilden Nacht?“

„… Ihr wart gestern zur Seite des Dommeisters … vergeßt Ihr, daß ich ihm Bürge geworden bin?“

„Ei wohl, daß Euer Großvater Regensburg nicht verlassen soll; das ist vorbei, der ist in sicherem Gewahrsam.“

„Dennoch, Herr, ich will mein Wort einlösen … fragt mich nicht um mehr! Ich weiß nichts Bestimmtes … erfahrt nur so viel, der Stadt droht eine große Gefahr …“

„Aber welche?“

„Auch das weiß ich nicht … laßt es Euch genug sein und wahret die Stadt!“

„Und Ihr warnt uns? Des hochmüthigen, adelsstolzen Kammerers Enkeltöchterlein warnt die Bürger, die gegen ihn aufgestanden? Eine so reine Hand greift nach unserm Banner … ein so edel Herz schlägt für unsere Sache? Nun, bei meiner armen Seele, da muß es doch so gar schlecht mit uns nicht bestellt sein, da fängt es beinahe an, mir zu gefallen …“

„Laßt mich jetzt, Herr, ich muß fort; man schaut nach uns.“

Margarethe wollte enteilen, aber der Tuchscheerer vertrat ihr den Weg; er hatte noch von vorhin etwas auf dem Kerbholze gegen den Meister; er hatte ihn vermißt, gab das Rugbuch, dessen gleichförmiger Inhalt schon die Hörer zu ermüden begann, einem Nachbar hinüber und schlich hinzu, seinem Grolle Luft zu machen. „Ei, seht doch unsren lustigen Meister Bildschnitzer!“ rief er höhnisch. „Was pflegt Ihr hier für heimlicher Zwiesprach? Im Dunkeln ist gut munkeln, nicht wahr? Wer ist das Bürschlein?“

„Kümmert Euch um Euere eignen Sachen, Meister, „erwiderte Loy überrascht, „es ist meiner Schwester Kind, das mir eine Botschaft gebracht …“

„So? Eurer Schwester Kind?“ drängte Rauhenfelser weiter, „ei seht doch … meint Ihr, ich sei ein Regensburger Bürger und wisse nicht um eines Jeden Freundschaft und Sippe? Ihr habt nicht Kind noch Kegel, weder Schwester noch Schwesterkind … und ich meine immer, der Bube kommt mir verdächtig vor! [586] Ich will meiner Lebtag selbst einen Weiberrock tragen, wenn das nicht ein verkleidet Dirnlein ist!“

Loy brach in ein Lachen aus, dem man deutlich anhörte, wie wenig es ihm gegen sonst vom Herzen ging. „Und wenn es so wäre, ging es Euch an, Meister Wollkrempler? Wenn ich nun dächte … ‚Immergrün das ganze Jahr, Schätzel noch im grauen Haar!‘ … wolltet Ihr mir’s wehren?“

„Fällt mir nicht ein, Herr, „entgegnete der Tuchscheerer, „aber Ihr werdet auch mir nicht wehren, mir das Schätzel näher anzuschauen … möcht’ Euren Geschmack kennen lernen, Herr …“

Er versuchte, Margarethe mit kräftiger Hand zu fassen und an’s Licht zu ziehen; sie sträubte sich, und mit mehr Kraft, als von dem Alten zu erwarten war, stieß Loy den Zudringlichen hinweg. „Zurück!“ rief er, „ich war eben daran, Euch die Botschaft zu sagen, die dies Mädchen mir gebracht, aber ich lasse mich nicht in’s Verhör nehmen und ausfragen von jedem unsaubern Gesellen, als stünd’ ich vor dem Halsgericht! Darum allein hab’ ich auf Euere Frage Euch nicht gleich die Wahrheit gesagt … es ist Lyskirchner’s, des Stadtkammerers Töchterlein, das sich in dieser Mummerei hierher gewagt und mich aufgesucht …“

„Die Lyskirchnerin?“ riefen neugierige Stimmen von allen Seiten. „Was will die hier? Bei Euch und vermummt?“

„Könnt Ihr das noch lange fragen? Ist es nicht genug, daß es die Tochter ist? Was kann sie suchen, als ihren gefangenen Vater?“

„Da ist nichts zu suchen, war sie doch in Weiberkleidern schon ein paar Mal da, aber sie ward nicht hineingelassen; es thut nicht noth, daß sie ihm Nachricht zubringt oder von ihm hinwegträgt!“

„Das kann Euer Ernst nicht sein, Bürger!“ rief Loy, dem jeder Ausweg willkommen schien, ohne den leisen Händedruck Margarethens zu beachten, mit dem sie ihn zurückhalten wollte. „Seid Ihr nicht auch Väter und habt Kinder, von denen Ihr einmal wollt, daß sie an Euch handeln sollen wie Kinder? Wie, wenn sich’s umgekehrt geschickt hätte, wenn Ihr in Banden läget, würd’ es Euch gefallen, wenn Euere Töchter und Söhne sich nicht um Euch kümmerten? Was würdet Ihr sagen, wenn man sie von Euerer Schwelle stieße, wie Ihr diese hinwegstoßen wollt?“

„Das ist wahr! Der Meister hat Recht!“ riefen mehrere Stimmen. „Man soll uns nicht nachsagen, daß wir Unmenschen sind, die kein Herz im Leibe haben! Die Lyskirchnerin soll zu ihrem Vater; kommt, Fräulein, kommt, wir führen Euch zu ihm …“

„Nein, nein … jetzt nicht!“ rief Margarethe ängstlich, „jetzt bin ich nicht vorbereitet …“

„Ei, habt keine Sorge, Jüngferlein,“ sagte der Schneider und nahm sie treuherzig bei der Hand. „Kommt mit mir, ich thu’ Euch nichts zu Leid, hab’ ja auch einen Vater gehabt und habe einen Buben, an dem ich Freud’ erleben möcht’! Kommt nur, braucht Euch nicht zu entsetzen, wir sind keine Wilden, die einen Feind in’s tiefste Verließ werfen zu den Vipern und Ottern; der Stadtkammerer hat ein ganz feines Gefängniß …“

„Weh’ mir!“ seufzte sie in sich hinein, während sie von der stürmischen Schaar fortgedrängt wurde, „ich löse dem Freunde das gegebene Wort und willenlos werd’ ich vielleicht am Vater zur Verrätherin …“

Sie verschwanden im Rathhause. Die beim Feuer als Wächter Zurückbleibenden hatten aber kaum die alten Plätze wieder eingenommen und bei Faß und Krug Nachsicht gepflogen, als von oben her wildes Lärmen und Rufen ertönte. „Holla, was giebt’s da?“ rief es durcheinander; als Antwort flog oben ein hastig geöffneter Fensterflügel an die Wand und eine gellende Stimme schrie durch die Nacht: „Verrath, Verrath! Bürger heraus! Der Stadtkammerer, unser Todfeind, ist entflohen! Sicher ist er hinaus und sucht nach Stauf zu kommen und uns die bairischen Mordbrenner auf den Hals zu rufen! Bürger heraus! Schickt nach den Thoren! Lauft auf die Mauern! Spürt in allen Winkeln, vielleicht ist er noch in der Stadt, vielleicht ist er noch aufzuhalten!“ Wuthgeheul antwortete dem Ruf; Waffen klirrten darein; nach allen Seiten stob es drohend auseinander und bald verkündeten einzelne dröhnende, sich immer schneller folgende Schläge, daß auch die Glocken ihre ehernen Zungen leihen mußten, das Unheil auszurufen, das über Regensburg hereingebrochen!

Wenige Augenblicke später kamen die Männer vom Rathhause zurück, in ihrer Mitte den Barchentweber, Meister Loy und Margarethe mit sich schleppend und auf sie hineinbrüllend, daß sie es gewesen, die ein heimlich verrätherisches Spiel getrieben und dem Verhaßten zu Flucht und Freiheit verholfen. Am schlimmsten ging es dem Weber, der angstvoll, und ohne die Hände von seinem inhaltschweren Gürtel zu lassen, sich unter den Fauststößen seiner Dränger wand. „Gesteh’, was gethan, Du Hund!“ schrieen sie, „wie hat er entkommen können, wenn Du Deine Schuldigkeit als Wächter gethan? Du hast ihm durchgeholfen!“

„Heiliges Blut von Neumarkt!“ wimmerte der halb Erwürgte. „Ich weiß von nichts! Ich bin ihm nicht von der Seite gewichen, aber er muß ein Hexenmeister und durch die Luft verschwunden sein, zur Thür hinaus konnt’ er nicht!“

„Warum konnt’ er nicht?“ rief zürnend der Schmied. „Ihr habt Wein gesoffen, bis Ihr eingeschlafen seid; das ist das ganze Geheimniß!“

„O Gott, o Gott!“ jammerte Hetzer wieder, „ich will in meinem Leben nie mehr Geld haben, als ich jetzt an mir trage, wenn ich nicht treulich gewacht habe! Habt Ihr den Wasserkrug nicht gesehen? Waren nicht Stiegen und Gänge auch besetzt? Und bin ich denn allein gewesen? Fragt einmal Euere Gesellen, ob wir nicht tapfer gewacht haben?“

Die Gesellen zauderten natürlich keinen Augenblick, ihm beizustimmen, und wenn er das tollste Märlein erzählt hätte, sie hätten es als wahr bestätigt, aus Furcht, daß die Wahrheit an’s Licht kommen möchte.

Der Bildschnitzer mengte sich endlich darein; ihm lag daran, das an seinem Arm sich nur mühsam aufrecht haltende Mädchen dem betäubenden Lärm und Gewühl zu entziehn. „Was plärrt Ihr durcheinander, wie die Narren im Mummenschanz?“ rief er überlaut. „Der Fuchs ist aus dem Bau; wollt’ Ihr wie die Schildbürger streiten, durch welches Loch er entwischt ist? Sucht lieber draußen, wohin er sich gewendet haben mag! Thut Euere Schuldigkeit und zeigt, daß der Dommeister nicht einen Haufen blöder Kinder vor sich hatte, als er von Euch sich das Wohl der Stadt geloben ließ! Fort, Jeder auf seinen Posten … den linken Schächer aber da, den Ihr zum Sündenbock machen möchtet, den laßt laufen!“

Damit schwenkte er den Barchentweber herum; der Knirps ließ sich die Gelegenheit nicht zwei Mal bieten und verschwand in der Menge, wie die Grundel, die sich im Schlamm einbohrt.

„Oho!“ rief nun der Schmied, „wer erlaubt Euch, uns zu meistern? Wollt Ihr mehr sein als wir, weil Ihr Euch herausnehmt, uns zu befehlen?“

„Recht, Gevatter,“ schrie der Tuchscheerer darein; „was braucht er uns den Dommeister aufzumutzen? Wir wissen selber, was wir zu thun haben, und wenn wir uns einen Anführer gewählt haben, können wir ihn auch wieder absetzen!“

„Eh’ Ihr uns befehlen wollt,“ schrie ein Dritter, „rechtfertigt Euch erst selber, daß Ihr kein Verräther seid! Zeigt erst, daß Ihr nicht mitgeholfen habt bei der Flucht! Haben wir Euch nicht ertappt, wie Ihr geheime Zwiesprach gepflogen mit der verkleideten Dirne?“

„Laßt mich nur erst das Fräulein in Sicherheit haben!“ rief Loy den auf ihn Andringenden entgegen. „Glaubt nicht, daß ich mich vor Euch fürchte und wenn Ihr Euch noch so bärbeißig anstellt! Bin ich erst allein, dann sollt Ihr die Antwort haben, wie sich’s ziemt, bis dahin aber zurück! Wer das Mädchen nur mit einer Fingerspitze berührt, dem bohr’ ich mein Schnitzmesser in den Leib!“

Loy’s feste und drohende Haltung verfehlte den Eindruck nicht; doch wäre dieser wohl kaum ergiebig genug gewesen, die Menge lang zurückzudrängen, hätte nicht neuer verstärkter Lärm verkündigt, daß ein neues Ereigniß eingetreten, wohl geeignet das Vorhergegangene vergessen zu machen. Darüber gelang es Loy, Margarethen den Händen einiger Weiber zu übergeben, welche mitleidige Neugier aus einem Hause hervorgelockt hatte; Alles wogte in der Richtung gegen die zur Donaubrücke führende Straße hin, von wo ein wüster Haufe in rasendem Knäuel sich heranwälzte.

In Mitte der bewaffneten Werkgenossen ward ein Mann herangeschleppt, kaum vermögend sich aufrecht zu halten, mit triefendem Gewand; ein breiter Blutstreifen lief unter dem weißen Haare hervor über Stirn und Antlitz nieder …

[587] Loy eilte entgegen … auch Margarethe, von schrecklicher Ahnung aus halber Bewußtlosigkeit aufgeschreckt, entriß sich den Armen ihrer Hüterinnen und kam eben hinzu, als die Schaar mit ihrem Gefangenen den Feuerplatz erreichte …

In einem Augenblick hatte sie mit übermenschlicher Kraft das Gedränge durchbrochen, im nächsten stürzte sie mit wildem Aufschrei zu des Mannes Füßen.

Der Blutende richtete sich zur ganzen Höhe seiner Gestalt empor: er war der Alte, ungebrochen an Körper und Geist. „Du hier?“ rief er mit wild ausbrechendem Grimm. „O, nun wird mir Alles klar! Also bis dahin ist es mit Dir gekommen …“

„Nein, Großvater!“ rief sie wie außer sich und suchte seine Hand zu fassen, die er ihr stets entzog, „beim Heil meiner Seele, ich habe nicht gethan, was Du denkst …“

„Hinweg von mir, Entartete!“ entgegnete Lyskirchner, indem er sie von sich drängte und sich zu den Bürgern wendete. „Bringt mich in den Kerker, thut mit mir wie Ihr Macht habt über einen Gefangenen, aber schützt mich vor diesem Weibe, wahrt mich vor der Schlange, die ich mir selbst am Herzen erzogen… Meinen grimmigsten Fluch über Dich, Verrätherin!“

„Was soll das heißen?“ schrie Schuster Hörhamer entgegen, indeß Margarethe mit einem Kreischen des Jammers und der Verzweiflung zu Boden sank. „Wenn hier von Verrath die Rede ist, ist Niemand der Verräther, als Ihr selbst. Habt Ihr nicht Söldner geworben, die Stadt zu überfallen, während Ihr uns mit friedlicher Unterhandlung genarrt? Seid Ihr nicht aus Eurem Gewahrsam entflohen und wolltet hinaus, um den Ueberfall jetzt noch auszuführen? Warum seid Ihr in den Windfangbach hinabgestiegen und in dem Canal hinausgewatet bis unter die Mauer? Haben wir Euch nicht ergriffen, wie Ihr eben den Nachen losmachen wolltet, um nach Stauf hinabzufahren und uns die Mordbrenner über den Hals zu schicken?“

„Und bildet Ihr Euch vielleicht ein,“ erwiderte Lyskirchner stolz, „ich werde leugnen, was ich gewollt und gethan? Es war nur, was mir Recht und Pflicht gebot, dem Aufruhr gegenüber, zu dem Ihr Verblendeten Euch hinreißen ließt, zum Untergange der Stadt und Eurem eigenen Verderben! Ich bereue, ich beklage nichts, als daß mein Vorhaben nicht gelang … Ihr Alle …“

„Ein unheimlicher, dröhnender Schall, wie der Ruf eines Feuerhorns, dröhnte durch die Nacht und unterbrach ihn; Alles stand und lauschte in die Nacht empor. „Der Thürmer ruft an,“ flüsterte es ahnungsvoll und hohle, dumpfe Worte schallten langsam in gezogenen Tönen hernieder. „Fackeln am Thor!“ klang es. „Ein Trupp Reiter jagt heran!“

„Sie sind’s! Die bairischen Mordknechte kommen!“ schrie Alles und rannte in wilder Hast, wüthend und doch angstvoll durcheinander.

„O, daß es wäre!“ rief Lyskirchner und hob die Arme hoch in die nächtliche Finsterniß. „Wenn du meine Rache übernommen hättest, o Himmel … nur so lange halte meine sinkende Kraft empor!“

„Nein,“ rief der Schuster wüthend, „Du wenigstens sollst den Triumph nicht erleben! Nieder mit Dir…“ Damit sauste seine Hellebarde durch die Luft und der breite, beilartige Theil derselben schmetterte auf das schutzlose Haupt des Kämmerers hernieder; der Getroffene wankte, sein trotziger Wille schien einen Augenblick sich selbst gegen den Tod wehren zu wollen, der durch die breit klaffende Wunde eindrang; dann stürzte er mit voller Wucht zusammen, über ihn Margarethe, in herzzerreißendem Jammer, mit schwindenden Sinnen.

– Der verhängnißvolle Schlag war kaum gefallen, noch stand das Volk und hatte kaum erfaßt, was geschehen, als abermals Rufen ertönte, dazwischen der wechselnde Hufschlag heranstürmender Pferde. Bis auf wenige der Beherztesten drängte Alles zur Seite, aus Furcht vor den bairischen Reitern, die man eingedrungen glaubte.

