Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl I/Fünftes Capitel

Viertes Capitel Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band (1875)
von Charles Darwin
Sechstes Capitel


[165]
Fünftes Capitel.
Ueber die Entwickelung der intellectuellen und moralischen Fähigkeiten während der Urzeit und der civilisirten Zeiten.
Fortbildung der intellectuellen Kräfte durch natürliche Zuchtwahl. – Bedeutung der Nachahmung. – Sociale und moralische Fähigkeiten. – Ihre Entwickelung innerhalb der Grenzen eines und desselben Stammes. – Natürliche Zuchtwahl in ihrem Einfluss auf civilisirte Nationen. – Beweise, dass civilisirte Nationen einst barbarisch waren.

Die in diesem Capitel zu erörternden Gegenstände sind von dem höchsten Interesse, werden aber von mir in einer sehr unvollkommenen und fragmentaren Weise behandelt werden. In einem schon vorhin erwähnten ausgezeichneten Aufsatze sucht Mr. Wallace zu beweisen,[1] dass der Mensch, nachdem er zum Theil jene intellectuellen und moralischen Fähigkeiten erlangt hatte, welche ihn von den niederen Thieren unterscheiden, nur in geringem Maasse eine weitere, durch natürliche Zuchtwahl oder irgend welche andere Mittel bewirkte Modification seiner körperlichen Bildung erfahren haben dürfte. Denn durch seine geistigen Fähigkeiten ist der Mensch in den Stand gesetzt, „sich bei einem nicht weiter veränderten Körper mit dem sich verändernden Universum in Harmonie zu erhalten“. Er hat eine bedeutende Fähigkeit, seine Gewohnheiten neuen Lebensbedingungen anzupassen; er erfindet Waffen, Werkzeuge und denkt sich verschiedene Pläne aus, um sich Nahrung zu verschaffen und sich zu vertheidigen. Wenn er in ein kälteres Clima wandert, so benutzt er Kleider, baut sich Hütten und macht Feuer, und mit Hülfe des Feuers bereitet er sich durch Kochen Nahrung aus sonst unverdaulichen Stoffen. Er hilft seinen Mitmenschen in mannichfacher Weise und schliesst auf zukünftige Ereignisse. [166] Selbst in einer sehr weit zurückliegenden Zeit schon führte er eine Theilung der Arbeit aus.

Andererseits müssen die niederen Thiere Modificationen ihres Körperbaues erleiden, um unter bedeutend veränderten Bedingungen leben zu bleiben. Sie müssen stärker gemacht werden, oder müssen wirksamere Zähne oder Klauen erhalten, um sich gegen neue Feinde zu vertheidigen; oder sie müssen an Grösse reducirt werden, um weniger leicht entdeckt werden zu können und Gefahren zu entgehen. Wandern sie in ein kälteres Clima aus, so müssen sie mit dickerem Pelze bekleidet werden oder ihre Constitution muss sich ändern. Werden sie nicht in dieser Weise modificirt, so werden sie aufhören, zu existiren.

Wie indessen Mr. Wallace mit Recht betont hat, liegt der Fall in Bezug auf die intellectuellen und moralischen Fähigkeiten des Menschen sehr verschieden. Diese Fähigkeiten sind variabel, und wir haben allen Grund zu glauben, dass die Abweichungen zur Vererbung neigen. Wenn sie daher früher für den Urmenschen und seine affenähnlichen Urerzeuger von grosser Bedeutung waren, so werden sie durch natürliche Zuchtwahl vervollkommnet oder fortgeschritten sein. Ueber die grosse Bedeutung der intellectuellen Fähigkeiten kann kein Zweifel bestehen, denn der Mensch verdankt ihnen hauptsächlich seine hervorragende Stellung auf der Erde. Wir sehen ein, dass auf dem rohesten Zustande der Gesellschaft diejenigen Individuen, welche die scharfsinnigsten waren, welche die besten Waffen oder Fallen erfanden und benutzten und welche wohl am besten im Stande waren, sich zu vertheidigen, die grösste Zahl von Nachkommen erzogen haben werden. Diejenigen Stämme, welche die grösste Anzahl von so begabten Menschen umfassten, mussten an Zahl zugenommen und andere Stämme unterdrückt haben. Die Zahl hängt an erster Stelle von den Subsistenzmitteln ab und diese wieder theilweise von der physikalischen Beschaffenheit des Landes, aber in einem bedeutend höheren Grade von den dort ausgeübten Künsten. In dem Maasse als ein Stamm sich ausdehnt und siegreich ist, wird er sich oft noch weiter durch die Absorption anderer Stämme vergrössern.[2] Die Körpergrösse und Kraft der Menschen eines Stammes sind gleichfalls für seinen Erfolg von [167] ziemlicher Bedeutung und Längen zum Theil von der Beschaffenheit und der Menge der Nahrung ab, welche erlangt werden kann. In Europa wurden die Menschen der Bronzeperiode von einer kräftigeren und, nach ihren Schwertgriffen zu urtheilen, auch grosshändigeren Rasse verdrängt;[3] der Erfolg dieser war aber wahrscheinlich in einem bedeutend höheren Grade eine Folge ihrer Ueberlegenheit in den Künsten.

Alles was wir über Wilde wissen oder was wir aus ihren Traditionen und alten Denkmälern, deren Geschichte von den jetzigen Bewohnern der betreuenden Länder vollständig vergessen ist, schliessen können, weist darauf hin, dass von den entferntesten Zeiten an erfolgreiche Stämme andere Stämme verdrängt haben. Ueberreste ausgestorbener oder vergessener Stämme sind in allen civilisirten Gegenden der Erde, auf den wilden Steppen von America und auf den isolirten Inseln des Stillen Oceans entdeckt worden. Noch heutigen Tages verdrängen überall civilisirte Nationen barbarische, ausgenommen da wo das Clima eine Grenze für die Entwickelung des Lebens zieht, und sie haben hauptsächlich, wenn auch nicht ausschliesslich, ihren Erfolg ihren Kunstfertigkeiten zu danken, welche wiederum das Product ihres Verstandes sind. Es ist daher höchst wahrscheinlich, dass beim Menschen die intellectuellen Fähigkeiten allmählich durch natürliche Zuchtwahl vervollkommnet worden sind, und dieser Schluss genügt für unseren vorliegenden Zweck. Unzweifelhaft würde es sehr interessant gewesen sein, die Entwickelung jeder einzelnen Fähigkeit von dem Zustande, in welchem sie bei niederen Thieren existirte, zu dem, in welchem sie beim Menschen vorhanden ist, zu verfolgen; doch gestatten mir weder meine Fähigkeit noch meine Kenntnisse, diesen Versuch zu machen.