Es war Wolf Roritzer, der Dommeister, der mit einigen Begleitern heransprengte und sich von seinem schaumbedeckten Thiere warf; der erste Blick ließ ihn überschauen, was geschehen war. „Weh’ mir!“ rief er, „also doch vergeblich, dennoch zu spät! Verblendete, welcher Wahnsinn hat Euch erfaßt! Während Ihr mich auf dem Wege zum Kaiser wißt, taucht Ihr Eure Hände in Blut! Habt Ihr mir nicht Ruhe gelobt? Habt Ihr mir nicht feierlich zugesagt, daß Niemandem auch nur ein Haar gekrümmt werden solle?“

Der Rausch in den Köpfen begann bei dem Anblick des Todten zu verfliegen, die Erregung ermattete. „Wir können nichts dafür,“ sagte kleinlaut Rauhenfelser, „der Kammerer war aus dem Gewahrsam entflohen; wir glaubten, die Baiern. seien schon in der Stadt …“

„Loy, Du hier?“ unterbrach Roritzer mit freudig-schmerzlichem Ausrufe und zog ihn an seine Brust. „… So müssen wir uns wiedersehen, alter Freund? Aber Dank für Deine Fürsorge, auch wenn sie vergeblich war! … Du weißt, wie Doctor Stabius mir selbst sich zum Begleiter angetragen und mir sein Fürwort anbot bei Kaisers Majestät, aber der alte Mann, des scharfen Reitens nicht gewohnt, erkrankte uns, wie wir in die Richtung von Pfatter kamen… Drüber ward ein ziemlicher Aufenthalt, konnt’ ich ihn doch nicht so zurücklassen und wollte seiner in Augsburg nicht entbehren; so geschah’s, daß Dein Bote mich noch einholte… Ich brach augenblicklich auf, aber ein böses Geschick vereitelte meinen redlichen Willen, wie Deine gute Absicht! … Wilder, trotziger Greis,“ fuhr er fort und trat näher an die Leiche des Kammerers. „Du selbst hast es auf Dich herabbeschworen, dieses böse Geschick! … Nicht also hab’ ich mir die Zukunft gedacht, wahrlich nicht also war es, wie ich den Ausgang träumte; andere Bilder schwebten vor meiner ahnenden Seele, schöne Träume von Frieden, Versöhnung, Glück … sie fließen mit Deinem unaufhaltsam rinnenden Blute dahin… Und wer ist es, der so über dem Todten trauert? Wessen Gemüth ist so reich, daß es so viel Liebe übrig hat für diesen starren, unbeugsamen Mann? …“

Er blickte näher hin, ein schwacher Schrei drängte sich über seine Lippen, er taumelte einen Schritt zurück in Loy’s Arme …

Wenige Worte genügten, das Geschehene zu erklären.

„Hast Du es so treu gemeint mit dem Wort, das Du mir gegeben?“ sagte Roritzer mit leiser, vor Rührung bebender Stimme. „So hat mein Gefühl mich nicht betrogen … auch Dir ist die Stunde unseres Begegnens zur Grenze geworden, an welcher weit zurück das Leben mit Allem, was vergangen war, versinkt, verweht wie ein Traum, aus dem man erwachend emporfährt und vor welcher weit und leuchtend dahingebreitet ein Paradies emporsteigt im Morgenstrahl? … O, welche reiche Saat von Freude liegt hier zerschmettert … ein Eden von Blumen ist verwelkt und zerstört … Sie regt sich, Freund! Laß sie hinwegbringen, ich folge Dir … ihre wieder sich öffnenden Blicke sollen diesem Bilde des Schreckens nicht mehr begegnen …“

Niemand rührte sich, in lautlosem Ring stand die erst so aufgeregte Menge und ließ Loy gewähren; als Roritzer ihm schweigend folgen wollte, trat ihm der Schmied ehrerbietig in den Weg.

„Sagt nun an, Herr, was geschehen soll,“ sprach er mit gesenktem Tone; „wir warten der Befehle unsers Anführers …“

„Eures Anführers?“ rief Roritzer, indem er sich umwandte und dem Fragenden voll Hoheit entgegentrat. „Wer ist so kühn, Wolf Roritzer, den Dommeister, an dieser Stelle noch mit diesem Namen zu rufen? Ich habe mich Männern zugesagt, besonnenen Bürgern, die gelassen einstehen mit ihrer ganzen Kraft für ihr Recht und ihre Freiheit. Ihr seid, wofür ich Euch anfangs gehalten, meuterisches Gesindel, das im Weine seinen Sinn ertränkt, das aus dem Aufruhr ein Geschäft macht; sucht Euch unter Räubern den Anführer, der zu Euch gehört! Ich sage mich los von Euch … feierlich hebe ich meine Hand zum Schwure auf in den nächtlichen Himmel und sage, daß ich keinen Theil habe an diesem Blute, keinen an Euch… Mein einzig Streben soll sein, Euch zu vergessen, mein ärgster Feind soll heißen, der mich daran mahnt, daß ich jemals Euch angehört!“

Dumpfes Gemurre antwortete. „Das könnt Ihr nicht,“ hieß es, „Ihr habt Euch uns zugesagt, Ihr müßt den Vertrag halten …“

„Vertrag?“ rief Roritzer aufflammend. „Vertrag mit Euch? Hier liegt er zerrissen zu Euren Füßen und wenn seine Buchstaben glühend stünden, wie Flammenschrift der Hölle, dies Blut hat sie ausgelöscht! … Euer Recht habt Ihr zu suchen begehrt? Eure Freiheit? Unselige, hier vor Euch liegt der Beweis, wie sehr wohl Jene gethan, die Euch Beides vorenthielten … Ihr seid reißendes, wildes Gethier, das nur Käfig und Kette bändigt, Ihr wißt die Freiheit nicht anders zu nützen, als zu Raub und Mord! Ihr selber habt den Vertrag, das feierliche Gelöbniß gebrochen, [588] an das Ihr mich mahnt. Ihr selber habt mich freigegeben, wir sind geschieden für immer!“

Er eilte hinweg, die verblüfften Bürger wehrten ihm nicht.

Bald hatte er Loy eingeholt, der mit Hülfe von Roritzer’s Begleitern Margarethen zum väterlichen Hause brachte. An der Schwelle, wo die alte Diemuth sie empfing, kehrte ihr die Besinnung wieder. Sie richtete sich auf, sah mit klaren, fragenden Augen um sich, ihr erster Blick fiel auf den Dommeister; wie am Abend der ersten Begegnung und doch so furchtbar anders standen sie sich gegenüber. Dann raffte sie sich rasch zusammen und wandte sich schweigend der Thür zu.

Roritzer wollte folgen, ein gebieterischer Wink fesselte seinen Schritt.

„Ihr weist mich zurück?“ fragte er leise und innig. „Ihr selbst verbietet mir, diese Schwelle mit Euch zu überschreiten?“

„Seht Ihr nicht, wessen Blut sie befleckt?“ fragte sie düster.

„Mag es um Rache rufen über den, der es vergoß!“ rief Roritzer feurig näher tretend. „Uns trifft keine Schuld, unsere Hände sind rein davon, wie unsere Herzen.“

„Keine Schuld?“ entgegnete sie und noch ernster umflorte sich ihr Blick. „Wer darf so kühn sein, die Hand auf’s Herz zu legen und zu sagen: ich habe keinen Theil daran? Gott allein ist Richter über uns, er wägt den Gedanken wie die That… Hier trennen sich unsere Wege, diese Schwelle scheidet uns!“

„Und sie war es, die uns zusammengeführt,“ rief Roritzer.

„O, daß es so kommen mußte! Welche Hoffnungen sind mir vernichtet, welchen Wünschen muß ich entsagen! O, laßt es mich Euch gestehen, an eben dieser theuren und doch so feindlichen Stelle laßt mich Euch bekennen … der Augenblick, da ich Euch sah, da mir Eure holde Stimme klang, da Ihr mir entgegentratet, wie eine Lichtgestalt, wie ein versöhnender Engel des Friedens und der Liebe – es war der Wendepunkt meines Daseins, der Morgenstrahl der seligsten Zukunft … und Alles, Alles dahin? Unwiederbringlich dahin?“

Er war ganz nahe getreten, hatte sich auf ein Knie vor ihr niedergelassen und beugte sein Angesicht über die theure, nur schwach widerstrebende Hand.

Dann sah er empor zu ihr und lange verharrten sie schweigend; tief, innig, untrennbar ineinander verschlangen sich ihre Blicke.

„Es sind dunkle Pfade, die der Himmel uns führt,“ sagte sie dann, „und so wenig Zeit nur ist uns gegönnt, daß die Schranken und Bedenken des Lebens zwischen uns eingesunken sind. Was mir sonst zu sagen verboten gewesen, in dieser Stunde brauch’ ich es nicht zu verhehlen… Ja, mein Freund, der Augenblick unserer Begegnung hat auch über mich entschieden … er wird das Kleinod meines Lebens sein! Damit sei’s geschieden … lebt wohl und gedenket mein!“

„Und keine, keine Hoffnung des Wiedersehens?“ fragte Roritzer und seine Stimme brach.

„Keine …“ hauchte sie erschüttert entgegen… „keine, als bis die Glocken von Eurem Dome sie einläuten! … Geht, Euer großes Werk wartet Euer, mich laßt dem meinigen … es ist die Trauer um den unglückseligen, theuren Todten, das Gebet für seine Seele und die Sühne meiner Schuld vor dem Ewigen… Lebt wohl! …“

Sie riß sich los, die Thür schloß sich hinter ihr; eine Weile noch starrte Roritzer wie betrübt ihr nach, dann schritt er durch die Nacht dem Dome zu.


4.

„Der Mai ist ‘kummen
„Ins Land herein,
„Mit Pfeifen und Trummen
„Und mit Schalmei’n.
„Ausstreuet er baß
„Laub, Blut und Graß
„Zum Wandel meinem frummen
„Herz-Schätzelein!“

So tönte es von einer tiefen vollen Männerstimme gesungen aus dem Domkreuzgange in den klaren Abend hinein, aus der Ecke wo der große Steinwürfel mit den Werkzeugen all’ Derer lag, die am Dome schon mitgebaut; in den Gesang mischten sich fast gleichmäßig die Schläge von Hammer und Meißel, womit Roritzer den grünlich grauen Sandstein bearbeitete, Die letzten wenigen Wochen hatten ihn sehr verändert: sein Blick war noch ernster und beinahe finster geworden, seine Wangen waren verblichen und die Locken noch reicher mit Silber besprengt.

Nach dem Gesange ließ er wie ermüdet die Werkzeuge sinken und sah innehaltend durch den Bogen des Kreuzgangs in das davon umfaßte kleine Gartenland hinaus, wo der Frühling begonnen hatte, das Gemäuer mit den ersten frühen Knospen, des Weinlaubs zu zieren und mit den rosigen Blüthen der Aprikose, deren mandelartiger Duft leise, aber wohlig in der Abendluft schwamm. Es war still draußen und friedlich, nur einige Bienen summten, die über dem Reiz der Blüthenlese und des ersten Ausflugs der Heimkehr zu vergessen schienen. Es war, als sinne der Meister über den Fortgang des Liedes nach, das in seinem Innern aufgegangen, wie draußen die Blätter und Blüthen; darüber ward er nicht einmal gewahr, daß der alte Loy eingetreten war und, um den Freund nicht zu stören, in der Ecke als stummer Hörer und Zuschauer lehnte.

Nach einer Weile hob Roritzer wieder zu singen an:

„Komm’,“ ruft vermessen
Das Röslein guot,
„Mit mir zu messen
„Der Wänglein Roth!
„Komm’, Meigelein!“[1]
Ruft’s Veigelein,
„Sag’ an – hast uns vergessen
„Oder bist Du todt?“

Der Bildschnitzer wiederholte einstimmend den Schluß. „Veigelein und Rose haben gut rufen,“ sagte er dann traurig. „Herzschätzelein – das Meigelein hat sie nicht vergessen und ist nicht todt, aber es giebt Antwort hinter Gitter und Eisenpfort …“ Und in der Weise des Liedes fortfahrend sang er mit seiner zitternden Stimme:

„… Ich hör’ Euch schon
„Zieht nur davon –
„Dieweilen ich geworden
„Ein’ schwarze Nonn’!“

„Loy!“ rief der Dommeister und sprang erschüttert auf; das Geräth fiel dumpf zu Boden. „Versteh’ ich Dich recht? Ein Märlein lautet so – ein altes Lied … Geht Dir das durch den Sinn oder wäre Wahrheit in dem Gesang? …“

„Du mußt übel denken von meiner Kundschaft in der edlen Meistersingerei,“ erwiderte der Bildschnitzer. „Glaubst Du, ich vermöge nicht, in den blauen Kornblumenton, den Du angestimmt, einzusetzen und reimweis zu sagen, was ich meine und was ich selber gedacht? … Ich komme aus dem Niedermünster und habe zugeschaut, wie ein jung jung edel Fräulein den Schleier nahm …“

„Ich hab’ es geahnt …“ seufzte Roritzer, indem er auf den Stein niederglitt; er senkte Kopf und Angesicht in die aufgestützten Hände – kein stärkerer Athemzug, kein Laut, keine Bewegung verrieth, was in ihm vorging. Auch Loy ehrte den Schmerz des Freundes und schwieg.

(Schluß folgt.)




Scenen und Bilder aus dem Feld- und Lagerleben.
8. Kriegsleben im Spessart.


Wer doch die wahrhaftige Geschichte vom siebentägigen Zündnadelkrieg schreiben könnte! Aber noch viele Jahre werden dahingehen, bis dies möglich ist. Die Zeit muß erst die Leidenschaften abkühlen, die Vorurtheile wegklären und vor Allem manches Räthsel und Geheimniß lösen. Vieles ist in Nacht und Grauen gehüllt. Schlechte Führung war es nicht allein, auch die Diplomatie hat ihren Antheil an den Niederlagen. Wer hätte das ahnen können, daß unsere süddeutschen Contingente, auf welche die

[589]

Kampf am Herstaller Thor in Aschaffenburg.
Originalzeichnung von W. A. Beer.

bisherigen Kriegsherren und Landesväter, wenn auch nicht alles für den Militäretat bewilligte Geld, so doch ihre sämmtlichen Fachkenntnisse verwendet haben, so lebhaft die Erinnerung an die Reichsarmee wachrufen könnten! Klingt es doch schier wie eine Vorahnung auf Vogel von Falckenstein, wenn es in Götz von Berlichingen heißt: „Die Truppen waren es zufrieden, ihm (dem Götz) ein für allemal zu Leibe zu gehen,“ und der Ritter dann dem Reichshauptmann antwortet: „Er ist der Landsart so kundig, weiß alle Gäng’ und Schliche im Gebirg, daß er so wenig zu fangen ist, wie eine Maus auf dem Kornboden!“

Ja, auch die Preußen wußten alle Schlich’ und Gänge im Gebirg’! Rhön, Vogelsberg und Spessart. Wer hätte es gedacht, [590] in diese unwirthlichen Gebirgsstöcke ein Kriegstheater zu verlegen! Kein Handbuch der Strategie heißt ein solches Wagniß gut. Ja, entschuldigt Euch nur, Ihr Herren Ober- und Bundesgenerale; Ihr seid gefoppt und geschlagen, nicht Eure braven Soldaten. Wie Löwen standen Eure Krieger in dem Eisenhagel der Geschütze und Zündnadelgewehre … Jener schwäbische Hauptmann hat nicht zu viel gesagt, als er auf der Pfingstweide zu Frankfurt seine neuen Mannschaften den Fahneneid schwören ließ und sie dann anredete: „Jetzt will i au e paar Wörtli zu meine Leut redde. Mir Schwabe brüschte uns net. Mir glaube au net, daß mir die Welt auffresse, aber h’neihaue thue mir mit unsere Fäuschte, so viel als mir könne!“ „Ja, des thue mir scho,“ antwortete damals die ganze Mannschaft wie aus Einem Munde und sie haben Wort gehalten, die wackeren Schwaben.

Das Motto des deutschen Bruderkrieges für die Unterliegenden heißt: Schlechte Führung! Das war ein Feldzugsplan, als hätten ihn die Preußen dem Prinzen Alexander untergeschoben. Die Preußen sagen es ja selbst, man hätte sie vernichten, fangen, aushungern können, wenn die Führung der beiden feindlichen Corps nicht gar so kraftlos gewesen wäre und nur einigen militärischen Ueberblick an den Tag gelegt hätte. Aber das sollte ein Krieg und ein Sieg werden, wie er in den Compendien der Strategie zu lesen ist. Es war eine theoretische Führung und nach jeder aufgegebenen Position tröstete man sich: „Wir finden schon eine noch bessere, aber dann …“ Und erst das Zusammenspiel der beiden durchlauchtigsten Prinzen! Die feindlichen Brüder hätten es nicht besser verstanden, sich gegenseitig um die Lorbeeren des Sieges zu bringen. Die Eifersucht hat Wunder für uns gewirkt! das erkennen alle Preußen an – mit Großmuth und Barmherzigkeit!