Es verdient Beachtung, dass, sobald die Urerzeuger des Menschen social wurden (und dies trat wahrscheinlich zu einer sehr frühen Periode ein), die Fortschritte der intellectuellen Fähigkeiten in einer Weise durch das Princip der Nachahmung in Verbindung mit Verstand und Erfahrung unterstützt und motivirt sein werden, von welcher wir jetzt bei den niederen Thieren nur Spuren sehen. Affen ahmen sehr gern Alles nach, wie es auch die niedrigsten Wilden thun; und die einfache, früher schon erwähnte Thatsache, dass nach einer gewissen Zeit kein Thier an demselben Ort durch dieselbe Art von Fallen gefangen werden kann, zeigt, dass Thiere durch Erfahrung lernen und die Vorsicht [168] ihrer Genossen nachahmen. Wenn nun in einem Stamme irgend ein Mensch, welcher scharfsinniger ist als die Uebrigen, eine neue Finte oder Waffe oder irgend ein anderes Mittel des Angriffs oder der Vertheidigung erfindet, so wird das offenbarste eigene Interesse, ohne die Unterstützung grosser Verstandesthätigkeit, die andern Glieder des Stammes dazu bringen, ihm nachzuahmen, und hierdurch werden Alle Vortheile haben. Die gewohnheitsgemässe Uebung einer jeden neuen Kunst muss gleichfalls in einem unbedeutenden Grade den Verstand kräftigen. Ist die neue Erfindung von grosser Bedeutung, so wird der Stamm an Zahl zunehmen, sich verbreiten und andere Stämme verdrängen. In einem hierdurch zahlreicher gewordenen Stamme wird auch die Wahrscheinlichkeit immer grösser sein, dass andere ausgezeichnete und erfinderische Glieder geboren werden. Hinterlassen solche Leute Kinder, welche deren geistige Ueberlegenheit erben können, so wird die Wahrscheinlichkeit der Geburt von noch ingeniöseren Mitgliedern wieder grösser werden und besonders bei einem sehr kleinen Stamme ganz entschieden grösser. Selbst wenn sie keine Kinder hinterlassen, wird doch der Stamm wenigstens Blutverwandte von ihnen noch enthalten, und es ist von Landwirthen[4] nachgewiesen worden, dass durch das Erhalten einer Familie und das Nachzüchten von ihr, wenn sich überhaupt nur ein Thier aus derselben beim Schlachten als ein werthvolles herausstellte, die gewünschte Beschaffenheit erlangt worden ist.

Wenden wir uns nun zu den socialen und moralischen Fähigkeiten. Damit die Urmenschen oder die affenähnlichen Urerzeuger des Menschen social würden, mussten sie dieselben instinctiven Gefühle erlangt haben, welche andere Thiere dazu treiben, in Menge beisammen zu leben; und sie boten ohne Zweifel dieselbe allgemeine Disposition dazu dar. Sie werden sich ungemüthlich gefühlt haben, wenn sie von ihren Kameraden getrennt waren, für welche sie einen gewissen Grad von Liebe gefühlt haben; sie werden einander vor Gefahr gewarnt haben und werden sich gegenseitig beim Angriff oder bei der Vertheidigung unterstützt haben. Alles dies setzt einen gewissen Grad von Sympathie, von Treue und von Muth voraus. Derartige sociale Eigenschaften, deren wichtige Bedeutung für die niederen Thiere Niemand bestritten [169] hat, wurden ohne Zweifel von den Urerzeugern des Menschen auch in einer ähnlichen Weise erlangt, nämlich durch natürliche Zuchtwahl mit Unterstützung einer vererbten Gewohnheit. Kamen zwei Stämme des Urmenschen, welche in demselben Lande wohnten, mit einander in Concurrenz, so wird, wenn der eine Stamm bei völliger Gleichheit aller übrigen Umstände eine grössere Zahl muthiger, sympathischer und treuer Glieder umfasste, welche stets bereit waren, einander vor Gefahr zu warnen, einander zu helfen und zu vertheidigen, dieser Stamm ohne Zweifel am besten gediehen sein und den andern besiegt haben. Man darf nicht vergessen, von welcher unendlichen Bedeutung bei den nie aufhörenden Kriegen der Wilden Treue und Muth sein müssen. Die Ueberlegenheit, welche disciplinirte Soldaten über undisciplinirte Massen zeigen, ist hauptsächlich eine Folge des Vertrauens, welches ein Jeder in seine Kameraden setzt. Gehorsam ist, wie Mr. Bagehot sehr gut entwickelt hat,[5] von der höchsten Bedeutung, denn irgend eine Form von Regierung ist besser als gar keine. Selbstsüchtige und streitsüchtige Leute werden nicht zusammenhalten, und ohne Zusammenhalten kann nichts ausgerichtet werden. Ein Stamm, welcher die obengenannte Eigenschaft in hohem Grade besitzt, wird sich verbreiten und anderen Stämmen gegenüber siegreich sein; aber im Laufe der Zeit wird, nach dem Zeugniss der ganzen vergangenen Geschichte, auch er an seinem Theil von irgend einem andern und noch höher begabten Stumme überflügelt werden. Hierdurch werden die socialen und moralischen Eigenschaften sich langsam zu erhöhen und über die ganze Erde zu verbreiten neigen.

Man könnte aber nun fragen: woher kam es, dass innerhalb der Grenzen eines und desselben Stammes eine grössere Anzahl seiner Glieder zuerst mit socialen und moralischen Eigenschaften begabt wurde und wodurch wurde der Maassstab der Vorzüglichkeit erhöht? Es ist äusserst zweifelhaft, ob Nachkommen der sympathischeren und wohlwollenderen Eltern oder derjenigen, welche ihren Kameraden am treuesten waren, in einer grösseren Anzahl aufgezogen wurden als Kinder selbstsüchtiger und verrätherischer Eltern desselben Stammes. Wer bereit war, sein Leben eher zu opfern als seine Kameraden zu verrathen, wie es gar mancher Wilde gethan hat, der wird oft keine Nachkommen hinterlassen, welche seine edle Natur erben könnten. Die [170] tapfersten Leute, welche sich stets willig fanden, sich im Krieg an die Spitze ihrer Genossen zu stellen, und welche bereitwillig ihr Leben für Andere in die Schanze schlugen, werden im Durchschnitt in einer grösseren Zahl umkommen als andere Menschen. Es scheint daher kaum wahrscheinlich, dass die Zahl mit solchen Tugenden ausgerüsteter Menschen oder der Maassstab ihrer Vortrefflichkeit durch natürliche Zuchtwahl, d. h. durch das Ueberlebenbleiben des Passendsten erhöht werden könnte; denn davon sprechen wir hier nicht, dass ein Stamm aus einem Kampfe mit einem andern siegreich hervorgeht.