Am 12. Juli hatten die Darmstädter bei Laufach und Frohnhofen stark gelitten. Generallieutenant von Perglas, das Musterbild von einem Wachtparadengeneral, hatte sich weniger in die Generalskarte, als in die Wein- und Speisekarte seines Hotels vertieft und seine Truppen in einer Weise aufgestellt, die selbst das Mitleid des Feindes gegen sie wachrief. „Schießt nicht mehr,“ sollen sich die Preußen einander zugerufen haben, „es ist Mord.“ Die Darmstädter zogen sich fliehend zurück und nahmen vor Aschaffenburg an den Höhen bei Goldbach Aufstellung. Hier wurden sie aber andern Tages von den neuangekommenen Oesterreichern (sechstausend Mann unter Neipperg) abgelöst. Am 14. Morgens begann der Kampf, der sich bald von den Goldbacher Höhen fortspann bis in die Nähe von Aschaffenburg und dem Bahnhof. Aber auch hier mußten die Oesterreicher der Uebermacht weichen. Ein paar Compagnien stellten sich dann zur Deckung des Rückzugs noch am Herstaller Thore auf. Diese Scene hat der Zeichner unseres Bildes sehr lebendig dargestellt, aber was konnte der Muth gegen Uebermacht ausrichten? Kartätschenhagel lichtete die Reihen der Kämpfenden, die zum Ueberfluß auch noch von der preußischen Infanterie in der Flanke gefaßt wurden. Das Thor war nicht zu halten; in wilder Flucht stürmte man die verschlossenen und verlassenen Häuser, schoß auch noch von hier aus auf die nachrückenden Feinde oder ergab sich ihnen auf Gnade und Ungnade.

Nicht besser erging es dem linken Flügel unter Neipperg; auch dieser mußte bei Goldbach dem Drängen der Uebermacht weichen. An dem sogenannten Auhof bei Goldbach war er mit dem Feinde am Morgen zusammengetroffen, zog sich dann bis an die Windmühle zurück, konnte aber auch da sich nicht halten. Er theilte sich hier; die Einen suchten die Straße nach Kleinostheim zu gewinnen, die Andern, und mit ihm die Generalität, zogen sich durch das Carlsthor nach Aschaffenburg. Hier war es, wo ein italienischer Officier vergebens Feuer commandirte und auf seine eigenen Leute scharf einhieb, weil sie dem Commando nicht Folge leisteten. Die Preußen waren indessen durch das Fischerthor in die Stadt gedrungen und stießen auf die Nachhut, welche von kurhessischen Husaren gebildet wurde. Es hätte ein mörderischer Kampf werden können, wenn die Preußen das Terrain noch besser gekannt hätten. Den Oesterreichern blieb der Rückzug nur offen über den steil abfallenden sogen. Windfang, eine Straße, die um die Weinberge führt auf welchen die Perle von Aschaffenburg, die altgothische Pfarrkirche, thront. Der Windfang ist schon für gewöhnliches Fuhrwerk schwer zu passiren, geschweige denn für eine Armee in wilder Flucht, welcher der Feind auf dem Fuße folgt. Ein Glück war es, daß im Allgemeinen die Preußen zu hoch schossen; sie nahmen den Abfall des Windfang zu niedrig, und die Kartätschen flogen so über die Häupter der Fliehenden weg. Aber es war auch ein Glück für die Stadt, daß die Oesterreicher jenseits der Brücke sich nicht zahlreich und rasch genug aufstellen konnten, um längeren Widerstand zu leisten. Mit zwei Geschützen konnten sie etwa ein Dutzend Mal feuern, dann sahen sie ein, daß sie der preußischen Batterie, die ihr gegenüber in einem hochgelegenen Weinberg aufgestellt war, nicht Stand halten konnten; wäre es geschehen, so wäre die Stadt jetzt vielleicht ein Trümmerhaufen.

Augenzeugen wissen viel Trauriges aus dem Straßenkampfe zu erzählen, wie dort Einer fiel, hier Einer vom Kartätschenhagel förmlich zerrissen wurde. Wir wollen ihnen die Kriegsschrecken nicht nacherzählen, wohl aber halten wir uns verpflichtet, den edlen Frauen Aschaffenburgs ein kleines Denkmal für ihre Unerschrockenheit zu setzen, mit der sie mitten im Kugelregen den Verwundeten auf der Straße zu Hülfe eilten. Freilich fehlte es auch nicht an einzelnen Rohheiten und Unmenschlichkeiten und mehr als ein Flüchtiger wurde, aus Furcht vor den Preußen, von der rettenden Hausthür zurückgestoßen – in den mörderischen Kugelregen. Der Krieg kennt keine Menschlichkeit und das Gesetz: Jeder ist sich selbst der Nächste, wird über Gebühr streng, ja, unerbittlich streng gehandhabt. Aber kaum hatte der Kampf ausgetobt, da setzte sich auch wieder die Menschlichkeit in ihre Rechte ein. Nun war ja keine Gefahr mehr für’s eigene Leben, um das Anderer zu retten. Alles Mögliche geschah, um die Verwundeten zu retten, zu trösten, zu speisen und zu beherbergen. Es herrschte ein edler Wetteifer in der Bürgerschaft, und auch hier zeigten sich wieder die Frauen als leuchtende Engel der Nächstenliebe.

Das Hauptquartier des Generals von Goeben war im alten, ehrwürdigen Schlosse der ehemaligen Kurfürsten von Mainz, das am Westende der Stadt auf einem steil abfallenden Hügel Gegend und Stadt beherrscht wie eine Citadelle. Hier ging es sehr heiter zu, denn man hatte in dem Schloßkeller eine sehr willkommene, reiche Beute gemacht. Die trefflichsten Frankenweine wurden hier den Siegern zu Theil; der ausgezeichnete Hörsteiner mit seiner würzigen Blume mag manchen fühllosen Gaumen gelabt haben, dem vielleicht ein Seidel Bier die gleichen und vermuthlich noch bessere Dienste gethan hätte. Das ist eben Krieg: heute den feinsten Wein und morgen keinen Schluck trinkbaren Wassers. Der civilisirteste Krieg ist eben doch nur ein Rückfall in die Wildheit!

Von Aschaffenburg waren die Bundestruppen am linken Flußufer aufwärts fortgezogen nach dem Taubergrund. Die Gefechte, die dort bei Hundheim und Tauberbischofsheim siegreich für die Preußen ausfielen, wollen wir unbeschrieben lassen, dafür aber den Erlebnissen eines Ritters von dem Frankfurter Sanitätscorps Einiges nacherzählen. Wir Männer des rothen Kreuzes im weißen Felde – sagt er – zogen mit sechs barmherzigen Schwestern und zwei Diakonissinnen den Main aufwärts nach Miltenberg. Ein schlechter Omnibus, mit vier noch schlechteren Artilleriepferden bespannt, diente als Beförderungsmittel. In Miltenberg war man in sehr trostloser Lage. Der Krieg hatte arg gewüthet. Es fehlte an Allem, was ein Menschenherz erfreuen, einen Hungernden sättigen, einen Durstigen laben kann. Wein und Brod waren sagenhafte Gegenstände geworden. Was wir für gutes Geld und inständige Bitten nicht auftreiben konnten, das sollte der Stadtrath ohne Geld, mit Gewalt von seinen Ortsangehörigen erpressen. Umsonst, und selbst die Drohungen der Armeegensd’armen wollten nicht mehr verfangen. Es war nichts da, kein Brod, kein Fleisch und auch keine Pferde mehr, und doch sollte deren einhundert und fünfzig der arme Stadtrath herbeischaffen. Wie die Väter der Stadt ihr Gewissen und das Ungestüm der Feld-Gensd’armerie beruhigt haben, wissen wir nicht, denn unseres Bleibens war nicht in dem ausgehungerten Städtchen.

Die Verwundeten waren noch nicht so weit mainabwärts gekommen, wir sollten die ersten in Neubrunn treffen. Als wir dort ankamen, war es Nacht. An Weiterfahren mit den müden Rossen war nicht zu denken. Also Nachtlager nehmen – aber wo? Alles was Bett und Streu hieß, war vergeben. Die geistlichen Damen hatten es gut; der Pfarrer erbarmte sich ihrer und nahm sie in’s Pfarrhaus auf. Wir aber richteten uns, so gut es ging, in unserem Omnibus häuslich ein. Aber kaum graute der Morgen, so hörten wir ein unheimliches, schreckhaftes Getöse. „Stürzt Rhodus unter Feuerflammen?“ Mit diesen Worten öffnete einer [591] unserer Collegen die Wagen-, wollte sagen Hausthür, um zu sehen, was in so früher Morgenstunde in Neubrunn schon los sei. Schon nach wenigen Minuten aber kehrte er zurück mit der Nachricht, man stürme einen Bäckerladen. Also ein kleiner Krieg um’s liebe Brod. Den andern Tag hörten wir, das Sturmlaufen auf den Bäckerladen sei abgestellt und das Militär so frei gewesen, die Erzeugnisse desselben für sich selbst in Beschlag zu nehmen. Die armen Neubrunner! Aber auch in Neubrunn war unsres Bleibens nicht. Es lagen Verwundete genug da; unsere Hülfe sei jedoch in Helmstädt nothwendiger, hieß es, auch würden dort unsere Labemittel gut aufgenommen werden. Auf denn nach Valencia-Helmstädt, dem großen Lazareth von Uettingen. Da lagen sie schaarenweise, die Heldensöhne des Vaterlandes, in engen, dumpfen Stuben. O, ihr armen Nassauer, Euren jammervollen Anblick vergeß’ ich all’ meine Tage nicht! Mehr als zwanzig lagen ihrer in einem Zimmer und alle waren amputirt an Armen oder Beinen und jeder hielt seinen Stummel in die Höhe, um sich den Schmerz zu lindern. Da faßt einen der Menschheit ganzer Jammer an in tiefster Seele und nur die Gewohnheit macht, daß man Thränen zurückzuhalten lernt. Die Gewohnheit und – die Steigerung des Elends. Glaubt man hier das Schrecklichste gesehen zu haben, in der nächsten Minute schon steigert es sich dort zum Gräßlicheren. Das Mitleid wird zum Jammer und so geht es fort, bis das Herz in sich selbst verstummt und erstarrt. Das Gefühl für den Einzelnen geht unter in dem Jammer für das Ganze. Nur so erklärt sich die Fühllosigkeit. Die Zahl der Armen ist zu groß, um allen Linderung zu schaffen; es wird der Schmerz des Einen überhört oder vergessen trotz aller Aufopferung und Menschlichkeit, denn dort liegt ein Anderer, der noch mehr leidet.

Die Wunde selbst ist das geringste Uebel; ihre Schmerzen würden aufhören, wäre nur das Lager besser oder die Luft weniger dumpf oder die pflegende Hand immer frei zur lindernden Dienstleistung. Aber Alles lernt der Mensch ertragen, hat für Alles einen Trostspruch. Unwillkürlich vergleicht der Verwundete sein Unglück mit dem seines Nachbars und tröstet sich, daß er noch so weggekommen ist. Und man hat noch immer von Glück zu sagen, wenn man als Verwundeter überhaupt nur Hülfe findet; das mangelhafteste Dorflazareth ist noch immer besser, als das Lager unter freiem Himmel. Wie Mancher liegt todeswund auf dem Feld der Ehre, ohne daß ein Menschenauge seiner ansichtig wird, wie jener Hauptmann, der bei Aschaffenburg in einem Kornfelde lag, hülflos und verlassen sich vier Tage lang von unreifen Aehren nährte, bis er endlich aufgefunden wurde. Zu spät; nach zwei Tagen erlöste ihn der Tod von seinen Leiden.

Aber wir würden nicht fertig werden, Jammer, Elend und Unglück eines Lazareths im Einzelnen zu schildern. Die Wirklichkeit übertrifft jede Vorstellung. In der Beschreibung hört man die Töne und Laute nicht, die der Schmerz auspreßt; wie fürchterlich treffen sie das Ohr, ganz abgesehen davon, daß sie auch in der Seele nachklingen. Jammer über Jammer – dein Name heißt Krieg!
Ein Süddeutscher.




Der Beherrscher eines Kleinstaates.


Seine Durchlaucht war am Morgen des 24. September 1840 in einer sehr heitern Stimmung. Der Kammerdiener hatte das für ihn immer bedenkliche Geschäft des Ankleidens vollzogen, ohne einige fühlbare Anzeichen des allerhöchsten Mißfallens erhalten zu haben. Dem Ordonnanz-Unterofficier, der das für den Fürsten bestimmte Postpaket aus der Stadt gebracht, waren auf besonderen Befehl Serenissimi sein Frühstück und ein Laubthaler verabreicht und den übrigen Bedientenschaaren war nicht nur gestattet worden, an einem im „Gasthof zum Mohren“ stattfindenden Ballfest Theil zu nehmen, sondern der Durchlauchtigste hatte dieser Erlaubniß auch noch einige Ducaten beigefügt, damit ihm seine Leute keine Schande machten und etwas aufgehen lassen könnten …

Und wer oder was hatte diese glückliche Laune hervorgezaubert? Hatte der das schöne Geschlecht leidenschaftlich liebende Herr eine neue Eroberung gemacht? Oder hatte man einen Wilddieb lebendig eingebracht? Nein, weder das Eine, noch das Andere hatte sich fangen lassen. Wohl aber war aus Hanau im Hessenlande heute ein Brief in rosenrothem Couvert eingelaufen und dieser Brief hatte des Fürsten rosenfarbene Laune hervorgerufen.

Auf dem Kaffeetisch am Fenster, von wo aus man eine reizende Aussicht auf das romantische Elsterthal und die freundliche Stadt Gera hatte, lag der Inhalt des Briefes: das Exemplar einer hessischen Zeitung. Der Absender hatte jedenfalls dem Fürsten eine Aufmerksamkeit erweisen wollen und deshalb einen Separatabdruck auf feinem Velinpapier veranstaltet. Die erste Seite der Zeitung enthielt ein mit Goldschrift gedrucktes Gedicht, welches die Ueberschrift führte: „Volkswohl ist Fürstenlust“ und lautete:

„Im deutsch-treu-biederen Sachsenland
Wird uns ein edler Fürst genannt,
Der, wie es wörtlich die Zeitung enthält,
Als er in Gera ‘nen Kanzler bestellt,
Mit Gottesstimme, wie folget, sprach;
Von Pol zu Pol man es hören mag:
‚Unabhängig und frei der Richter soll walten,
Stets nur am Rechte fest sich halten;
Ja könnt’ ich, der Fürst, mich selbst vergessen
Und wollen mit anderem Maße messen,
Dann bitte, ja befehle ich, dann trete der Richter
Frei vor mich und spreche:
„„Fürst, kennst Du diese Schranken?““
Ich werde mich fügen, belobend ihm danken.
Denn, mir wohlbewußt,
Ist Volkeswohl Fürstenlust.
Und könnt’ man alles Herzblutes mich entbinden,
Den letzten Tropfen dem Volke würde geweiht man finden.‘[2]
– – – – – –
Und nun frag’ ich zum guten End’,
Ob ‘nen Kaiserthron nicht zieren könnt’
Der, welcher sich also hat bekannt,
Der edle Fürst im Sachsenland?
Drum, deutsche Brüder, im deutschen Wein
Ein dreifach Hoch dem Fürst von Lobenstein!

Die gute Gesinnung des Gedichts ließ den Fürsten das schlechte und holperige Versmaß vergessen und überdies waren derartige Anerkennungen in der Presse für ihn etwas so Ungewohntes, daß sich seine glückliche Stimmung leicht erklären ließ. Er zündete sich eine Cigarre an, pfiff seinem großen ungarischen Wolfshund und stieg hinab in den Wald, der den Fuß des Schlosses umsäumte. Er hatte in diesem Augenblick schwerlich eine Ahnung, daß er nur acht Jahre später in demselben Schloßhof, den er jetzt durchschritt, eine lärmende, drohende Volksmenge vor sich sehen und dreizehn Jahre später, fern von diesem Stammsitz seines Geschlechts, als abgedankter Fürst im freiwilligen Exil, im Hotel de Paris, einem Dresdner Gasthof zweiten Ranges, sterben sollte …

Der Mann, von welchem wir sprechen, hieß, als er noch unter den Lebendigen weilte, Heinrich der Zweiundsiebenzigste, Fürst von Reuß-Lobenstein-Ebersdorf, Mitregent von Gera.

Unser Geschlecht hat leider noch zu wenig Ruhe und Muße gehabt, den originellen Gestalten des neunzehnten Jahrhunderts jene allseitige Betrachtung zu gönnen, die den merkwürdigen Personen des achtzehnten Säculums zu Theil geworden ist. Denn wäre das der Fall, so würde es nicht möglich sein, daß sich eine so interessante Erscheinung der Culturgeschichtsschreibung bis jetzt hätte entziehen können, wie es dieser Heinrich der Zweiundsiebenzigste von Lobenstein-Ebersdorf war.