Wenngleich die Umstände, welche zu einer Zahlenzunahme so begabter Leute innerhalb eines und desselben Stammes führen, zu complicirt sind, um einzeln deutlich verfolgt werden zu können, so sind wir doch im Stande, einige der wahrscheinlichen Schritte zu erkennen. So wird an erster Stelle in der Weise wie die Verstandeskräfte und die Voraussicht der einzelnen Glieder sich verbessern, jeder Mensch bald lernen, dass, wenn er seine Mitmenschen unterstützt, er auch gewöhnlich in Erwiderung Hülfe von ihnen erfahren wird. Aus diesem niedrigen Motive dürfte er die Gewohnheit, seinen Genossen zu helfen, erlangen; und die Gewohnheit, wohlwollende Handlungen auszuüben, kräftigt sicherlich das Gefühl der Sympathie, welches den ersten Antrieb zu wohlwollenden Handlungen abgibt. Ueberdies neigen Gewohnheiten, welchen mehrere Generationen hindurch die Menschen gefolgt sind, wahrscheinlich zur Vererbung.

Es gibt aber noch einen andern und noch kräftigeren Antrieb zur Entwickelung der socialen Tugenden, nämlich das Lob und den Tadel unserer Mitmenschen. Wie wir bereits gesehen haben, ist es zunächst eine Folge des Instincts der Sympathie, dass wir beständig Andern beides, sowohl Lob als Tadel, ertheilen, während wir, wenn beides auf uns bezogen wird, das Lob lieben und den Tadel fürchten; und dieser Instinct wurde ohne Zweifel ursprünglich wie alle übrigen socialen Instincte durch natürliche Zuchtwahl erlangt. Wie früh in ihrer Entwickelung die Urerzeuger des Menschen fähig wurden, das Lob oder den Tadel ihrer Mitgeschöpfe zu fühlen und durch sie beeinflusst zu werden, können wir natürlich nicht sagen; aber es scheint, dass selbst Hunde Ermuthigung, Lob und Tadel wohl zu schätzen wissen. Die rohesten Wilden kennen das Gefühl des Ruhms, wie sie deutlich durch das Aufbewahren der Trophäen ihrer Tapferkeit, durch die Gewohnheit des excessiven Sich-Rühmens und selbst durch die extreme Sorgfalt [171] zeigen, welche sie auf ihre persönliche Erscheinung und Decoration verwenden. Denn wenn sie die Meinung ihrer Kameraden gar nicht beachteten, so würden derartige Gewohnheiten sinnlos sein.

Gewiss empfinden sie Scham bei dem Verletzen einiger ihrer einfacheren Gesetze, und allem Anscheine nach auch Gewissensbisse, wie durch den Fall des Australiers bewiesen wird, welcher abmagerte und nicht ruhen konnte, weil er versäumt hatte, zur Besänftigung des Geistes seiner verstorbnen Frau ein andres Weib zu ermorden. Wenn mir auch kein Bericht irgend eines andern Falles vorgekommen ist, so ist es doch kaum glaublich, dass ein Wilder, welcher sein Leben eher opfert, als dass er seinen Stamm verräth, oder dass Einer, der sich selbst eher als Gefangener überliefert, als dass er sein Wort bricht,[6] nicht in seiner innersten Seele Gewissensbisse fühlen sollte, sobald er eine Pflicht versäumt hat, welche er für heilig hält.

Wir können daher schliessen, dass der Urmensch in einer äusserst weit zurückliegenden Zeit durch das Lob und den Tadel seiner Genossen beeinflusst worden sein wird. Offenbar werden die Mitglieder eines und desselben Stammes ein Benehmen, welches ihnen als ein das allgemeine Beste förderndes erschien, lobend anerkennen und ein solches verwerfen, welches ihnen übelbringend erschien. Andern Gutes zu thun, – Andern zu thun als Ihr wollt, dass man Euch thue – ist der Grundstein der Moralität. Es ist daher kaum möglich, die Bedeutung der Sucht nach Lob und der Furcht vor Tadel während der Zeiten der Rohheit zu überschätzen. Ein Mensch, welcher durch kein tiefes instinctives Gefühl dazu getrieben wurde, sein Leben für das Beste Anderer zu opfern, dagegen zu solchen Handlungen durch ein Gefühl des Ruhms veranlasst wurde, würde durch sein Beispiel denselben Wunsch nach Ruhm bei andern Menschen erregen und würde durch Uebung das edle Gefühl der Bewunderung kräftigen. Er kann auf diese Weise seinem Stamme viel mehr Gutes thun, als durch Erzeugung einer Nachkommenschaft, welcher die Tendenz innewohnt, seinen eigenen edeln Character zu erben.

Mit der Zunahme der Erfahrung und des Verstandes lernt der Mensch die entfernter liegenden Wirkungen seiner Handlungen erkennen und lernt auch die das Individuum betreffenden Tugenden, wie Mässigkeit, Keuschheit u. s. w., welche während sehr früher Zeiten, wie wir [172] vorher gesehen haben, vollständig unbeachtet bleiben werden, nun sehr hochschätzen oder selbst für heilig halten. Ich brauche indessen nicht zu wiederholen, was ich im vierten Capitel über diesen Gegenstand gesagt habe. Zuletzt wird sich dann unser moralisches Gefühl oder Gewissen gebildet haben, jene äusserst complicirte Erscheinung, die ihren ersten Ursprung in den socialen Instincten hat, die in grossem Maasse von der Anerkennung unserer Mitmenschen geleitet, von dem Verstand, dem eigenen Interesse und in späteren Zeiten von tiefreligiösen Gefühlen beherrscht und durch Unterricht und Gewohnheit befestigt wird.

Es darf nicht vergessen werden, dass, wenn auch eine hohe Stufe der Moralität nur einen geringen oder gar keinen Vortheil für jeden individuellen Menschen und seine Kinder über die andern Menschen in einem und demselben Stamme darbietet, doch eine Zunahme in der Zahl gut begabter Menschen und ein Fortschritt in dem allgemeinen Maassstab der Moralität sicher dem einen Stamm einen unendlichen Vortheil über einen andern verleiht. Ein Stamm, welcher viele Glieder umfasst, die in einem hohen Grade den Geist des Patriotismus, der Treue, des Gehorsams, Muths und der Sympathie besitzen und daher stets bereit sind, einander zu helfen und sich für das allgemeine Beste zu opfern, wird über die meisten andern Stamme den Sieg davontragen; und dies würde natürliche Zuchtwahl sein. Zu allen Zeiten haben über die ganze Erde einzelne Stämme andere verdrängt, und da die Moralität ein bedeutungsvolles Element bei ihrem Erfolg ist, so wird der Maassstab der Moralität sich zu erhöhen und die Zahl gut begabter Menschen überall zuzunehmen streben.