Ich werde mich bestreben, das Charakterbild dieses deutschen Fürsten wahr, treu und unparteiisch darzustellen, ohne Haß und ohne Liebe; in den Hauptzügen gestützt entweder auf authentische Documente, die aus der Feder des Mannes selbst geflossen, oder auf Thatsachen und Vorkommnisse, deren Notorietät von keinem seiner Zeit- und Landesgenossen bezweifelt wurde. Sollte aber bei dieser Schilderung dennoch manche Partie des Bildes zu skizzenhaft erscheinen oder in nebensächlichen Momenten ein unerheblicher [592] Irrthum vorkommen, so möge zur Entschuldigung auf die Zeit hingedeutet werden, in welche die Regierungsperiode dieses deutschen Kleinfürsten fällt. Die Jahre von 1822 bis 1848 gehören zu den düstersten der neueren deutschen Geschichte. In ihnen kam jenes System, welches nach seinem Urheber, dem k. k. Haus-, Hof- und Staatskanzler Fürsten Clemens Metternich benannt wird, zur höchsten Entwickelung. In jenen Zeiten der geistlosesten und brutalsten Polizeiwirthschaft war schon die einfache, kritiklose Mittheilung gewisser Thatsachen bedenklich, ja sogar zuweilen unmöglich. Eine Presse in den Kleinstaaten gab es nicht; die der Mittelstaaten mußte sehr vorsichtig sein.

Es war am 8. Mai 1824, als Fürst Heinrich der Zweiundsiebenzigste die Regierung über das Fürstenthum Lobenstein-Ebersdorf und die Mitregentschaft über das Fürstenthum Gera antrat. Das Fürstenthum Reuß-Lobenstein-Ebersdorf, welches heute einen Landrathsbezirk des Fürstenthums Reuß j. L. bildet, war damals und bis zum Jahre 1848 ein selbstständiges, souveränes deutsches Fürstenthum mit einem Flächenraum von sechs Quadratmeilen und vierundzwanzigtausend Einwohnern, deren unumschränkter Gebieter Heinrich der Zweiundsiebenzigste war. Er war bei seinem Regierungsantritt siebenundzwanzig Jahre alt, von schöner Gestalt, lebhaften Geistes und einem Temperament, dessen heißen Wallungen sein Erzieher niemals die geringste Beschränkung auferlegt hatte. In einem Augenblicke richtiger Selbsterkenntniß hat der Fürst an öffentlicher Tafel dies seinem Erzieher, er hieß Heinemann, in bitteren Worten vorgeworfen. Trotz der Kleinheit seines Fürstenthums fühlte sich Heinrich der Zweiundsiebenzigste, ebenso wie der mächtigste Alleinherrscher, durchdrungen von dem Bewußtsein seiner Souveränetät, und der Unumschränktheit seines Willens sollte sich Alles beugen. Dies sollte, kaum zwei Jahre nach seinem Regierungsantritt, sein Völkchen in so furchtbarer Weise erfahren, daß noch bis zum heutigen Tage die Erinnerung daran nicht aus dem Gedächtniß der dortigen Bevölkerung geschwunden ist, aber noch in keinem deutschen Geschichtswerk ist das folgende Ereigniß ausgezeichnet.

Im Jahre 1826 erschien eines Tages eine fürstliche Verordnung, in welcher der Landesbevölkerung befohlen wurde, ihre sämmtlichen ländlichen Gebäude in der als Landfeuersocietät privilegirten Magdeburger Feuerversicherungsgesellschaft zu versichern. An und für sich betrachtet, war dies eine sehr zweckmäßige Anordnung. Denn zu jener Zeit waren die Bauern mit ihren Immobilien noch gar nicht assecurirt und deshalb Brandunglück für die Betroffenen ein großes Mißgeschick. Indessen das Landvolk begriff das Wohlthätige der Verordnung nicht; die bureaukratische Barschheit und Ungeschicktheit, die damals womöglich noch größer in Deutschland waren, als heute, verstanden es auch nicht, das Gute der Verordnung den Leuten begreiflich zu machen; sie hielten es auch wohl unter ihrer Würde. Der Fürst wollte es, das Volk hatte einfach zu gehorchen. Verschiedene an die Landesdirection wie an den Fürsten selbst abgesendete Deputationen kamen unverrichteter Sache zurück. Die verweigerten Versicherungsbeiträge wurden mittels Execution beigetrieben. Da rottete sich die gesammte Bauernschaft des Fürstenthums in dem Dorfe Harra bei Lobenstein zusammen. Auf die Nachricht davon schickte Heinrich der Zweiundsiebenzigste sofort alle seine Militärmacht von Lobenstein-Ebersdorf und Schleiz, zwei Compagnien, mit einem gewissen Herrn von Flotow als Civilcommissar nach Harra. Es war am 6. October des genannten Jahres. Die Truppen stellten sich in Schlachtlinie auf einem freien Platze inmitten des Dorfes auf. Ihnen standen die Bauern gegenüber, lärmend, aufgeregt, aber ohne Waffen. Eine kurze Aufforderung an die Bauern, auseinander zu gehen, verhallte in dem Tumult. Plötzlich wirbelt die Trommel; es fällt ein einzelner Schuß, dem ein wohlgenährtes Heckenfeuer auf der ganzen Linie der Militäraufstellung folgt. Ein Lieutenant, Zenker hieß der Ehrenmann, springt vor die Fronte und schlägt mit dem Degen die Gewehre der Soldaten in die Höhe, um die Schüsse in die Luft zu leiten, aber schon liegen siebenzehn Todte und eine Menge Schwerverwundete, darunter ein hübsches, junges Bauernmädchen, das ihren beim Militär stehenden Bruder hatte bewillkommnen wollen, blutend am Boden. Ein gräßliches Entsetzen befällt die Menge, laut jammernd stäubt sie auseinander.

Eine Stunde später erschien der Fürst auf dem mit dem Blute und dem Gehirn seiner Unterthanen bespritzten Platze. Er sah bleich aus, wie der Tod. Verzweifelte Frauen, weinende Kinder umringten sein Pferd.

„Das kommt davon,“ so redete er zu dem Volke, „wenn die Leute nicht folgen. Und wenn es nun noch nicht ruhig im Lande wird, dann lasse ich die böhmischen Schnauzbärte kommen. Er meinte damit die in Böhmen stehenden österreichischen Truppen.

Einige bei der Zusammenrottung betheiligt gewesene baierische Bauern wandten sich mit einer Beschwerde an den Bischof von Bamberg, dessen Bruder damals königlich baierischer Bundestagsgesandter in Frankfurt a. M. war. So kam die Sache vor die Bundesversammlung. Im Gasthof zu Harra wurde mir auch erzählt, eine Bauerndeputation sei nach Wien zum Kaiser gegangen, im guten Glauben, daß der österreichische Kaiser noch Kaiser des heiligen römischen Reichs deutscher Nation, der allein Hülfe und Sühne gegen die Unbilden der Vasallen des Reichs gewähren könne. Ob daran etwas Wahres ist, weiß ich nicht. Aber von Seiten des Bundes wurde eine Untersuchungscommission nach Lobenstein-Ebersdorf abgeordnet, deren Vorstand der weimarische Criminalrath Hickethier aus Weida war. Ein Resultat dieser Untersuchung ist nie bekannt geworden, ebensowenig aufgeklärt, von wem der Befehl zum Feuern ausgegangen. Jener Herr von Flotow, welcher als Civilcommissar bei der Expedition fungirt, wurde entlassen und starb als preußischer Landrath. Ein Hauptmann Mondorf aber, der in jener Harraer Schlacht, wie die Metzelei genannt wird, einem Bauer, der sich bückte, um seine Schuhriemen zu binden, mit einem Säbelhieb den Kopf gespalten, erschoß sich später. Ich habe noch eine alte Bauernfrau gekannt, die sich blind geweint um ihren einzigen Sohn, der an jenem Schreckenstage erschossen wurde.

Indessen hinderten derartige absolutistische Gelüste Heinrich den Zweiundsiebenzigsten nicht, sich zuweilen auch mit constitutionellen Ideen zu tragen … Man muß die traurigen öffentlichen Zustände eines deutschen Kleinstaates jener Zeit gekannt haben, um das Erstaunen gerechtfertigt zu finden, welches die Bewohner der guten Stadt Lobenstein und ihres Umkreises ergriff, als sie eines Tages – im Februar 1838 – im Amts- und Nachrichtsblatt für das Fürstenthum Reuß-Lobenstein-Ebersdorf unter der Rubrik „Vermischte Nachrichten“ folgenden Artikel lasen:

„(† Eingesandt. Europa 1838.) Es existirt in einem Lande ein Fürst, welcher aus eigener freier Ueberzeugung und eigenem freien Vorsatz beabsichtigte, eine neue verbesserte, auf Erweiterung der landständischen Rechte, Volksvertretung und allgemeine Staatsbürgerrechte gegründete landständische Verfassung einzuführen. Er arbeitete sie selbst aus, theilte sie seinen Landständen zur Begutachtung mit … Was geschah? Die Landstände, d. h. die alten, verrotteten (deren Zahl sich zum ganzen Volke wie 7: 20,000 verhält), machten die Ausführung der Absicht des Fürsten dadurch unmöglich, daß sie – in einer zu ihrer Kleinzahl unangemessenen Anzahl Mitglieder der neuen Landstände sein wollten und erklärten, ‚sie könnten sich nicht eher über den verbesserten Entwurf der landständischen Ordnung aussprechen, als bis die Vettern des Fürsten in einigen nahegelegenen Ländern auch dasselbe gethan hätten.‘ Dadurch ward aber die Ausführung der landesväterlichen Absicht unmöglich. Aehnliches Gutachten erstattete ein im Nimbus der Gemeinschaftlichkeit sich sonnendes Collegium. Die Sache ward aufgegeben … Die Verrotteten blieben … Der Fürst – nicht wie jener verrätherische Landpfleger, sondern als ehrlicher Mann – wusch seine Hände in Unschuld.“

Dieser Artikel in einem officiellen kleinstaatlichen Blatte erregte damals allgemeines Aufsehen. „Ueberall,“ rief ein sächsisches Blatt aus, „herrscht die Censur, nur im Fürstenthum Lobenstein-Ebersdorf ist Preßfreiheit.“ Die Redaction des sächsischen Blattes ahnte nicht, daß Serenissimus, Heinrich der Zweiundsiebenzigste selbst, der Verfasser dieses „Eingesandt. Europa 1838“ war.

Man sagt, daß ein Mensch, der einmal einen gelungenen Vers gedichtet, unlösbar an den Pegasus gefesselt sei. Vielleicht war das Aufsehen, welches dieser kleine Artikel in der Presse machte, die Ursache jener fruchtbaren schriftstellerischen Thätigkeit Heinrich’s des Zweiundsiebenzigsten, die sich zwar nicht in umfangreichen Werken äußerte, aber ihm dennoch einen Namen machen sollte. Es würde die Grenzen, welche diesem Artikel räumlich gezogen sind, weit überschreiten, wenn wir alle die originellen Erlasse des Fürsten in ihrem vollen Wortlaute hier wiedergeben wollten. Nur Einiges sei davon angeführt.

Er hatte die Beobachtung gemacht, daß seine Unterthanen seine Beamten nicht gehörig titulirten. Dies schien ihm bedenklich [593] und jedenfalls demagogisch. Und die Demagogen haßte er bitter. Er setzt sich, rasch entschlossen, diesem Unwesen zu steuern, an seinen Arbeitstisch und erläßt jenes berühmte Decret, welches der deutschen Sprache einen neuen Ausdruck erworben hat. „Seit zwanzig Jahren reite ich auf einem Principe herum: nämlich, daß jeder Beamte bei seinem richtigen Titel genannt werde.“ Wie gesagt, die deutsche Sprache verdankt den Eingangsworten dieses Erlasses Heinrich’s des Zweiundsiebenzigsten den Principienreiter, welches Wort sicherlich noch fortleben wird, wenn selbst die leiseste Erinnerung an seinen Autor verblaßt ist.

Eines Tages erfuhr er, daß in der vergangenen Nacht Diebe aus der fürstlichen Steuercasse zu Lobenstein eine beträchtliche Geldsumme gestohlen hatten. Die guten Lobensteiner kannten damals das Institut der Nachtwächter nicht, und Heinrich der Zweiundsiebenzigste ahnte auch nicht im Entferntesten, daß seine Hauptstadt ohne Nachtwächter war. Noch am selbigen Morgen erschien ein Erlaß, der wörtlich so begann: „Seit zwanzig Jahren wieder zum ersten Mal an meine Regentenpflicht erinnert, erfahre ich, daß Lobenstein des Nachts unbewacht schläft, während Hirschberg nicht übel disciplinirt ist.“ Er ergeht sich nun in längeren Betrachtungen über diesen Uebelstand und giebt dem Leser zugleich eine Erklärung, warum in Lobenstein keine Nachtwächter sind. Er versetzt sich nämlich in die Denkweise eines Lobensteiner Bürgers und läßt einen solchen sagen: „Punkt fünf Uhr stehe ich auf, arbeite wie ein oberländischer Zugstier und lege mich Abends neun Uhr zu Bett, ohne daran zu denken, daß Lobenstein unbewacht schläft.“ Allein er bekümmerte sich nicht blos um die Nachtwächter, auch dem Feuerlöschwesen widmete er seine landesväterliche Aufmerksamkeit. Im Februar 1844 fand in Lobenstein ein Brand statt. Kurz darauf erschien folgender Erlaß Heinrich’s des Zweiundsiebenzigsten, den wir in seinen Hauptstellen wörtlich mittheilen:

„Augenzeuge des Feuers auf dem Berge in Lobenstein, spreche Ich wiederholt aus, wie sich die Thätigkeit und Entschlossenheit unseres Völkchens auch bei dieser Gelegenheit bewährt und Ruhe und Gehorsam, die bei Ausführung der Löschanstalten stattfanden. Darüber Meine Zufriedenheit! Rügen aber muß Ich, daß – wenigstens im Anfange, also da, wo Hülfe, kräftiges, allgemeines Einschreiten noth thut – viel zu wenig Leute vorhanden waren, eine Gasse zum Löschen zu bilden und dergleichen. Mein Grundsatz ist: erst löschen und dann einpacken! Nämlich so: wenn ein kleines Feuer schnell bewältigt wird, so schlafen dann die Leute ruhiger, als wenn durch Vernachlässigung desselben eine schlecht gebaute Stadt vielleicht darauf geht … Ein schnell gelöschter Vorhang! (spreche aus eigener Erfahrung), eine schnell gelöschte Asche aus der Pfeife rettet das Haus … Von einem Haus wälzt sich der Brand auf vierhundert … Der Schneeball wird zur Lawine … Sie haben dies zu veröffentlichen und diejenigen, welche dessen würdig sind, öffentlich zu beloben.

Schloß Ebersdorf, den 22. Febr. 1844.
H. 72.“

In diesen ersten vierziger Jahren war es auch, wo Schloß Ebersdorf den Besuch jener schönen Spanierin erhielt, die einige Zeit später die Ursache der baierischen Revolution und der Thronentsagung Ludwig’s des Ersten werden sollte. Heinrich der Zweiundsiebenzigste war viel auf Reisen, bald in Frankreich, bald in Italien, bald in England. Er hatte, nebenbei bemerkt, eine vollständige Sammlung aller politischen Caricaturen, die in England seit Anfang dieses Jahrhunderts erschienen waren. Die Sammlung war wirklich werthvoll und wurde mir noch 1847 gezeigt; ob sie heute noch existirt – sie war damals im Ebersdorfer Schloß – weiß ich nicht.

In England hatte nun der Fürst durch Lord Arbuthnot die Bekanntschaft der Señora gemacht. Ein englischer Pair, Mitglied des Oberhauses, Lord Sh…, mit dem ich vor Jahren in Zürich im Hotel Baur zufällig bekannt wurde und der ein Bekannter des Fürsten aus seinem Londoner Aufenthalt war, erzählte mir, daß der Fürst Lola aus sehr drückenden Verhältnissen durch eine Summe Geldes erlöst und sie dann zu sich nach Ebersdorf eingeladen habe. Die Señora stellt die Sache in ihren Denkwürdigkeiten bekanntlich anders dar, in einem für sie günstigeren Lichte …

Das excentrische Wesen der Señora behagte indessen dem Fürsten doch nicht auf die Dauer. Er hatte ihr ein paar gutmüthige Ebersdorfer Landmädchen zur Bedienung gegeben, und diese armen, harmlosen geduldigen Geschöpfe quälte die übermüthige Spanierin auf jegliche Weise. Sie biß und kratzte dieselben und die Bedienten fühlten mehr als einmal ihre Reitpeitsche. Im Schloßpark ritt sie über die schönsten Beete, schlug den seltensten Blumen mit der Gerte die Blüthen ab und hetzte sogar einmal bei einem Concert, das dem Fürsten von jungen Mädchen in Waidmannsheil – einem Jagdschlosse – gegeben wurde, die großen Fanghunde Serenissimi auf die erschrockenen Mädchen. Es ist erklärlich daß zwei so excentrische Persönlichkeiten sich nicht lange vertragen konnten.

„Schaffen Sie mir das Frauenzimmer fort … Ich kann sie nicht mehr leiden,“ sagte er zu seinem Adjutanten.