Es ist indessen sehr schwer, sich irgend ein Urtheil darüber zu bilden, warum ein besonderer Stamm und nicht ein anderer erfolgreich gewesen und in der Civilisationsstufe gestiegen ist. Viele Wilde sind noch in demselben Zustande, in welchem sie sich vor mehreren Jahrhunderten befanden, als sie entdeckt wurden. Wie Mr. Bagehot bemerkt hat, sind wir geneigt, den Fortschritt als das Normale im Leben der menschlichen Gesellschaft zu betrachten; aber die Geschichte widerlegt dies. Die Alten hatten nicht einmal diese Idee, ebensowenig wie die orientalischen Nationen sie heutigen Tages haben. Eine andere bedeutende Autorität, Sir Henry Maine sagt:[7] „der grösste Theil der [173] Menschheit hat niemals auch nur eine Spur eines Wunsches gezeigt, dass seine bürgerlichen Institutionen verbessert werden sollten“. Fortschritt scheint von vielen zusammenwirkenden günstigen Bedingungen abzuhängen, die viel zu complicirt sind, um hier einzeln verfolgt zu werden. Es ist aber oft bemerkt worden, dass ein kühles Clima, weil es zur Industrie und den verschiedenen Kunstfertigkeiten führt, zu jenem Zwecke äusserst günstig gewesen ist. Die Eskimos haben, von starrer Nothwendigkeit bedrückt, viele ingeniöse Erfindungen gemacht, aber ihr Clima ist zu rauh gewesen, um einen beständigen Fortschritt zu gestatten. Nomadisches Leben, mag es auf weiten Ebenen oder in den dichten Wäldern der Tropenländer oder den Seeküsten entlang geführt worden sein, ist in allen Fällen äusserst nachtheilig gewesen. Bei Beobachtung der barbarischen Einwohner des Feuerlandes drängte sich mir die Ueberzeugung auf, dass der Besitz irgendwelchen Eigentums, ein fester Wohnsitz und die Verbindung vieler Familien unter einem Häuptlinge die unentbehrlichen Requisiten zur Civilisation sind. Derartige Gebräuche fordern fast mit Nothwendigkeit die Cultur des Bodens; und die ersten Fortschritte im Landbau sind wahrscheinlich, wie ich an einem andern Ort gezeigt habe,[8] das Resultat irgend eines Zufalls gewesen, wie beispielsweise, wenn die Samenkörner eines Fruchtbaums auf einen Abraumhaufen fallen und eine ungewöhnlich schöne Varietät hervorbringen. Indessen ist das Problem des ersten Fortschritts der Wilden, nach ihrer Civilisation hin, vorläufig viel zu schwer, um gelöst zu werden.

Natürliche Zuchtwahl in ihrem Einfluss auf civilisirte Nationen. – Ich habe bis jetzt den Fortschritt des Menschen von einem früheren halbmenschlichen Zustand zu dem der jetzt lebenden Wilden betrachtet. Es dürfte aber doch der Mühe werth sein, einige Bemerkungen über die Wirksamkeit der natürlichen Zuchtwahl auf civilisirte Nationen hier noch hinzuzufügen. Es ist dieser Gegenstand von Mr. W. R. Greg[9] recht gut erörtert worden, wie früher schon [174] von Mr. Wallace und Mr. Galton.[10] Die meisten meiner Bemerkungen sind diesen drei Schriftstellern entnommen. Bei Wilden werden die an Geist und Körper Schwachen bald beseitigt und die, welche leben bleiben, zeigen gewöhnlich einen Zustand kräftiger Gesundheit. Auf der andern Seite thun wir civilisirte Menschen alles nur Mögliche, um den Process dieser Beseitigung aufzuhalten. Wir bauen Zufluchtsstätten für die Schwachsinnigen, für die Krüppel und die Kranken; wir erlassen Armengesetze und unsere Aerzte strengen die grösste Geschicklichkeit an, das Leben eines Jeden bis zum letzten Moment noch zu erhalten. Es ist Grund vorhanden, anzunehmen, dass die Impfung Tausende erhalten hat, welche in Folge ihrer schwachen Constitution früher den Pocken erlegen wären. Hierdurch geschieht es, dass auch die schwächeren Glieder der civilisirten Gesellschaft ihre Art fortpflanzen. Niemand, welcher der Zucht domesticirter Thiere seine Aufmerksamkeit gewidmet hat, wird daran zweifeln, dass dies für die Rasse des Menschen im höchsten Grade schädlich sein muss. Es ist überraschend, wie bald ein Mangel an Sorgfalt oder eine unrecht geleitete Sorgfalt zur Degeneration einer domesticirten Rasse führt; aber mit Ausnahme des den Menschen selbst betreffenden Falls ist wohl kaum ein Züchter so unwissend, dass er seine schlechtesten Thiere zur Nachzucht zuliesse.

Die Hülfe, welche dem Hülflosen zu widmen wir uns getrieben fühlen, ist hauptsächlich das Resultat des Instincts der Sympathie, welcher ursprünglich als ein Theil der socialen Instincte erlangt, aber später in der oben bezeichneten Art und Weise zarter gemacht und weiter verbreitet wurde. Auch könnten wir unsere Sympathie, wenn sie durch den Verstand hart bedrängt würde, nicht hemmen, ohne den edelsten Theil unserer Natur herabzusetzen. Der Chirurg kann sich abhärten, wenn er eine Operation ausführt, denn er weiss, dass er zum Besten seines Patienten handelt; aber wenn wir absichtlich den Schwachen und Hülflosen vernachlässigen sollten, so könnte es nur geschehen um den Preis einer aus einem vorliegenden überwältigenden Uebel [175] herzuleitenden grossen Wohlthat. Wir müssen daher die ganz zweifellos schlechte Wirkung des Lebenbleibens und der Vermehrung der Schwachen ertragen; doch scheint wenigstens ein Hinderniss für die beständige Wirksamkeit dieses Moments zu existiren, in dem Umstände nämlich, dass die schwächeren und untergeordneteren Glieder der Gesellschaft nicht so häufig als die Gesunden heirathen; und dies Hemmniss könnte noch ganz ausserordentlich verstärkt werden, trotzdem man es mehr hoffen als erwarten kann, wenn die an Körper und Geist Schwachen sich des Heirathens enthielten.

In jedem Lande, in dem ein grosses stehendes Heer gehalten wird, werden die hübschesten jungen Leute bei der Conscription genommen oder ausgehoben. Sie sind damit frühzeitigem Tode während eines Krieges ausgesetzt, werden oft zu Lastern verführt und sind verhindert, in der Blüthe ihres Lebens zu heirathen. Es werden andrerseits die kleineren und schwächeren Männer von bedenklicher Constitution zu Hause gelassen; folglich haben diese eine bessere Chance, heirathen und ihre Art fortpflanzen zu können.[11]

Der Mensch häuft Besitzthum an und hinterlässt es seinen Kindern, so dass die Kinder der Reichen in dem Wettlauf nach Erfolg vor denen der Armen einen Vortheil voraus haben, unabhängig von körperlicher oder geistiger Ueberlegenheit. Andrerseits treten die Kinder kurzlebiger Eltern, welche daher im Durchschnitt selbst von schwacher Gesundheit und geringer Lebenskraft sind, ihr Besitzthum früher an als andre Kinder, heirathen daher wahrscheinlich auch früher und hinterlassen eine grössere Zahl von Nachkommen, welche ihre minder gute Constitution erben. Es ist indessen das Erben von Besitz und Eigenthum durchaus kein Uebel. Denn ohne die Anhäufung von Capital könnten die Künste keine Fortschritte machen und es ist hauptsächlich durch die Kraft dieser geschehen, dass die civilisirten Rassen sich verbreitet haben und jetzt noch immer ihren Bezirk erweitern, so dass sie die Stelle der niedrigeren Rassen einnehmen. Auch stört die mässige Anhäufung von Wohlstand den Process der Zuchtwahl durchaus nicht. Wenn ein armer Mensch reich wird, so beginnen seine Kinder den Handel oder ein Gewerbe, in welchem es des Kampfes genug gibt, so dass der an Körper und Geist Fähigere am besten fortkommt. Das Vorhandensein einer Menge gut unterrichteter Leute, [176] welche nicht um ihr täglich Brod zu arbeiten haben, ist in einem Grade bedeutungsvoll, welcher nicht überschätzt werden kann; denn alle intellectuelle Arbeit wird von ihnen verrichtet und von solcher Arbeit hängt der materielle Fortschritt jeglicher Art hauptsächlich ab, um andere und höhere Vortheile gar nicht zu erwähnen. Wird der Wohlstand sehr gross, so verwandelt er ohne Zweifel leicht die Menschen in unnütze Drohnen, aber ihre Zahl ist niemals gross; auch tritt ein Eliminationsprocess in einem gewissen Grade hier ein, da wir täglich sehen, wie reiche Leute närrisch oder verschwenderisch werden und allen ihren Wohlstand vergeuden.

Primogenituren mit Familienfideicommissen ist ein directeres Uebel, trotzdem es früher wegen der durch sie ermöglichten Bildung einer vorherrschenden Classe von grossem Vortheil gewesen sein mag; denn irgend eine Regierung ist besser als Anarchie. Die meisten ältesten Söhne, mögen sie auch an Körper oder Geist schwach sein, heirathen, während die jüngeren Söhne, so überlegen sie auch in den ebengenannten Beziehungen sein mögen, nicht so allgemein heirathen. Auch können unwürdige älteste Söhne mit Familiengütern ihren Reichthum nicht verschwenden. Aber hier sind, wie in andern Punkten, die Beziehungen des civilisirten Lebens so complicirt, dass noch andere compensatorische Hemmnisse eingreifen. Die Männer, welche durch Primogenitur reich sind, sind im Stande, Generation nach Generation sich die schöneren und reizvolleren Frauen zu wählen, und diese müssen allgemein an Körper gesund und an Geist lebendig sein. Den schlimmen Folgen einer beständigen Reinhaltung derselben Descendenzreihe ohne irgendwelche Wahl, welches dieselben auch sein mögen, wird stets von Männern von Rang vorgebeugt, welche ihre Macht und ihren Reichthum zu vergrössern wünschen; und dies bewirken sie dadurch, dass sie Erbinnen heirathen. Aber die Töchter von Eltern, welche nur einzige Kinder erzeugt haben, sind für sich schon, wie Mr. Galton[12] gezeigt hat, leicht steril. Daher werden beständig Adelsfamilien in der direkten Linie aussterben, so dass ihr Reichthum in irgend eine Seitenlinie überfliesst; unglücklicherweise wird aber diese Linie nicht durch Superiorität irgend welcher Art bestimmt

Obgleich hiernach die Civilisation auf viele Weisen die Wirksamkeit der natürlichen Zuchtwahl hemmt, so begünstigt dieselbe offenbar [177] mittelst der verbesserten Nahrung und der Beseitigung von gelegentlichen Nothständen die bessere Entwickelung des Körpers. Dies lässt sich daraus schliessen, dass, wo man auch den Vergleich angestellt haben mag, civilisirte Leute immer physisch kräftiger gefunden wurden als Wilde.[13] Sie scheinen auch gleiche Kraft der Ausdauer zu haben, wie sich in vielen abenteuerlichen Expeditionen herausgestellt hat. Selbst der grosse Luxus der Reichen kann nur in geringem Grade nachtheilig sein. Denn die wahrscheinliche Lebensdauer unserer Aristokratie ist auf allen Altersstufen und in beiden Geschlechtern sehr unbedeutend geringer als diejenige gesunder Engländer der niederen Classen.[14]

Wir wollen nun die intellectuellen Fähigkeiten allein betrachten. Wenn wir auf jeder Stufe der Gesellschaft die Glieder in zwei gleiche Massen theilten, von denen die eine diejenigen umfasste, welche intellectuell höher begabt wären, die andere die ihnen untergeordneteren, so lässt sich kaum zweifeln, dass die erstere in allen Beschäftigungsweisen bessere Erfolge erzielen und eine grössere Anzahl von Kindern aufbringen würde. Selbst in den niedrigsten Schichten des Lebens muss Geschick und Fähigkeit von irgendwelchem Vortheil sein, wenn auch, wegen der grossen Arbeitstheilung, in vielen Thätigkeitszweigen nur von sehr geringem. Es wird daher bei civilisirten Nationen eine Neigung bestehen, dass sich sowohl die Zahl als auch das Maass der intellectuell Befähigten erhöht. Doch möchte ich nicht behaupten, dass diese Neigung nicht durch andere Momente mehr als ausgeglichen wird, wie z. B. durch die Vermehrung der Leichtsinnigen und Sorglosen; aber selbst für diese muss Geschicklichkeit von irgendwelchem Vortheil sein.

Ansichten wie den eben vorgetragenen ist oft entgegengehalten worden, dass die ausgezeichnetsten Leute, welche je gelebt haben, keine Nachkommen hinterlassen haben, um ihren grossen Intellect zu ererben. Mr. Galton bemerkt:[15] „ich bedaure, nicht im Stande zu sein, die einfache Frage zu lösen, ob und in wie weit Männer und Frauen, welche Wunder des Genies waren, unfruchtbar sind. Ich habe indessen gezeigt, dass hervorragende Männer dies durchaus nicht sind“. Grosse Gesetzgeber, die Gründer segensreicher Religionen, grosse Philosophen und wissenschaftliche Entdecker unterstützen den Fortschritt der Menschheit [178] in einem viel höheren Grade durch ihre Werke, als durch das Hinterlassen einer zahlreichen Nachkommenschaft. Was die körperliche Structur betrifft, so ist es die Auswahl der unbedeutend besser begabten und die Beseitigung der ebenso unbedeutend weniger gut begabten Individuen und nicht die Erhaltung scharf markirter und seltener Anomalien, welche zur Verbesserung einer Species führt.[16] Dasselbe wird auch für die intellectuellen Fähigkeiten der Fall sein. Es werden nämlich auch hier die in irgend etwas fähigeren Menschen auf jeder Stufe der Gesellschaft bessere Erfolge erzielen als die weniger fähigen und, wenn sie nicht auf andere Weise daran gehindert werden, in Folge dessen stärker an Zahl zunehmen. Hat sich in irgend einer Nation die Höhe des Intellects und die Anzahl intellectueller Leute vermehrt, so können wir nach dem Gesetze der Abweichung vom Mittel, wie Mr. Galton gezeigt hat, erwarten, dass Wunder des Genies etwas häufiger als früher erscheinen werden.