„Aber, Durchlaucht, Señora versteht nur Englisch und Spanisch und sehr mangelhaft Französisch … Ich werde mich ihr nicht verständlich machen können.“

„Das ist Ihre Sache …“

Der arme Adjutant war in einer fatalen Lage. Endlich kam er auf ein Auskunftsmittel. Die Señora speiste Abends in ihrem Zimmer allein. Eines Tages fand sie unter ihrem Couvert ein Billet, worin ihr vom Adjutanten des Fürsten angekündigt wurde, es sei der Wille Seiner Durchlaucht, daß Señora binnen vierundzwanzig Stunden seine Staaten verlasse. Señora war wüthend. Einen unglücklichen Secretär W., der unversehens in ihre Stube gerieth, fuchtelte sie mit der Reitpeitsche hinaus, dann verlangte sie Serenissimus zu sprechen. Aber Heinrich der Zweiundsiebenzigste war und blieb unsichtbar, sein Zimmer verschlossen und von zwei Jägern bewacht. Als Lola sah, daß ihr Wüthen umsonst, fing sie an, gelindere Saiten aufzuziehen, und mit einem Reisegeld von zweitausend Thalern aus der Casse des Fürsten verließ sie Ebersdorf, indem sie Serenissimus zum Abschied sagen ließ, zum Verlassen seiner Staaten bedürfe sie nicht vierundzwanzig Stunden, sondern nur eine Viertelstunde Zeit.

Ungestört konnte sich Heinrich der Zweiundsiebenzigste nun wieder seiner Regententhätigkeit widmen, die sich wesentlich in jenen originellen Erlassen äußerte, von welchen ich schon einige Proben gegeben habe. Die Größe seiner Staaten erlaubte es ihm, sich auch um das Geringfügigste zu kümmern. So erschien eines Tages, im October 1844, folgende Proclamation:

„Ich finde für nöthig, Folgendes hiesiger Landesdirection zur Veröffentlichung mitzutheilen, um Mißverständnisse zu vermeiden, um jedem Betreffenden einen Anhaltepunkt zu geben.

A.

Alle ‚anständigen‘ Fremden ohne Unterschied können während meines Aufenthaltes hier zu jeder Tagesstunde das Schloß und seine Umgebung besuchen.

Wollen Genannte das Innere sehen, so melden sie sich beim Thorwärter. (Es ist stets ein Thorwärter da.)

Bei dem Thorwärter erfahren die Fremden das Nöthige.

Da Ich hier von anständigen Fremden rede, so nehme Ich an, daß sie nichts Unanständiges begehen; z. B. keine schweren Stöcke, Hunde, keine schmutzigen Stiefeln, Worte, Lieder etc., Narrenhände etc.

Wünscht Jemand in den Anlagen herumgeführt zu werden, so kann er bei dem Hofgärtner darum bitten. Doch kann und soll Niemand ‚Anständiges‘ in dem Besuch der Anlagen gehindert sein.

B.

Hiesiges anständiges Publicum ‚wie ad A.

Mit dem Unterschiede, daß es die Fähnlein, die den Durchgang verbieten, zu beachten hat; daß Sonntags vorzugsweise dem Besuche gewidmet ist.

Mit der Dunkelheit hört der Besuch auf. Warum? Weil dann die Begriffe ‚Anständig‘ und ‚Unanständig‘ sich verwirren.

C.

Auf Tinz oder dessen Garten findet Obiges Beziehung, mit der Bemerkung, daß dort die Fasanerie besondere Berücksichtigung verdient.

Schloß Osterstein, den 25. Septbr. 1844.
H. 72.“

Dieser Erlaß erschien genau so, wie in Vorstehendem angegeben, in der „Geraischen Zeitung“ abgedruckt. Ich hätte Niemandem rathen mögen, auch nur ein Iota, auch nur an der Form [594] zu ändern. Der Erlaß mußte so im Druck erscheinen, wie er geschrieben war.

Eine Reise hatte mich in den ersten vierziger Jahren nach Gera geführt; es war an einem prachtvollen Herbsttag und ich trat eben, um mir die Umgebung zu besehen, aus dem Thor des Gasthofs „zum silbernen Roß“, auf dem schönen Hauptmarkte Gera’s gelegen, als ich Generalmarsch schlagen hörte.

„Feuer, Feuer …!“ riefen einige Straßenbuben. „Rebellion!“ rief ein Dritter. Soldaten rennen in Sack und Pack an mir vorüber. Ein Menschenhaufe sammelt sich, aber man sieht weder etwas von einem Feuer, noch gar von einer Rebellion. Ich folge der Menge und erfahre endlich, daß Durchlaucht von Ebersdorf, welcher eben in der Stadt anwesend war, um die Garnison auf die Probe zu stellen, an die Hauptwache herangeritten war und dem Tambour befohlen hatte, in den Straßen Alarm zum Sammeln zu schlagen. Die Truppe, vielleicht etwas über hundert Mann, war eben angetreten, als Durchlaucht vor der Fronte erschien. Es wurde „Gewehr auf“ und „Marsch“ commandirt. Ich hatte nichts Besseres zu thun und folgte der Colonne, an deren Spitze der Fürst ritt. Auf einem großen Anger, weit außerhalb der Stadt, wurde „Halt“ gemacht. In bescheidener Ferne blickte ich dem Exerciren zu. Die Uebung dauerte nicht lange. Schon nach einer halben Stunde wurde der Rückweg angetreten.

In dem Augenblicke, da der Fürst an mir, der ich ehrfurchtsvoll grüßend am Wege stand, vorüberritt, hörte ich ihn mit seiner eigenthümlich gedehnten und etwas quäkend klingenden Stimme zum Compagniechef sagen: „Aber, Hauptmann, lassen Sie die Leute doch das Nationallied singen …“ „Das Nationallied?“ dachte ich und erwartete nichts Anderes, als Arndt’s: „Was ist des Deutschen Vaterland?“, nicht wenig im Stillen mich wundernd über den nationalen Sinn dieses Reußenfürsten, den man allgemein für einen der größten Demagogenhasser hielt. Ich bat dem Fürsten heimlich das an ihm begangene Unrecht ab. Aber wie erstaunte ich, als aus den Kehlen dieser braven Krieger ein Lied hervorbrauste, dessen Melodie nur durch den Text an Merkwürdigkeit übertroffen wurde. Ich schrieb mir den Text dieser reußischen Nationalhymne, der übrigens nur aus einem Vers bestand, was das einzig Gute an ihr war, auf. Er lautete:

„Es leb’ das reußische Haus
Und Alle, die daraus
Fürst Reußen nennen sich.
Absonderlich Reuß Heinrich, Hurrah!
Absonderlich Reuß Heinrich, Hurrah!
Der Lobenstein führt
Und Ebersdorf ziert –
Zu aller Reußen Lust!“

Schade, daß ich nie den Namen des reußischen Tyrtäus, des Dichters dieser Hymne, erfahren konnte. Mir wurde nur versichert, daß sie auf allerhöchsten Befehl gedichtet und componirt worden sei. Im März des Jahres 1848 hörte ich sie zum letzten Male. Seit dieser Zeit ist sie auch auf immer verstummt.

Die Reiselust des Fürsten habe ich schon erwähnt. Aber eine Episode aus seiner ersten italienischen Reise verdient noch besonders hervorgehoben zu werden. Es war in Neapel. König Bomba, welcher damals regierte, hatte zu Ehren Heinrich’s des Zweiundsiebenzigsten eine Fête veranstaltet. Damals war es beim Hofe von Neapel Sitte, Sammetröcke zu tragen. Heinrich der Zweiundsiebenzigste wußte dies und erschien in einem grünen, sehr elegant gearbeiteten Sammetrocke, welcher die Aufmerksamkeit des Prinzen von Capua erregte.

„Der Rock kleidet Ew. Durchlaucht vortrefflich,“ meinte der geistreiche Bourbonenprinz.

„Ich habe einen in Ebersdorf, der mir noch besser gefällt,“ entgegnete der Fürst. Damit endete die Unterhaltung.

Zehn bis zwölf Tage später kommt ein Courier Serenissimi mit einem allerhöchsten Handschreiben an den Archivsecretär v. W. in Ebersdorf an. Der Secretär, der, nebenbei bemerkt, ein einfacher Bürgerlicher war, wundert sich ebenso sehr über seine Standeserhöhung, wie über das allerhöchste Handschreiben, das er mit ehrfurchtsvoller Miene betrachtet, bevor er das Siegel löst … Und was stand in dem Schreiben, das der Courier aus Neapel gebracht? Der Secretär möge ihm, Serenissimo, sofort den grünen Sammetrock, den er neulich aus Paris erhalten, schicken! Acht Tage darauf kommt der Courier wieder in Neapel an – und mit ihm der Sammetrock! Am nächsten Tag erschien Durchlaucht in dem Rocke und bewies dem Prinzen von Capua, daß dieser ihn in der That noch besser kleide, eine Genugthuung, gegen welche die zweihundert Thaler, die ihm der Courier gekostet, nicht in Betracht kamen …

So verflossen in Glanz und Herrlichkeit die Tage dieses deutschen Souverains, bis endlich auch sein Verhängniß sich erfüllen sollte … Wenn den Fürsten nicht Schmeichler und Heuchler der gemeinsten Art umgeben hätten, so hatte er schon vor dem März 1848 es wissen können, daß trotz aller Schweifwedeleien in den officiellen Blättern seines Ländchens und der gemachten Loyalitätsbezeigungen, die der Mann in unbegreiflicher Selbsttäuschung für echt hielt, daß trotz alledem er auf einem unterhöhlten Boden stand. Eine schrankenlose Bureaukratie lastete auf der Bevölkerung. Der Fürst behandelte zwar, wenn es ihm eben einfiel, seine Beamten in der rücksichtslosesten Weise, aber diese rächten sich dafür, wie das immer der Fall, an den Unterthanen. Es war nur eine der vielen Selbsttäuschungen dieses Mannes, wenn er in seinen späteren Abdankungserlässen davon sprach, daß er den Beamtendruck vernichtet habe … Es war eine grenzenlose Selbsttäuschung, wenn er von der Liebe seines Volkes sprach. Die Bauernschaft im Lobenstein-Ebersdorf’schen seufzte unter Feudallasten und einem übermäßigen Wildstand … In den großen Waldungen des Fürsten gab es viele Hunderte von Hirschen, die oft in einer Nacht die Ernte des Landmannes vernichteten. Der Kampf der Jäger und des zum Forstschutz commandirten Militärs mit den Wildschützen war in dieser Gegend ein Krieg auf Tod und Leben. Die nahe baierische Grenze bot den Wildschützen immer eine sichere Rückzugslinie. Es verging kaum ein Jahr, in welchem nicht Wilddiebe oder Jäger und Soldaten in diesem Kriege blieben … Dazu kamen die natürlichen Folgen solcher Kleinstaaterei. Der Staatssinn war todt in der Bevölkerung. Wo der Staat mehr einem großen Rittergut gleicht, wo die staatlichen Einrichtungen der Kleinheit der Verhältnisse wegen leicht zu Zerrbildern werden – eine Erscheinung, die ja heute noch in vielen deutschen Kleinstaaten sich zeigt – da fällt der Nimbus der Souverainetät vor dem leisesten Sturmeswehen.

Es ist charakteristisch für diese kleinstaatlichen Verhältnisse, daß es eine Anzahl junger Studenten und Candidaten war, welche die alte Ordnung in den reußischen „Staaten“ über den Haufen warfen … Studenten, die in den Ferien waren, und Candidaten der Gottesgelehrsamkeit und Rechtswissenschaft, bei denen die Tinte der Censuren, die sie in der Staatsprüfung erhalten, noch nicht trocken war! … Sie tippten mit den Fingern an das morsche „Staatsgebäude“ und es fiel ein – und Heinrich der Zweiundsiebenzigste mit ihm!

Es liegt nicht in meiner Absicht, eine Geschichte der reußischen Märzrevolution von 1848 zu schreiben, nur das Abtreten Heinrich’s des Zweiundsiebenzigsten vom öffentlichen Schauplatze will ich erzählen.

Heinrich der Zweiundsiebenzigste glaubte durch Proclamationen den Sturm beschwören zu können. Die Bevölkerung, deren Führer, wie schon erwähnt, meistens Studenten und Candidaten waren, erhob sich überall. Das Wild wurde massenhaft unter den Augen des Fürsten todtgeschossen. Außer sich floh er nach Gera. Eine Sturmpetition vertrieb ihn auch von da. Er eilte in die Lausitz, wo seine jüngste Schwester ein Gut besaß. Von hier aus erließ er sein „Letztes Wort an sein Volk“, datirt Guteborn, Juli 1848.

„Meine Aufrufe vom 12. und 22. März,“ heißt es darin, „fußen auf dem Glück, wie Ich Mich damals ausdrückte, so gute, brave Landsleute in den Landleuten zu besitzen. In jenen Aufrufen, in allen Maßregeln seitdem ist allen Anforderungen die äußerste Rechnung getragen und sonach in Hinblick auf jenes glückliche Verhältniß der Grundsatz an die Spitze gestellt, daß wir Hand in Hand in die Umgestaltung treten wollten. Mein ganzes Leben übrigens giebt Bürgschaft, daß Volkeswohl und Fortschritt Mir nicht blos leere Worte sind. Die Verhältnisse haben sich geändert. Auf das Frechste ist jedes Band zwischen uns zerrissen. Der schändlichste Undank auf Mein, Ich darf es sagen, unschuldiges Haupt (siehe Schlacht von Harra?) gehäuft, auf einen Regenten, der treu zu seinem Volke stand und blos in dessen Wohl sein Glück fand, ein Glück, das Thaten beweisen …“ Nachdem er seine angeblichen Verdienste um das Land und die ihm angethanen Beschimpfungen [595] aufgezählt, erklärt er, daß er nach solchen Unbilden, wie sie wohl keinem Fürsten und Herrn oder Menschen angethan wurden, der das reinste Regentengewissen hat, der allen Zeitforderungen für ein großes, freies, einiges Deutschland zugejubelt, nun die Regierung niederlegen zu wollen, und schließt: „In irgend einem fernen Ort will ich über den Wechsel menschlicher Dinge nachdenken und zu Gott beten, daß die künftige Generation sich würdiger der Freiheit benehme, wie die jetzige, für die ich mein angestammtes Eigenthum geopfert und die besten Kräfte in langjähriger Regierungszeit.

Schloß Guteborn, im Juli 1848
Heinrich der Zweiundsiebenzigste Fürst Reuß.“

Also auch da noch zeigte sich jene bedauernswerthe Selbsttäuschung des Mannes, der, nur von Launen geleitet, jede Selbstständigkeit, jede freie persönliche Regung, die seinem Willen entgegentrat, mit absolutistischer Rücksichtslosigkeit unterdrückte, der nur Unterthanen haben wollte, die in jedem bescheidenen Almosen, das ihnen aus Landesmitteln zufloß, eine außerordentliche Gnade des durchlauchtigsten, gnädigsten Herrn erblicken sollten, der sich die übertriebensten Lobeserhebungen von seinen Schmeichlern als baare Münze und Ausdruck der Volksmeinung bieten ließ.

Diesem letzten Worte Heinrich’s des Zweiundsiebenzigsten an sein Volk folgte bald darauf nachstehende Abdankungsanzeige: „Meinen zahlreichen auswärtigen Freunden und Bekannten die Anzeige, daß ich die Regierung niedergelegt habe. Aus meiner Entsagungsurkunde für diejenigen, die mich kennen, ein deutlich Bild … Ich füge hinzu: Nicht das Auferstehen Teutschlands – ich glaube nicht, daß ein Teutscher mehr demselben huldigt, und jedes Opfer für Teutschlands Größe zu bringen bereit – sondern die Masse von Erbärmlichkeit, die in der Flachsenfingerei eines kleinen Staates mit dem März auftauchte und an die Stelle wahrhaft glücklicher Zustände (!!!) trat, hat mich vertrieben. Im Anfange gänzliche Unkunde und Schwäche der Civilbehörden, durch die die Wühlerei erst groß gezogen ward, welche, von zwei Städtchen ausgehend, nach und nach natürlich weiter fraß und Alles ansteckte. Mein im Kleinen ausgebildetes Wehrsystem … unbenutzt.“ Nachdem er wiederum seine angeblichen Verdienste um das Volk aufgezählt, fährt er fort: „Ein paar Beispiele jenes Undanks. An einem schönen Märzmorgen beendige ich eine Conferenz mit meinem Oberforstmeister mit den Worten: ‚Nun, Herr Oberforstmeister, wir haben heute das Waidwerk begraben.‘ (Das heißt auf den ruhigen und den Gesetzen der Natur folgenden Wegen.) Statt dessen raubt man mir’s mit Gewalt in acht Tagen. Ich berufe im April wiederholt die Beurlaubten der dem Bunde gehörigen Linie und die von mir geschaffene Landwehr ein, um gegen einen der vielen damaligen, kurz nach dem Schloßbrand von Waldenburg eintretenden Stürme Front machen zu können. Die Gemeinden halten auf Befehl der Wühler die bis dahin unbescholtene Mannschaft mit Gewalt zurück. Und das Alles nach schwerem Krankenlager, zum Schlusse möchte ich sagen: der Genesungsfeste!

Da ist mein Dableiben unmöglich, weil ich nichts halb sein will, und überhaupt da Teutschland eine Einheit sein soll und die kleinen Herrscher eine Unmöglichkeit. Mein Entschluß die Regierung niederzulegen wird um so eiserner, als die bekannte infame Sturmpetition bei Gera unser ältestes Schloß entwürdigte. Dort dieselbe Traurigkeit der Behörden, die Bürgerwehr, eintausendzweihundert Mann stark, läßt mich im Stich etc.

Heinrich der Zweiundsiebenzigste.“

Die letzte Proclamation Heinrich’s des Zweiundsiebzigsten aber, von der wir leider nur Bruchstücke mittheilen können, da dieselbe zu umfangreich ist, datirt vom 25. März 1849 und war an seine Ebersdorfer Residenzbewohner gerichtet, die ihn aus Nahrungsrücksichten eingeladen hatten wieder unter ihnen zu wohnen, natürlich als Abgedankter. „Ihr guten, lieben Ebersdorfer,“ sagt er, „Ihr waret mir treu, hold und gewärtig … Und wenn Alles mich vielleicht nach und nach vergaß, durch die erbärmliche Schwachheit meiner Civilbehörde dazu hingerissen … wenn kein Corps, keine Gemeinde rein blieb, dies- und jenseits verachtenswerther Undank und Dummheit mich unmöglich macht, unter Euch könnte ich unberührt schlafen; und kein 19. Juni würde meinen Schloßhof entehren. Dafür seid Ihr Ebersdorfer Männer! Treuen-Ebersdorf sollt Ihr heißen … würde es Euch in einem Diplom zugefertigt haben, umhangen von allgemeinen Ehrenzeichen, das nicht erlassen im Sturm der Zeit, oder durch die Faulheit eines Euch bekannten etc. So aber, da ich nichts mehr bei Euch zu befehlen, nehmt mein Manneswort, legt es in Eure Gemeindelade, mag es der Nachwelt Zeuge sein, daß es … zwei Gemeinden, Ihr und Köstritz gab, die noch Christen blieben! Ihr wißt, daß die Erbärmlichkeit, Rathlosigkeit, politische Feigheit, Verrätherei meiner Beamten meinen starken Arm abgehauen hat, der Euch schützte; und aus einem Bier-Crawall eine allgemeine Flamme gemacht! Ich bin auf ein erbärmliches Einkommen beschränkt, ein Drittel meines früheren! Denkt an den Brand von Schleiz, Euren Glanzpunkt! Denkt an das Jahr 1830 in Gera, meinen Glanzpunkt! Denkt an das Jahr 1806, meiner Mutter Glanzpunkt! Denkt an das Jahr 1813 (Vertrag von Frankfurt), meines Vaters Glanzpunkt! So bin ich … als Fürst Reuß in eine wahrhaft dürftige Lage gekommen, trotz Aufgabe von Allem, was mich bisher erfreut. Kinder, ich kann meine Dürftigkeit mit zwei Pferden und zwei Dienern gegen sonst nicht in Ebersdorf herumtragen … und bei den entsetzlichen Erinnerungen von 1848, wo mich jeder Blick an den Raub, den meine Gottvergessenen Unterthanen an mir verübt … Kinder, sage ich, so kann ich nicht unter Euch weilen!“ Er schließt mit der Versicherung, daß sein Motto: „Volkeswohl ist Fürstenglück“ es ewig bleiben werde …

Bis zum Ende seines am 17. Februar 1853 erlöschenden Lebens lebte Heinrich der Zweiundsiebenzigste im freiwilligen Exil zu Dresden. Reußenland hat er nie wieder betreten. Er starb in der unzerstörbaren Selbsttäuschung befangen, das Opfer einer Verrätherei seiner Beamten geworden sein, während er nur das Opfer seiner eigenen absolutistischen Launen wurde. Selten hat es wohl einen Regenten gegeben, bei welchem Worte und Handlungen in so schroffem Contrast standen, wie bei diesem Heinrich Reuß. Wir haben nicht mit zu grellen Farben gemalt; manche Partien des Bildes, die einen düsteren Schatten werfen, nur angedeutet. Aber das Bild wird eindringlicher als tausend Leitartikel die Gefahren jener kleinstaatlichen Zersplitterung in Staatskörper zeigen, die in keiner Weise der Aufgabe eines wirklichen Staates gerecht werden können; wenn wir auch nicht leugnen wollen, daß namentlich die Thüringer Kleinstaaten viel zur Heraufbildung und Cultivirung des Volkes gethan haben – mehr als mancher Mittel- und Großstaat. Es versöhnt in Etwas mit dem Manne, welcher der letzte Souverän von Reuß-Lobenstein-Ebersdorf war, daß er diese Mißstände erkannte, wie aus seiner oben angeführten Proclamation hervorgeht. Einer spätern Zeit aber mag es vorbehalten bleiben, unter Benutzung mancher noch jetzt unzugänglichen, in den Archiven schlummernden Actenstücke ein ausführlicheres Charakterbild dieses deutschen Kleinfürsten zu zeigen, dessen Motto zwar „Volkeswohl ist Fürstenlust“ hieß, zu dessen Vertheidigung aber beim Sturmesandrang der Revolution sich nicht ein Arm erhob!




Michel Berend.


Wieder ein deutsches Grab in fremder Erde – und zwar ein deutsches Dichtergrab. Erst wenn sie draußen sterben, erfährt man daheim, was man an ihnen verloren hat. Und nach so vielen Verlusten sind wir noch heute nicht im Stande, die Summen von Talent, Wissen, Geist und Charakter zu schätzen, welche von den Stürmen des Vaterlandes als frische, grüne Blätter vom Baume Deutschland in alle Winde getrieben wurden. Zu diesen frischen, grünen Blättern gehörte Michel Berend. Seine deutschen Landsleute und Collegen von der Presse haben ihm am 7. September in Brüssel das letzte Geleite gegeben. Dort hatte die Cholera ihn hingerafft.

Berend ist der Sohn eines Bankiers in Hannover. Das

[596]
Album der Poesien.
Nr. 21.


An meine Mutter.

Gelobt sei der Herr, daß ich Deine Hand
Mit heißen Thränen darf nässen –
Ich habe Dich wieder, o Mutterherz,
Und nun will ich Alles vergessen.

5
Die Jugend ging hin und die Freundschaft mit,

Die Liebe vergaß das Lieben –
O Mutter, von Allem, was ich besaß,
Bist Du, nur Du mir geblieben.

Du hast Dein Wohl, Dein Hoffen, Dein Weh

10
Mit dem Deines Kindes geeinet,

Du hast – da mir nicht zu helfen war,
Gebetet für mich und geweinet.

Du hast Dich in meiner Freude gefreut,
Und die Wunden, die mir geschlagen,

15
Du hast sie alle gleich mir gefühlt,

Doch ohne gleich mir zu klagen! –

– Vergieb mir, Herr, daß ich so oft
Vergiftet habe ihr Leben,
Vergieb, daß sie es getragen hat,

20
Vergieb, daß sie es vergeben!


Sieh’, Mutter, nach manchem langen Jahr
Kehr’ ich Dir wieder auf’s Neue,
Nur Deines von allen Herzen ich fand
Voll der alten Liebe und Treue.

25
Und weinend leg’ ich mein müdes Haupt

An diesem Herzen nieder,
Und was mir draußen verloren ging,
Hier find’ ich Alles wieder.



[597] stürmische Streben einer poetischen Seele scheint ihn früh erfaßt zu haben, aber Vieles ihm unerfüllt geblieben zu sein. Das verräth die spätere Klage:

Wollte einst was Rechtes werden,
Doch mein Vater sagt’ es oft,
Daß man nie erreicht auf Erden,
Was man wünscht und was man hofft.

Und mein Vater war im Rechte;
Wen’ger wünscht’ ich jedes Jahr –
Was ich heut noch werden möchte,
Ist ein Knabe, wie ich’s war.

Aus der glücklichen Kindheit, auf die dieses Gedichtchen schließen läßt, trat er in ein äußerlich und innerlich bewegtes Leben, wie auch dafür seine Gedichte zeugen. Mißstimmung und Thatendrang trieben ihn aus dem Vaterlande – über das Meer, das er in seinem „Atlantischen und Transatlantischen“ besingt. Ob es Heimathsehnsucht war, die ihn von drüben wieder herüber zog?

Da geht ein junger Bursch vorüber,
Summt vor sich hin ein deutsches Lied,
Und trüber wird’s um mich und trüber,
Da Lied und Bursche weiter zieht.

Ich wollte mich doch nimmer kränken,
Nicht um das Land und nicht um sie –
Da kommt das alte Heimgedenken
Mit seiner alten Melodie.

Und er zog wieder heim-, wenigstens europawärts, wohin zunächst, wissen wir nicht; daß eine unglückliche Dichterliebe mit an seinem Herzen zog, spricht er selbst so reizend schön aus:

O daß Du mein geworden wärst,
Ich hatte Dich so lieb!
Der Hafen warst Du, dem ich zu
Durch wüste Wogen trieb.

Der Himmel hat es nicht gewollt,
Mein Kahn treibt still allein –
Wir hätten überselig doch
Zusammen können sein!

Im Juni 1854 schrieb er von Paris aus an Robert Prutz die Widmung seiner Gedichte, deren zweite Auflage bei Schnee in Brüssel erschienen ist. Wie auch in der französischen Hauptstadt sein Blick und Herz „dem armen Volke“ zugewandt war, dafür spricht sein ergreifendes Gedicht „Eine Bettelgeschichte“, und die Klage über sein eigenes unstetes Leben wird in seinem „Ahasver“ laut. In Brüssel, wo er seine letzten Jahre zubrachte und hauptsächlich als Correspondent für die Kölner Zeitung, die „Freie deutsche Presse“, die „Gartenlaube“ und andere Journale thätig war, gehörte er zu den beliebtesten Persönlichkeiten des dortigen Schriftstellerkreises. Dafür zeugt sein Leichenbegängniß, das unter großer Betheiligung auf dem israelitischen Friedhofe stattfand. Der Oberrabbiner Astruc und Max Sulzberger, der Chef-Redacteur der „Etoile belge“, feierten würdig des deutschen Dichters und Publicisten Ehrengedächtniß. Das dauerndste Denkmal hat er sich selbst errichtet in seinem tief aus dem Herzen gekommenen und zu allen Herzen dringenden Lied „An meine Mutter“, das wir aus dem nun längst vergriffenen Jahrgang 1856 der „Gartenlaube“ noch ein Mal hervornehmen und als selbstgewundenen Kranz auf des Dichters Grab legen.




Pioniere des Deutschthums im fernen Westen.
Friedrich Münch. – Carl Riotte. – Eduard Degener. – Löwe-Calbe. – Rudolph Dulon.


Zehntausend in einer Woche, viertausend an einem Tage, tausend mit einem Schiffe, hundertundfünfzig Tausend, welche sich in Deutschland allein noch zur Beförderung gemeldet haben – so lautet das neueste Bulletin der Einwanderung. Seid uns willkommen, ihr Tausende! Es ist hier Raum genug für Alle; habt ihr die Kraft und den Willen zu einem Riesenkampf mit widrigen Elementen, so kann es euch kaum fehlen. Euch ist die Aufgabe minder schwer, als Denen, die einige Decennien vor euch kamen, aber seid ihr nicht besondere Lieblinge des Glücks, so bleibt euch dennoch ein Ringen nicht erspart, welches schwieriger ist, als ihr es euch vorstellen könnt. Die Meisten gehen glücklich aus der Prüfung hervor, aber Viele brechen auch unter der Last zusammen, die Einen mit, die Andern ohne Schuld, und unter den Opfern befinden sich nicht Wenige der Edelsten. Ließe sich auf das Grab jeder im Sturm zerschellten Hoffnung ein Leichenstein setzen – Amerika gliche einem großen Kirchhof und es wären gar rührende Dinge zu erzählen von den Träumen, die nicht in Erfüllung gingen.

Reinhold Solger hat in seinem Romane „Anton in Amerika“ ein wahres Wort gesprochen, wenn er sagt: es gehöre mehr dazu, wenn ein Deutscher in Amerika, als wenn er im alten Vaterlande sich hervorthun und Einfluß ausüben wolle. Wahrlich, die hiesigen Achtundvierziger haben diese Wahrheit allesammt an sich selbst empfunden. So Mancher unter ihnen, der drüben mit seinem Worte und seiner That Hunderttausende beeinflußte und, falls die politische Bewegung zu etwas dauernd Neuem geführt hätte, einen weltgeschichtlichen Namen davontragen mußte, sank nach seiner Einwanderung hierher zu einer blos localen Größe, ja zum ungenannten Privatmanne herab. Hier konnte es nicht gelten, etwas Neues in Staat und Gesellschaft herzustellen; man fand fertige, durchaus geregelte Zustände vor, in welche man sich mit allen anderen eingewanderten Landsleuten erst einleben mußte. Hier herrschten in erwerblicher und gewerblicher Hinsicht nicht jene kleinlichen, spießbürgerlichen deutschen Verhältnisse, aus denen man hergekommen war, sondern großartige, gewaltig vorwärts drängende, aus welchen man selbst gar viel zu lernen, bei denen man ganz neue, drüben ungewöhnliche Maßstäbe anzuwenden hatte. Hier konnte der Genialste und Gelehrteste zunächst nur als Schüler und Nachahmer, nicht als Lehrer und Neuerer figuriren, ganz wie seine weniger hervorragenden Landsleute, die sich in der That rascher in das neue Leben fanden und ihm Vortheile abgewannen, weil sie von Haus aus praktisch verständiger geblieben waren, und die deshalb bald auf ihre ideeller ausgebildeten ehemaligen Führer von einer gewissen Höhe herabsahen. Im Erlernen der Landessprache freilich, ohne welche hier kein Gedeihen des Einzelnen möglich, hatten es die Letzteren leichter; aber für ihr drüben Erlerntes, für ihre Wissenschaft und Kunst, ihre Reformgedanken und Denkerfindungen und Fertigkeiten gab es hier so gut wie keinen Markt, während die rüstigen Arme deutscher Bauern und Handwerker überall gesucht waren. So rächte sich die einseitige Mitgift des alten Vaterlandes, der Stolz des echten Deutschthums, gerade an seinen gebildeteren Söhnen auf’s Empfindlichste. Ach, wie bitter war diesen lange, lange Zeit das Exil! Wie viele gingen leiblich und geistig zu Grunde! Und die sich schließlich zur Selbstständigkeit und einer höheren Bedeutung für die neue Heimath emporarbeiteten – wie viel höher ist ihr Verdienst zu würdigen, als dasjenige gleich hervorragender Männer im alten Vaterlande!

Unter den verdienstvollsten Deutschen Amerikas muß Friedrich Münch[3], jetzt Staatssenator von Missouri, genannt werden. Sein Name und seine Vergangenheit sind allerdings Vielen im alten Vaterlande bekannt genug, zumal seinen Zeit- und Strebensgenossen aus der burschenschaftlichen Periode. Arnold Ruge hat in seinem interessanten Buche „Aus alter Zeit“, und er selbst hat in seiner Selbstbiographie (in den „deutsch-amerikanischen Monatsheften von C. Butz, jetzt Lexow“) die Erinnerung an seinen Antheil an Deutschlands Wiedergeburt im Gedächtniß jüngerer Geschlechter wieder aufgefrischt. Man kann als bekannt voraussetzen, daß Friedrich Münch mit den beiden Follen, seinen Schwägern, und mit den beiden Wesselhöft jene ältere deutsche Einwanderung nach den Vereinigten Staaten organisirt hat, die der Reaction von 1833 und 1834 entsprang und durch Wort, Schrift und Beispiel das Meiste dazu beigetragen hat, daß die deutsche Bevölkerung Amerikas seitdem um mehr als zwei Millionen gewachsen ist. Er war es ganz besonders, welcher die deutsche Einwanderung nach dem fernen Westen, nach Missouri und Illinois, gelenkt und ihr dadurch einen hervorragenden Einfluß gesichert hat. Wenn St. Louis eines vorwiegend deutsche Stadt geworden ist; wenn diese deutsche Stadt alsdann im Sonderbundskriege den Staat Missouri der Union gerettet und dadurch von vorn herein der Unionssache eine günstige Wendung gegeben hat; wenn auch im anstoßenden Illinois, Indiana, [598] Wisconsin und Iowa die deutsche Einwanderung riesige Verhältnisse angenommen und auf die freiheitliche Wendung der Unionspolitik und die energische Betreibung des Krieges gegen den Sonderbund großen Einfluß gewonnen hat: so ist von alledem und von den unabsehbaren Folgen alles dessen Friedrich Münch der Haupthebel geworden, indem er für die Besiedelung Missouris durch Deutsche seit mehr als dreißig Jahren gewirkt und die erste deutsche Colonie selbst dahin geführt hat. Die ganz unvergleichlichen Hülfsquellen dieses Staates verheißen ihm eine sehr große Zukunft, und die Geeignetheit seines Bodens und Klimas für deutsche Colonisation müssen ihn umsomehr zu einem vorwiegend deutschen Staate machen, da schon seit einigen Jahren seine deutsche Bevölkerung mindest doppelt so rasch wie jede andere zuzunehmen angefangen hat. Hier, wenn irgendwo in der Welt, wird ein deutscher Colonie-Staat entstehen können, in welchem deutsche Wissenschaft, Kunst, Schule und Geselligkeit Gesetze geben und Vorbilder zur Nachahmung aufstellen.