In Bezug auf die moralischen Eigenschaften ist eine gewisse Beseitigung der schlechtesten Dispositionen stets in Thätigkeit, selbst bei den civilisirtesten Nationen. Uebelthäter werden hingerichtet oder auf lange Zeit gefangen gesetzt, so dass sie ihre schlechten Eigenschaften nicht in grösserer Menge fortpflanzen können. Melancholische und geisteskranke Personen werden in Gewahrsam gehalten oder begehen Selbstmord. Heftige und streitsüchtige Leute finden oft ein blutiges Ende. Ruhelose Leute, welche keine stetige Beschäftigung ergreifen wollen – und dies Ueberbleibsel der Barbarei ist ein grosses Hemmniss für die Civilisation[17] – wandern nach neugegründeten Staaten aus, wo sie sich als nützliche Pioniere erweisen. Unmässigkeit ist in so hohem Grade zerstörend, dass die wahrscheinliche Lebensdauer der Unmässigen z. B. im Alter von dreissig, nur 13,8 Jahre beträgt, während sie für die Arbeiter auf dem Lande von demselben Alter in England 40,59 beträgt.[18] Lüderliche Frauen haben wenig Kinder und lüderliche Männer heirathen selten; Beide leiden durch die Entwickelung constitutioneller Krankheiten. Bei der Zucht von domesticirten Thieren [179] ist die Beseitigung derjenigen Individuen, welche, wenn sie auch der Zahl nach wenig sind, in irgendwelchem markirten Grade untergeordneter sind, ein durchaus nicht bedeutungsloses Moment in Bezug auf den Erfolg. Dies gilt vorzüglich für die schädlichen Merkmale, welche in Folge von Rückschlag wieder aufzutreten neigen, wie z. B. schwarze Farbe bei Schafen; und auch beim Menschen können einige der schlechtesten Anlagen, welche gelegentlich ohne irgendwelche nachweisbare Ursache in Familien auftreten, vielleicht als Rückschlag auf einen wilden Zustand angesehen werden, von welchem wir durch nicht gar zu viele Generationen getrennt sind. Diese Ansicht scheint in der That durch die gewöhnliche Redensart anerkannt zu werden, dass derartige Leute die „schwarzen Schafe“ der Familien seien.

Was einen erhöhten Maassstab der Moralität und eine vermehrte Anzahl gehörig gut begabter Menschen betrifft, so scheint bei civilisirten Nationen die natürliche Zuchtwahl nur wenig zu bewirken, trotzdem die fundamentalen socialen Instincte ursprünglich hierdurch erlangt wurden. Ich habe aber, als ich von den niederen Rassen handelte, mich schon hinreichend über die Ursachen verbreitet, welche zum Fortschritt der Moralität führen, nämlich die billigende Zustimmung unserer Mitmenschen – die Kräftigung unserer Sympathien durch Gewohnheit – Beispiel und Nachahmung – Verstand – Erfahrung und selbst eigenes Interesse – Unterricht während der Jugend und religiöse Gefühle.

Ein äusserst bedeutungsvolles Hemmniss für die Zunahme der Zahl von Menschen einer höheren Classe in civilisirten Ländern ist von Mr. Greg und Mr. Galton sehr scharf hervorgehoben worden,[19] nämlich die Thatsache, dass die sehr Armen und Leichtsinnigen, welche oft durch Laster heruntergekommen sind, fast unabänderlich früh heirathen, während die Sorgsamen und Mässigen, welche meist auch in anderer Beziehung tugendhaft sind, spät im Leben heirathen, so dass sie im Stande sind, sich selbst und ihre Kinder mit Leichtigkeit zu erhalten. Diejenigen, welche früh heirathen, erzeugen innerhalb einer gegebenen Zeit nicht bloss eine grössere Anzahl von Generationen, sondern sie bringen, wie Dr. Duncan gezeigt hat,[20] auch viel mehr Kinder hervor. [180] Ausserdem sind die Kinder, welche von Müttern während der Blüthe ihres Lebens geboren werden, schwerer und grösser und daher wahrscheinlich kräftiger als diejenigen, welche in andern Perioden geboren werden. Hierdurch neigt die Zahl der leichtsinnigen, heruntergekommenen und oft lasterhaften Glieder der Gesellschaft zu einer Zunahme in einem schnelleren Maasse als die der vorsichtigen und im Allgemeinen tugendhaften Glieder. Oder, wie Mr. Greg den Fall darstellt: „der sorglose, schmutzige, nicht höher hinaus wollende Irländer vermehrt sich wie die Kaninchen; der frugale, vorausdenkende, sich selbst achtende ehrgeizige Schotte, welcher streng in seiner Moralität, durchgeistigt in seinem Glauben, gescheidt und disciplinirt in seinem Wesen ist, verbringt die besten Jahre seines Lebens im Kampfe und im Stande des Cölibats, heirathet spät und hinterlässt nur wenig Nachkommen. Man nehme ein Land, welches ursprünglich von tausend Sachsen und tausend Celten bevölkert gewesen sei; und nach einem Dutzend Generationen werden 5/6 der Bevölkerung Celten sein, aber 5/6 des Besitzes, der Macht und des Intellects werden dem einen übrig gebliebenen Sechstel der Sachsen angehören. In dem ewigen Kampfe um’s Dasein wird die untergeordnete und weniger begünstigte Rasse es sein, welche vorherrscht und zwar vorherrscht nicht kraft ihrer guten Eigenschaften, sondern kraft ihrer Fehler“.

Es sind indessen mehrere Hemmnisse gegen diese nach abwärts strebende Bewegung vorhanden. Wir haben gesehen, dass die Unmässigen einem hohen Sterblichkeitsverhältniss unterliegen und dass die im höchsten Grade Lüderlichen wenig Nachkommen hinterlassen. Die ärmsten Classen häufen sich in Städten an und Dr. Stark hat nach den statistischen Ergebnissen von zehn Jahren in Schottland bewiesen,[21] dass auf allen Altersstufen das Sterblichkeitsverhältniss in Städten höher ist als in ländlichen Bezirken, „und während der ersten fünf Lebensjahre ist das Mortalitätsverhältniss der Stadt fast genau das doppelte von dem der ländlichen Bezirke“. Da diese Angaben sowohl die Reicheren als die Armen umfassen, so würde ohne Zweifel mehr als die doppelte Anzahl von Geburten nöthig sein, um die Zahl der sehr armen Einwohner in Städten im Verhältniss zu denen auf dem [181] Lande in gleicher Höhe zu erhalten. Bei Frauen ist das Verheirathen in einem zu frühen Alter in hohem Grade schädlich; denn in Frankreich hat man gefunden, dass „zweimal soviel verheirathete Frauen im Alter von unter zwanzig Jahren im Jahre starben, als unverheirathete desselben Alters“. Auch die Sterblichkeit von verheiratheten Männern unter zwanzig Jahren ist ganz „excessiv hoch“,[22] was aber die Ursache hievon sein mag, scheint zweifelhaft. Sollten endlich diejenigen Männer, welche in kluger Weise das Heirathen aufschieben, bis sie ihre Familien mit Comfort erhalten können, Frauen in der Blüthe des Lebens nehmen, wie sie es ja oft thun, so würde das Verhältniss der Zunahme in den bessern Classen nur unbedeutend verringert werden.

Nach einer enormen Menge statistischer Angaben, welche im Verlaufe des Jahres 1853 aufgenommen wurden, ist ermittelt worden, dass die unverheiratheten Männer in ganz Frankreich zwischen dem Alter von zwanzig und achtzig Jahren in einem viel grösseren Verhältnisse starben als die verheiratheten. So starben z. B. von jedem Tausend unverheiratheter Männer zwischen dem Alter von zwanzig und dreissig Jahren jährlich 11,3, während von den verheiratheten nur 6,5 starben.[23] Die Gültigkeit eines ähnlichen Gesetzes wurde während der Jahre 1863 und 1864 in Bezug auf die ganze Bevölkerung von einem Alter über zwanzig in Schottland nachgewiesen. Es starben z. B. von jedem Tausend unverheiratheter Männer zwischen dem Alter von zwanzig und dreissig Jahren 14,97 jährlich, während von den verheiratheten nur 7,24 starben, also weniger als die Hälfte.[24] Dr. Stark bemerkt hierzu: „Junggesellenthum ist viel zerstörender für das Leben, als es die ungesündesten Handwerke sind, oder als der Aufenthalt in einem ungesunden Hause oder Bezirke es ist, wo niemals auch nur der entfernteste Versuch zu einer gesundheitlichen Verbesserung gemacht worden ist“. Er ist der Ansicht, dass die verringerte Mortalität das [182] directe Resultat „der Verheirathung und der regelmässigen häuslichen Gewohnheiten ist, welche diesem Zustande eigen sind“. Er nimmt indessen an, dass die unmässigen, lüderlichen und verbrecherischen Classen, deren Lebensdauer gering ist, für gewöhnlich nicht heirathen, und es muss zugegeben werden, dass Männer mit schwacher Constitution, schlechter Gesundheit oder irgend einer bedeutenden Schwäche an Körper oder Geist oft nicht wünschen werden zu heirathen oder zurückgewiesen werden. Dr. Stark scheint zu dem Schlusse, dass das Verheirathetsein an sich eine hauptsächliche Ursache des verlängerten Lebens ist, dadurch gekommen zu sein, dass er fand, dass bejahrte verheirathete Männer noch immer einen beträchtlichen Vortheil in dieser Beziehung vor den unverheiratheten desselben hohen Alters voraus haben. Jedermann werden aber Beispiele bekannt geworden sein, wo Männer von schwacher Gesundheit, welche während ihrer Jugend nicht heiratheten, doch ein hohes Alter erreicht haben, trotzdem sie schwach blieben und daher immer eine wahrscheinlich geringere Lebensdauer und auch weniger Chance zu heirathen hatten. Noch ein anderer merkwürdiger Umstand scheint die Folgerung des Dr. Stark zu unterstützen, dass nämlich Wittwen und Wittwer in Frankreich im Vergleich mit den verheiratheten Personen einem sehr ungünstigen Mortalitätsverhältnisse unterliegen; doch schreibt Dr. Farr dies der Armuth und den üblen Gewohnheiten zu, welche der Auflösung der Familie folgen, ebenso wie dem Kummer. Im Ganzen können wir mit Dr. Farr schliessen, dass die geringere Mortalität verheiratheter Personen gegenüber derjenigen unverheiratheter, welche ein allgemeines Gesetz zu sein scheint, „hauptsächlich Folge der constanten Beseitigung unvollkommener Formen und der geschickten Auswahl der schönsten Individuen innerhalb jeder der aufeinander folgenden Generationen ist“, wobei die Zuchtwahl sich nur auf den verheiratheten Zustand bezieht und auf alle körperlichen, intellectuellen und moralischen Eigenschaften wirkt.[25] Wir können daher wohl schliessen, dass gesunde und gute Menschen, welche aus Klugheit eine Zeitlang unverheirathet bleiben, keinem hohen Mortalitätsverhältniss unterliegen.

Wenn die verschiedenen, in den letzten beiden Absätzen speciell [183] angeführten, und vielleicht noch andere für jetzt unbekannte, Hemmnisse es nicht verhindern, dass die leichtsinnigen, lasterhaften und in anderer Weise niedriger stehenden Glieder der Gesellschaft sich in einem schnelleren Verhältnisse vermehren als die bessere Classe der Menschen, so wird die Nation rückschreiten, wie es in der Geschichte der Welt nur zu oft vorgekommen ist. Wir müssen uns daran erinnern, dass Fortschritt keine unabänderliche Regel ist. Es ist äusserst schwer zu sagen, warum die eine civilisirte Nation emporsteigt, machtvoller wird und sich weiter verbreitet als eine andere; oder warum eine und dieselbe Nation zu einer Zeit mehr fortschreitet als zu einer andern. Wir können nur sagen, dass dies von einer Zunahme der factischen Anzahl der Bevölkerung, von der Zahl der Menschen, die mit hohen intellectuellen und moralischen Fähigkeiten begabt sind, ebenso wie von der Höhe dessen abhängt, was bei ihnen für ausgezeichnet gilt. Körperliche Bildung scheint nur geringen Einfluss zu haben, ausgenommen insofern, als körperliche Kraft zu geistiger Kraft führt.

Es ist von mehreren Schriftstellern hervorgehoben worden, dass, weil hohe intellectuelle Kräfte einer Nation vortheilhaft sind, die alten Griechen, welche in Bezug auf den Intellect doch einige Grade höher gestanden haben als irgend eine Rasse, welche je existirt hat,[26] in ihrer ganzen Entwickelung noch höher gestiegen, an Zahl noch mehr zugenommen und ganz Europa bevölkert haben müssten, wenn die Wirksamkeit der natürlichen Zuchtwahl wirklich bestände. Wir sehen hier die stillschweigende Annahme, die so oft in Bezug auf körperliche Bildung gemacht wird, dass irgend ein angeborenes Streben zu einer beständigen Weiterentwickelung an Geist und Körper vorhanden sei. Aber Entwickelung aller Art hängt von vielen zusammenwirkenden günstigen Umständen ab. Natürliche Zuchtwahl wirkt nur in der Weise eines Versuchs. Individuen und Rassen mögen gewisse unbestreitbare Vortheile erlangt haben und können doch, weil ihnen andere Charactere fehlen, untergegangen sein. Die Griechen können wegen eines Mangels an Zusammenhalten zwischen den vielen kleinen Staaten, wegen der geringen Grösse ihres ganzen Landes rückwärts geschritten sein, eben so wegen der Ausübung der Sclaverei oder wegen ihrer extremen Sinnlichkeit; denn sie unterlagen nicht eher, als bis „sie entnervt und bis [184] in’s innerste Mark verderbt waren“.[27] Die westlichen Nationen Europa’s, welche jetzt so unmessbar ihre früheren wilden Urerzeuger überflügelt haben und auf dem Gipfel der Civilisation stehen, verdanken wenig oder gar nichts von ihrer Superiorität der directen Vererbung von den alten Griechen, obwohl sie den schriftlich hinterlassenen Werken dieses wunderbaren Volks viel verdanken.