Alle Hochachtung vor dem Manne, der, obwohl hinter Büchern aufgewachsen, doch als Pionier die Axt, den Pflug und den Spaten in die Urwälder am Missouristrome getragen und mit seiner Hände Arbeit sich eine unabhängige Existenz gegründet und eine zahlreiche Familie wacker herangezogen hat, indeß sein Geist unermüdlich dem Fortschritt der Wissenschaften folgte und auch bei dem großen Werke deutscher Civilisation in der Fremde überall als Pionier Hand anlegte! In der deutschen und englischen Presse Amerika’s war er seit mehr als einem Jahrzehent unter dem Schriftstellernamen Far West (der ferne Westen) fleißig bemüht, bald über Verbesserungen im Ackerbau, oder über den Weinbau, bald über Tagespolitik, über religiöse, naturwissenschaftliche und viele andere Fragen von höchster Bedeutung klares Licht zu verbreiten. Gediegene Kenntnisse und ein besonnenes Urtheil zeichnen alle seine schriftstellerischen Arbeiten aus, denen außerdem eine kräftige, gedrängte Sprache Anziehungskraft verleiht. Sein Englisch ist so mustergültig, wie sein Deutsch. Ihm verdankt Missouri den Weinbau, durch welchen es bald genug fast alle weinerzeugenden Länder der Welt in den Schatten stellen wird. Ihm verdankt es viel in politischer Beziehung in der großen Zeit, da es sich gegen den rebellischen Süden in die Bresche warf, und wiederum, da es voriges Jahr eine Staatsverfassung gründlich im Sinne der Freiheit umgestaltete. Und wie er opferfreudig seine Söhne in den Krieg um die Union schickte, von denen einer in der Schlacht an Wilson’s Creek gefallen ist, so hat sein ganzes Leben seit dreiunddreißig Jahren den höchsten Gütern der Menschheit gegolten. Geachtet von Jedermann, steht er an der Schwelle des Greisenalters fast noch so rüstig da, wie als er den ersten Axthieb im Urwalde führte, und wer ihn in seinem durch deutschen Fleiß und Unternehmungsgeist blühenden Heimwesen besucht, findet an ihm den echten, einfachen, deutschen Biedermann, der durch die liebenswürdigste Gastfreundschaft bei einem Glase selbstgezogenen Weine vergessen macht, daß man sich mehr als eintausend zweihundert englische Meilen jenseit des atlantischen Weltmeeres befindet.

Unter denjenigen Deutschen, welchen die Union wegen der schließlichen Rettung von Westtexas aus den Klauen der Sonderbündler soviel verdankt, müssen zwei als besonders verdienstvoll genannt werden, Carl N. Riotte und Eduard Degener. Jener ist gebürtig aus Trier und war 1848 Beisitzer des Appellationsgerichts und Eisenbahndirector in Elberfeld, von wo er wegen seiner politischen Thätigkeit nach Texas zu flüchten gezwungen war. Ihm gehört das Verdienst an, die politisch ganz indifferenten Deutschen von Westtexas schon zu einer Zeit zur Bekämpfung der Sclaverei angeregt zu haben, da selbst im Norden der Union und unter den Angloamerikanern nur sehr Wenige dasselbe Streben kundgaben. Mit klarer Voraussicht eines unvermeidlichen Kampfes zwischen Freiheit und Sclaverei innerhalb der Union suchte er mitten im Sclaverei-Gebiete selbst eine Partei der Freiheit zu organisiren, welche das letztere zurückdrängen und die Sclavenhalter aus ihrer allmächtigen Offensive in eine ohnmächtige Defensive versetzen sollte. Zu diesem Zwecke gründete er die „San Antonio-Zeitung“ unter der Redaction Douai’s von Altenburg und gab den Anstoß zu einer politischen Convention von Abgeordneten aller deutschen Ansiedelungen von Texas, welche am 14. Mai 1854 zu San Antonio abgehalten wurde und sich entschieden für Abschaffung der Sclaverei aussprach. Es war ein kühner, aber wohlberechneter Plan, dem zum Gelingen blos eins fehlte – andauernde Einigkeit unter den Deutschen selbst. Sobald ein deutscher Verräther sich fand, der sich eine Gegenpartei bildete und den Sclavenhaltern die Thatsache denuncirte, daß es unter den Deutschen neben der Freiheitspartei auch noch eine der Sclaverei günstige gebe, war der Zauber gebrochen. Der alsbald beginnenden Verfolgung durch deutsche und angloamerikanische Sclavereiverfechter mußten die Wortführer der Freiheit nacheinander unterliegen. Der letzte von ihnen, der Stand gehalten hatte, Riotte, mußte im Frühling 1861 nach dem Norden entfliehen. Abraham Lincoln belohnte seine Dienste für die gute Sache durch den Gesandtschaftsposten in Costarica, welchen er noch inne hat.

Allein die von ihm ausgestreute Saat reifte, wenn auch für ihn zu spät, unter seinen Landsleuten in Westtexas. Beim Beginn des Sonderbundskrieges waren die dortigen Deutschen fast ohne Ausnahme entschiedene Unionisten und Feinde der Sclaverei geworden. Freilich zu spät auch für sie, denn, ihrer kühnen Führer beraubt, mußten sie in dem ungleichen Kampfe gegen einen wohlgerüsteten, überlegenen Feind den Kürzeren ziehen. Es ist bekannt, daß ihrer Hunderte meuchelmörderisch getödtet, Tausende außer Landes getrieben wurden. Zu denen, welche in dieser schweren Zeit der Verfolgung Stand hielten, gehörte Herr Ed. Degener, früher in Dessau Landtags-Abgeordneter und politischer Flüchtling, nachmals in Westtexas einer der Begründer der Freistaatsbewegung. Zwei seiner Söhne, herrliche, wohlerzogene Jünglinge, fielen tapfer kämpfend bis zum letzten Blutstropfen gegen die Secessionisten; er selbst saß lange in harter Haft. Endlich nach Niederwerfung des Sonderbundes von den dankbaren Deutschen von Westtexas zum Staatssenator gewählt, vertrat er jüngst auf der Staats-Convention zu Austin die Bürgerrechte der Farbigen und den Radicalismus in allen seinen Richtungen mit solcher Furchtlosigkeit und Beredsamkeit, daß dies durch die ganze Union hindurch das freudigste Aufsehen erregte. Dort, wo die meuchelmörderische Waffe in Jedermanns Tasche ist und freie Rede bis dahin ein unbekanntes Ding war, dort mußte ein Deutscher die Redefreiheit und den Mannessinn retten! Glücklicherweise stehen jetzt dreißigtausend Deutsche einmüthig hinter ihm, und der endlich befreite Norden streckt über ihn und sie die schützende Hand aus. Auch Texas hat eine schöne Zukunft. Dereinst, wenn sie in voller Wirklichkeit angebrochen sein wird, werden C. N. Riotte und Ed. Degener als „Väter des Vaterlandes“ ihre geehrten Namen der dankbaren Geschichte überliefert sehen.

Unter den Männern des Geistes, welche zeitweilig in Amerika ihre Heimath suchten und fanden, blickt wohl Keiner mit ungetrübterer Empfindung nach Amerika zurück, als der Doctor Löwe aus Calbe. Keinen sahen wir mit größerem Bedauern scheiden, Keinem wird ein freundlicheres Andenken bewahrt. Kein Lebenskampf konnte die vollendete Harmonie dieser Erscheinung stören, und es war in der vollsten Bedeutung des Worts ein Hochgenuß, ihn zu beobachten. Ein durch und durch volksthümlicher Charakter, verleugnete er nie eine gemessene Würde, welche die Gemeinheit zwang, das Haupt vor ihm zu beugen. Sich mit Vorliebe und enthusiastischem Interesse am öffentlichen Leben betheiligend, hielt er vollständig das Unschöne von sich fern, welches hier nur zu sehr dem Treiben auf der politischen Arena anklebt und dem selbst die Mehrzahl von Denen, welche dergleichen anwidert, sich accommodiren zu müssen glaubt. Nie ließ die Schärfe seines Urtheils da, wo es galt schonungslos die Wahrheit zu sagen, etwas zu wünschen übrig; aber nie konnte ihn nur für einen Augenblick die Leidenschaft übermannen, nie trat im Feuer der Debatte ein unedles Wort über seine Lippen. Mehr als ein Mal habe ich gesehen, wie in stürmischer Versammlung er allein die Ruhe des römischen Senators beibehielt und durch die Würde seiner Haltung den Sturm beschwichtigte. Im Privatleben hatte sich ihm ein segensvoller Wirkungskreis eröffnet, im öffentlichen trug er so viel wie irgend Einer dazu bei, dem Deutschthum von der edelsten Seite in Amerika Geltung zu verschaffen. Nur Lauteres durfte an ihn herantreten, nur Lauteres ging von ihm aus. So hat er auch unter uns gelebt, so ist er von uns geschieden, so hat er sich drüben wiederum bewährt, so zeugt er im lieben Deutschland von den in Amerika zurückgelassenen Brüdern, und so steht er vor uns als das Ideal eines deutschen Mannes.

Ein minder freundlicher Stern hat einem nicht weniger begabten Träger der Intelligenz geleuchtet. Rudolph Dulon kam [599] vor vierzehn Jahren nach Amerika, und es ist nicht ohne Nutzen, ihm auf seiner hiesigen Laufbahn zu folgen. Ihn umgab der Nimbus des durch Verfolgungen zum Märtyrerthum beförderten politischen und religiösen Agitators, und mit Wärme wurde er aufgenommen. Noch entsinne ich mich lebhaft des Sonntags, an welchem er im Shakespeare-Hotel, dem damaligen bevorzugten Sammelpunkte der gebildeten Deutschen in New-York, seinen ersten Vortrag hielt. Eine schöne, stattliche, majestätische Gestalt, trat er uns gegenüber, und majestätisch, prächtig, feurig verfloß der Strom seiner Rede. Stürmischer Beifall wurde ihm zu Theil, und mancher warme Händedruck kündete ihm den Dank der Hörer. Auf der kleinen Orchestertribüne aber, wo die verneinenden Geister sich gesammelt hatten, lautete das Urtheil: „Er spricht wie ein Pfaff!“ Ich weiß nicht, ob dies Herrn Dulon zu Ohren kam; sehr bald aber sollte er bemerken, daß die Elemente, welche ihn jetzt umgaben, weit von denen verschieden seien, an die er gewöhnt war, und es fehlte ihm durchaus die Gabe, diese Elemente zu beherrschen.

Ein wohlbestallter protestantischer Pfarrer als Redacteur der „Tageschronik“, als Herausgeber des „Wecker“, als Verfasser des Buches „Vom Kampf für Völkerfreiheit“, als republikanischer Redner und als politischer Flüchtling – das war in Deutschland ein Phänomen, welches in seiner Art nur von der, freilich vorübergehenden, Naturerscheinung des liberalen Papstes übertroffen wurde. Aber im liberalen Agitator war der Pfarrer, welcher gewohnt ist, Lesern und Hörern eine Autorität zu sein, nicht untergegangen, der freisinnige Theil des deutschen Elements in Amerika, unter dem ein Dulon allein wirken und auf den er allein rechnen konnte, hat sich vom Begriff jeglicher Autorität total losgesagt, und darum mußte der Pfarrer sehr bald Anstoß erregen, ohne daß ihm selbst oder sonst irgend Jemandem ein Vorwurf daraus zu machen war. Es wurde eine „freie Gemeinde“ gegründet, die ihn zu ihrem Sprecher wählte. Ich habe noch nie einen begabteren Redner gehört als Dulon, und es war eine Freude, seinen sonntäglichen Vorträgen beizuwohnen; aber an den Discussionsabenden, wo philosophische Themata von allen Seiten frei behandelt wurden, merkte Dulon sehr bald, daß er seiner Gemeinde keine Autorität, daß er nicht ihr Prediger, sondern eben nur ihr erwählter Sprecher sei. Statt diesen Verhältnissen tactvoll die rechte Seite abzugewinnen, war er thöricht genug, sich die fehlende Autorität erzwingen zu wollen.

Das ging nicht, es mußten Reibungen eintreten, bei Dulon machte sich eine immer größere Reizbarkeit geltend; die Verstimmung wuchs, und bald mußte der dem Sprecher warm befreundete Präsident, Doctor Aschenbrenner, in einer Generalversammlung das Geständniß ablegen, daß die Persönlichkeit des Herrn Dulon dem Gedeihen der Gemeinde hinderlich sei. Auch auf einem andern Felde sollte ihm der Beweis zu Theil werden, daß er seine Stellung in Amerika falsch erfasse. Es wurde auf Actien eine Zeitung, ein Sonntagsblatt, gegründet und Dulon’s Redaction übergeben. Er war felsenfest überzeugt, daß das Blatt in Amerika dasselbe Glück machen werde, wie einst die Tageschronik und der Wecker, daß sein Name hinreichen werde, dem Unternehmen die glänzendste Aufnahme zu sichern. Gaben wohlmeinende Freunde sich Mühe, diese kühnen Erwartungen auf ein den Verhältnissen entsprechendes bescheidenes Maß herabzustimmen, so war er sehr geneigt, das als ihm gebotene persönliche Beleidigung aufzufassen. Es kam, wie es kommen mußte. Das Blatt erschien, der theoretisirende Inhalt konnte unter dem Gezweig des grünen Lebensbaums, wo jegliche Theorie längst grau geworden, keinen Beifall finden, die Abonnentenzahl hob sich nur auf einige Hunderte, und nach Erschöpfung des kleinen Actiencapitals war es mit dem Sonntagsblatte vorbei. Den furchtbarsten Schlag aber versetzte Dulon sich dadurch, daß er in der letzten Nummer erklärte, die Deutschen in Amerika verdienten nicht, daß ihnen ein solches Blatt geboten werde, und das Zugrundegehen desselben gereiche ihnen zur unauslöschlichen Schande.

Ein solcher Abschied mußte Dulon die Bahn des öffentlichen Lebens in Amerika für lange Zeit, wenn nicht für immer, verschließen. Er gründete ein Kosthaus und gerieth, als es auch hiermit nicht ging, endlich in die Carriere, für die er nach meiner Ueberzeugung geschaffen ist, nämlich er etablirte eine Schule. Die Erfahrungen, welche er auf diesem Felde gesammelt, hat er selbst kürzlich in einem Werke, das ich als bekannt voraussetzen darf, dem. deutschen Volke vorgelegt. Leider hat er auch hieraus die persönliche Leidenschaftlichkeit nicht fern halten können, welche ihm in Amerika so manche bittere Prüfung eingebracht. Aber um das deutsche Schulwesen in Amerika hat Rudolph Dulon sich große Verdienste erworben und die Gerechtigkeit fordert, daß er den Lohn dafür ernte.

Kürzlich traf ich nach einer Reihe von Jahren wieder einmal mit Dulon zusammen. Sein Anblick erschütterte mich tief. Die majestätische Gestalt war unter der Last der Leiden gebeugt, die energische Stimme langsamer geworden. Auf meine Aeußerung, daß es mir sei, als hätte ich ihn erst vor Kurzem gesehen, erfolgte die schmerzlich betonte Antwort: „Es liegt doch viel dazwischen!“ Aber in den Augen glühte das alte Feuer, und greift ein friedliches Geschick hülfreich ein, dann wird der gebeugte Nacken des alten, braven, hochverdienten Mannes noch einmal wieder so gerade werden, wie je zuvor. Mögen die Deutsch-Amerikaner diese Kraft nicht rosten lassen! Nicht leicht ist sie zu ersetzen, und Dulon hat es verdient, daß er seine Laufbahn in dem segenvollen Wirkungskreise, in den er gehört, geliebt und geschätzt beschließe. Er ist ein großes Rednertalent und viele seiner Zuhörer hängen mit unendlicher Liebe an ihm.

Verweilen wir jetzt noch kurz bei einem Manne, welcher allerdings nicht werth ist, an der Seite der Andern genannt zu werden, und hier nur des Contrastes wegen seinen Platz finden möge. Vor etwa einem halben Jahr stellte sich eine Persönlichkeit bei mir ein, welche jemals gesehen zu haben ich mich nicht entsinnen konnte. Ein aufgedunsenes Gesicht, abgerissene Kleidung, das leibhaftige Bild geistiger und physischer Verkommenheit. Schüchtern trat er auf mich zu und sagte leise: „Erschrecken Sie nicht vor meinem Namen, ich bin – Dowiat!“ In der That erschrak ich und blickte ihn prüfend an. Und er war es, der früher so hoch angesehene Prediger der deutsch-katholischen Gemeinde in Danzig; mit Mühe ließ sich noch eine Spur von den sonst so schönen Zügen entdecken. Leise fuhr er fort, mir seine überstandenen Leiden zu schildern und um Mitleid, um ein freundliches Wort, einen Händedruck, eine nachsichtige Aufnahme zu bitten – er, der die herrlichsten Gaben ruchlos verzettelt, der an sich selbst zum frevelhaften Lügner geworden, der, zum Höchsten berufen, sich in den Pfuhl des Lasters stürzte, zuletzt sich den südlichen Freiheitsschändern anschloß und selbst ihnen noch zu schlecht war. Es wurde ihm kein Händedruck, kein freundliches Wort zu Theil, und leise, verstohlen, unbemerkt, wie er gekommen war, verschwand er wieder. Kurz darauf erschien seine Erklärung, daß er, des Jagens nach politischen Phantomen überdrüssig, wieder in den Schooß der Kirche zurückkehre und sich geduldig der unendlichen Gnade Gottes empfehle. Will er selbst seinen Gott noch betrügen, nachdem er die Welt betrogen? Diese Menschenruine fällt weder Amerika, noch seinen Verhältnissen zur Last, wohl aber hat man es vielleicht diesen zu verdanken, daß der Heuchler entlarvt worden ist.




Blätter und Blüthen.


Das transatlantische Kabel im Dienste der Wissenschaft. Neben der großen und bedeutungsvollen Rolle, welche das transatlantische Telegraphenkabel in internationaler, commercieller, maritimer und politischer Hinsicht von nun an in der modernen Welt zu spielen berufen scheint, ist dasselbe bestimmt, auch den verschiedenen Zweigen der Wissenschaft, namentlich der Astronomie, der Nautik, der Meteorologie etc. die wichtigsten Dienste zu leisten. Die erste Anwendung dieser Art, welche das neue Kabel finden wird, besteht in der genauen Bestimmung der geographischen Länge der Insel Neufundland und folglich der richtigen Entfernung des amerikanischen vom europäischen Festlande, welche, ungeachtet zahlreicher, mit möglichster Sorgfalt ausgeführter chronometrischer Längenmessungen immer noch nicht mit der für gewisse astronomische und nautische Zwecke erforderlichen Genauigkeit festgestellt ist.

Unter geographischer Länge versteht man bekanntlich den östlichen oder westlichen Abstand eines Ortes von dem als Ausgangspunkt angenommenen Hauptmeridian, oder allgemein ausgedrückt, die Entfernung zweier Orte in der Richtung von Westen nach Osten. Da sich nun die Erde in vierundzwanzig Stunden von Westen nach Osten um ihre Achse dreht und in Folge dessen sämmtliche Punkte des Erdumfanges die Sonne nicht gleichzeitig, sondern nacheinander auf- und untergehen sehen, so ist klar, daß an den verschiedenen Punkten der Erdoberfläche in einem und demselben Augenblicke die Tageszeit eine sehr verschiedene sein und stets um so weniger betragen müsse, je [600] weiter der betreffende Ort, nach Westen zu liegt, so zwar, daß gleiche Unterschiede der Tageszeit immer gleichen Unterschieden des Raumes entsprechen, indem auf eine Zeitdifferenz von einer Stunde (dem vierundzwanzigsten Theile der ganzen Rotationszeit der Erde) jedesmal auch der vierundzwanzigste Theil des ost-westlichen Erdumfanges, also fünfzehn Grade und folglich auf einen Grad ein Zeitunterschied von vier Minuten kommt. Haben wir z. B. eben zwölf Uhr Mittags, so liegt der Ort, dessen Uhren in demselben Augenblick elf Uhr dreißig Minuten anzeigen, um den achtundvierzigsten Theil des Erdumfanges, also sieben und einen halben Grad westlich von uns. Beträgt dagegen der Zeitunterschied zweier Orte sechs Stunden oder den vierten Theil des Tages, so ist auch die gegenseitige Entfernung derselben gleich dem vierten Theile des Erdumfanges oder neunzig Graden. Der Zeitunterschied zweier Orte ist hiernach vollkommen gleichbedeutend mit dem Längenunterschiede derselben und giebt daher ein einfaches und bequemes Mittel ab, letzteren zu messen. Es ist hierzu weiter nichts erforderlich, als auf irgend eine Weise genau zu ermitteln, welche Zeit die Uhren der betreffenden beiden Orte in einem und demselben Augenblicke anzeigen, woraus sich alsdann aus der hierbei sich ergebenden Zeitdifferenz nach dem oben erwähnten einfachen Verhältnisse von je vier Minuten auf einen Grad leicht der Längenabstand berechnen läßt, welcher beide Orte von einander trennt. Gewöhnliche Uhren sind in diesem Falle, wo es sich um Bruchtheile von Secunden handelt, selbstverständlich nicht zu gebrauchen und man bedient sich deshalb hierbei stets der unter dem Namen Chronometer bekannten und von Harrison erfundenen vervollkommneten Uhren, welche von den wechselnden Temperatureinflüssen wenig berührt werden und vermöge ihres hierdurch bedingten sicheren und gleichförmigen Ganges die genauesten künstlichen Zeitmesser darstellen.

Um nun eine derartige Längenbestimmung in der eben beschriebenen Weise praktisch auszuführen, richtet man einfach ein solches Chronometer genau nach der Zeit des einen der beiden Orte, deren gegenseitige Entfernung man zu bestimmen wünscht, und begiebt sich hierauf mit demselben nach dem zweiten Orte, an welchem sich gleichfalls ein gutes Chronometer befinden muß, das genau nach der Zeit dieses letzteren Punktes regulirt ist. Man vergleicht dann sorgfältig den Stand der beiden Chronometer und findet so die zwischen den beiden Orten herrschende Zeitdifferenz, aus welcher sich alsdann deren Längenunterschied, wie oben angegeben, leicht berechnen läßt.

In ähnlicher Weise verfährt auch der Seemann auf offenem Meere, um den Ort, an welchem sich ein Schiff gerade befindet, in Hinsicht auf östliche oder westliche Abweichung zu bestimmen. Vor seiner Abfahrt von einer Küste richtet er zu diesem Ende das Schiffschronometer, die sogenannte Seeuhr, genau nach der richtigen Sonnenzeit dieses Punktes, was ihn in den Stand setzt, zu jeder Zeit und an jedem beliebigen Orte auf hoher See genau zu wissen, wie viel Uhr es an dieser Küste ist. Will er nun während der Reise die östliche oder westliche Entfernung des Schiffes von dem Abfahrtsorte kennen lernen, so hat er weiter nichts zu thun, als die Tageszeit des betreffenden Ortes, den das Fahrzeug gerade passirt, aus dem Stande der Sonne oder der Gestirne sorgfältig zu bestimmen und sodann hiermit den Stand seines Schiffschronometers zu vergleichen, das ihm angiebt, wie viel Uhr es in demselben Augenblicke an der in Rede stehenden Küste ist, woraus sich alsdann die gesuchte Längendistanz durch einfache Rechnung von selbst ergiebt. Ein Hauptnachtheil dieser chronometrischen Längenbestimmungsmethode, deren Resultate zwar den Bedürfnissen der Schifffahrt und der beschreibenden Geographie genügen, aber keinen Anspruch auf wissenschaftliche Genauigkeit haben, besteht darin, daß, um die Zeit zweier entfernt von einander liegenden Orte vergleichen zu können, man stets ein Chronometer von dem einen dieser beiden Orte nach dem andern bringen und es folglich eine Land- oder Seereise machen lassen muß, wobei dasselbe durch Erschütterungen, Schwankungen und Stöße mannigfache Störungen erleidet, welche nothwendigerweise die Richtigkeit der Ergebnisse wesentlich beeinträchtigen.

Ein vorzügliches Mittel, die ost-westliche Entfernung zweier Punkte zu bestimmen, bietet der elektro-magnetische Telegraph dar, dessen zauberhaftes Spiel es ermöglicht, die Zeit zweier auch noch so entfernten Punkte gleichzeitig zu wissen, und welcher daher neuerdings mit dem besten Erfolge für diesen Zweck angewendet werd. Da nämlich der elektrische Strom den Leitungsdraht mit einer Geschwindigkeit von Tausenden von Meilen in der Secunde durchläuft und demnach den Erdball an der Stelle seines größten Umfanges in einer einzigen Secunde mehrere Male umkreisen würde, so kann man bei dieser aller irdischen Entfernungen spottenden Geschwindigkeit ohne jede Gefahr eines Irrthums annehmen, daß derselbe in dem nämlichen Momente, in welchem er von irgend einem Punkte ausgeht, auch bereits an seinem Ziele angelangt ist und daß folglich ein Signal, das man an dem einen Endpunkte einer Telegraphenlinie giebt, in demselben Augenblicke auch an dem anderen Endpunkte derselben wahrgenommen werden muß. Mit Hülfe des Telegraphen lassen sich demnach zwei durch eine auch noch so bedeutende Entfernung getrennte Uhren in ihren Zeitangaben mit derselben Genauigkeit miteinander vergleichen, wie wenn dieselben nebeneinander ständen. Ein in Berlin genau um ein Uhr abgehendes Signal trifft z. B. bei ununterbrochener telegraphischer Verbindung in Paris um zwölf Uhr fünfzehn Minuten sechsundvierzig Secunden ein, und da man nach dem eben Gesagten den Abgang und die Ankunft des Signales als vollkommen gleichzeitig betrachten kann, so weichen demnach die Pariser und Berliner Zeit um vierundvierzig Minuten vierzehn Secunden voneinander ab, woraus sich der Längenunterschied beider Städte zu 11°3′ 30″ berechnet.

In gleicher Weise fällt nun auch dem neuen transatlantischen Kabel die Aufgabe zu, uns über den genauen Zeit- und Längenunterschied zwischen der irischen und der neufundländischen Küste zu belehren, wozu sich dasselbe um so mehr eignet, da die telegraphische Verbindung zwischen beiden Punkten in diesem Falle eine ohne jeden Umweg fast gerade von Osten nach Westen laufende und durch keine Zwischenstationen unterbrochene Linie darstellt. Das hierzu anzuwendende Verfahren besteht nach dem vorhin Gesagten einfach darin, an den beiden Endpunkten, in Valentia und in Neufundland, unter der Aufsicht von kundigen Fachmännern zwei richtig gehende und genau nach der Zeit des betreffenden Ortes regulirte Chronometer aufzustellen und hierauf nach vorhergegangener Uebereinkunft von der einen Station in möglichst kurzen Zeichen die Zeitangabe des betreffenden Chronometers nach der andern Station zu telegraphiren, was man der größeren Sicherheit wegen und zum Zweck sorgfältiger Controle mehrere Male wechselseitig von beiden Endstationen aus wiederholt. Die Hauptschwierigkeit dieser Operation liegt demnach in der Raschheit und Präcision der Ausführung, und es ist daher für die Erlangung genauer Resultate sehr wesentlich, daß jene von erprobten Männern der Wissenschaft geleitet werde.

Hat man auf diese Weise durch die Vergleichung des amerikanischen und des europäischen Chronometers die genaue Zeitdifferenz zwischen Neufundland und Valentia bestimmt und hieraus den wirklichen Längenunterschied beider Punkte, in Graden ausgedrückt, berechnet, so ist es alsdann, da man die Meilenzahl kennt, welche unter dieser Breite ein Längengrad umfaßt, nicht mehr schwer, die gefundene Zahl von Graden, Minuten und Secunden in Meilen zu verwandeln und so die wirkliche Entfernung Neufundlands von Irland kennen zu lernen. Nach den bisherigen mehr annähernden Messungen beträgt der Raum, welcher die amerikanische Ostküste von der europäischen Westküste trennt, ungefähr den sechsten Theil des Erdumfanges und entspricht demnach einer Zeitdifferenz von etwa vier Stunden so daß die Uhren in St. Johns erst acht Uhr in der Frühe anzeigen, während es in Valentia bereits zwölf Uhr Mittags ist.

Wie wünschenswerth und wichtig es in zahlreichen Fällen des geistigen und geschäftlichen Verkehrs ist, statt dieser nur ungefähren und unbestimmten Zahlenwerthe genau den Raum und die Zeit zu kennen welche uns von dem Leben und Treiben der neuen Welt scheiden, bedarf wohl keiner näheren Begründung, und es wird, daher nicht zu den kleinsten Verdiensten der unterseeischen Telegraphie gehören, uns auch über diesen Punkt aufgeklärt zu haben.
Emil Sommer.





Für die Invaliden und Hinterlassenen der Gefallenen

gingen wieder ein: E. B. in Frankenhausen bei Crimmitzschau 5 Thlr. – Gretchen A. 1 Thlr. – Dorchen A. 1 Thlr. – Erste und zweite Gabe eines süddeutschen Patrioten 1 Thlr. 4 Ngr. – P. K. in Leipzig 1 Thlr. – Aus der Sparbüchse von Clara Zeißig in Hohenstein 2 Thlr. – Zwei Arbeiterinnen F. und S. aus Jena 3 Thlr. – Von einem in Abo (Finnland) wohnenden Lübecker 25 Thlr. – H. A. H. 1 Thlr. – Vereins-Turnerschaft in Meerane 12 Thlr. – F G. H. in Landau (Pfalz) 2 Friedrichsd’or. – Buschmann (aus Frankreich) 3 Thlr. – Dr. R. E. 3 Thlr. – E. F. 1 Thlr. – Frau H. in Lobenstein 2 Thlr. – Turnverein in Fraureuth 5 Thlr. – Aus Böhmen, von einem ehemaligen Grenadier des preußischen Kaiser-Franz-Grenadier-Regiments 2 Thlr. – T. A. L. in Leipzig 6 Thlr. – F. K. und E. U. in Hamburg 3 Thlr. – Fräulein Böhme in Thornfield bei Limerik 5 Thlr. – Wiegand in 2 Thlr. – U. 3 Thlr. – Wittwe E. J. in Harras 2 Thlr. nebst Verbandzeug – Lehrer Kretschau in Tonndorf 2 Thlr. – Aus Groitzsch 2 Thlr. – Keine Einheit ohne Freiheit 1 Thlr. – Von einer deutschen Frau in Texas 5 Thlr. 15 Ngr. – Von einem Damenkränzchen in Gräfenthal 5 Thlr. 20 Ngr. – Kohl in Eisenach (bei Gelegenheit eines heiteren Kindtaufenschmauses) 2 Thlr. – F. St. in Neustadt a. O. 2 Thlr. – F. in Detmold 2 Thlr. 7½ Ngr. – K. Aue in Weimar 1 Thlr. – Von einem Mädchenkränzchen in Reichenbach 6 Thlr. – Von einem deutschen Mädchen in Markneukirchen 5 Thlr. – 2 Thlr. vom Lesekränzchen und 1 Thlr. von M. H. in Neustadt a. O. nebst Verbandzeug. – Von sechs Deutschen aus Dessau, Straßburg, Mannheim, Stuttgart, Wien und Crossen, jetzt in Grasse (Südfrankreich) 50 Francs. – Elisabeth Kronberger in Ludwigshafen 6 fl. rhn. – Ertrag eines Concerts des Gesangvereins in Stadt Ilm 19 Thlr. – Männer-Turnverein in Meiningen 4 Thlr. – Männergesangverein in Apolda 20 Thlr. mit den Worten:

„Den Männern, welche in dem hoffentlich beendigten Kriege zur Einheit, Neugestaltung und Machtentwickelung unseres Vaterlandes zum Kampf gerufen und in demselben ihr Blut vergossen, den verwundeten deutschen Kriegern, übersendet mit inniger Theilnahme als Beitrag zur Linderung ihrer Schmerzen und zur Erquickung, der Unterzeichnete, welcher vielleicht mit vielen derselben in brüderlicher Eintracht und Liebe zu deutschen Sängerfesten, Deutschlands Wohlfahrt und Einheit besungen, den Betrag von zwanzig Thalern an verehrliche Redaction der Gartenlaube mit der freundlichen Bitte zur bestmöglichen Vertheilung. In der Hoffnung und mit dem herzlichsten Wunsche, daß der Nürnberger Sängerfestspruch:

‚Deutsches Banner, Lied und Wort
Eint in Liebe Süd und Nord‘.

sich in Kürze bewahrheitet, zeichnet:
Der Männergesangverein Apolda in Thüringen.“

An Schmuckgegenständen gingen noch ein:

Emma Ghr. in Meißen eine Brosche mit Ohrringen, nebst Verbandzeug. – A. S. in Schloß Chemnitz: Die Stickerei einer Nonne in Breslau und mehre Ellen feiner Spitzen. – Von einer Lehrerin, das Geschenk dankbarer Schülerinnen, ein goldenes Armband.
Die Redaction.

Nicht zu übersehen! Mit nächster Nummer schließt das dritte Quartal. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
Die Verlagshandlung.

Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Provincielle Abkürzung für Margarethe.
  2. Die eigenen Worte des Fürsten bei Einsetzung des Kanzlers von Bretschneider, am 12. September 1840 gesprochen.
  3. Unsere Leser kennen diesen trefflichen Mann aus seinem Beitrag in Nr. 27.
    D. Red.