Wer kann positiv angeben, warum die spanische Nation, die zu einer Zeit so dominirend war, in dem Wettlaufe der Völker überflügelt worden ist? Das Erwachen der Nationen Europa’s aus den Jahrhunderten der Dunkelheit ist ein noch verwirrenderes Problem. In dieser frühen Zeit hatten, wie Mr. Galton bemerkt hat, fast alle Männer einer weicheren Natur, die, welche sich einer beschaulichen Betrachtung oder der Cultur des Geistes ergaben, keinen anderen Zufluchtsort als den Busen der Kirche, und diese forderte das Cölibat;[28] und dieses wieder musste fast sicher einen verschlechternden Einfluss auf jede der folgenden Generationen ausüben. Während dieser selben Periode wählte die heilige Inquisition mit der äussersten Sorgfalt die freisinnigsten und kühnsten Männer aus, um sie zu verbrennen oder gefangen zu setzen. Allein in Spanien wurden von den besten Leuten – d. h. von denen welche zweifelten und Fragen aufwarfen, und ohne Zweifeln ist ja kein Fortschritt möglich – während dreier Jahrhunderte jährlich eintausend eliminirt. Das Uebel, welches die katholische Kirche hierdurch bewirkt hat, ist unberechenbar, wenn es auch in gewisser, vielleicht grosser Ausdehnung auf andere Weise ausgeglichen wurde. Nichtsdestoweniger ist Europa in einem Verhältniss ohne Gleichen fortgeschritten.

Der merkwürdige Erfolg der Engländer als Colonisten, gegenüber anderen europäischen Nationen, welcher durch einen Vergleich der Fortschritte der Canadier englischen und französischen Ursprungs erläutert wird, ist deren „unerschrockener und ausdauernder Energie“ zugeschrieben worden; wer kann aber sagen, wie die Engländer ihre Energie erlangten? Wie es scheint, liegt in der Annahme sehr viel Wahres, dass der wunderbare Fortschritt der Vereinigten Staaten ebenso wie der [185] Character des Volks die Resultate natürlicher Zuchtwahl sind. Die energischeren, rastloseren und muthigeren Menschen aus allen Theilen Europa’s sind während der letzten zehn oder zwölf Generationen in jenes grosse Land eingewandert und haben dort den grössten Erfolg gehabt.[29] Blicken wir auf die weiteste Zukunft, so glaube ich nicht, dass die Ansicht des Mr. Zincke übertrieben ist, wenn er sagt:[30] „alle übrigen Reihen von Begebenheiten, – z. B. die, welche als Resultat die geistige Cultur in Griechenland, und die, welche die römische Kaiserzeit hervorgehen liessen – scheinen nur Zweck und Bedeutung zu erhalten, wenn sie im Zusammenhange mit, oder noch eher als Unterstützung für .... den grossen Strom anglosächsischer Auswanderung nach dem Westen hin betrachtet werden“. So dunkel das Problem des Fortschritts der Civilisation ist, so können wir wenigstens sehen, dass eine Nation, welche eine lange Zeit hindurch die grösste Zahl hoch intellectueller, energischer, tapferer, patriotischer und wohlwollender Männer erzeugte, im Allgemeinen über weniger begünstigte Nationen das Uebergewicht erlangen wird.

Natürliche Zuchtwahl ist die Folge des Kampfes um’s Dasein, und dieser ist die Folge eines rapiden Verhältnisses der Vermehrung. Es ist unmöglich, das Verhältniss, in welchem der Mensch an Zahl zuzunehmen strebt, nicht tief zu bedauern, – ob dies freilich weise ist, ist eine andere Frage; – denn es führt dasselbe bei barbarischen Stämmen zum Kindesmord und vielen anderen Uebeln, und bei civilisirten Nationen zu der grässlichsten Verarmung, zum Cölibat und zu den späten Heirathen der Klügeren. Da aber der Mensch an denselben physischen Uebeln zu leiden hat, wie die niederen Thiere, so hat er kein Recht, eine Immunität diesen Uebeln gegenüber, die eine Folge des Kampfes um’s Dasein sind, zu erwarten. Wäre er nicht während der Urzeiten der natürlichen Zuchtwahl ausgesetzt gewesen, so würde er zuversichtlich niemals die jetzige hohe Stufe der Menschlichkeit erreicht haben. Wenn wir in vielen Theilen der Erde enorme Strecken des fruchtbarsten Landes, Strecken, welche im Stande sind, zahlreiche glückliche Heimstätten zu tragen, nur von einigen wenigen herumwandernden Wilden bewohnt sehen, so möchte man wohl zu der Folgerung veranlasst werden, dass der Kampf um’s Dasein nicht hinreichend heftig [186] gewesen sei, um den Menschen aufwärts auf seine höchste Stufe zu treiben. Nach alle dem was wir vom Menschen und den niederen Thieren wissen zu urtheilen, hat es stets eine hinreichende Variabilität in den intellectuellen und moralischen Eigenschaften gegeben, um zu einem stetigen Fortschritt durch natürliche Zuchtwahl zu führen. Ohne Zweifel erfordert ein solches Fortschreiten viele günstig zusammenwirkende Umstände; aber es dürfte wohl zu bezweifeln sein, ob die günstigsten dazu hingereicht haben würden, wenn nicht das Verhältniss der Zunahme ein rapides und der in Folge davon auftretende Kampf um’s Dasein ein bis zum äussersten Grade heftiger gewesen wäre. Nach dem, was wir z. B. in Theilen von Südamerica sehn, scheint es, als würde ein Volk, welches wohl civilisirt genannt werden kann, wie die Spanischen Colonisten, leicht indolent und schreite rückwärts, wenn die Lebensbedingungen gar zu günstig und leicht sind. Bei hoch civilisirten Nationen hängt der beständige Fortschritt in einem untergeordneten Grade von natürlicher Zuchtwahl ab; denn derartige Nationen ersetzen und vertilgen einander nicht so, wie es wilde Stämme thun. Nichtsdestoweniger werden in der Länge der Zeit die intelligenteren Individuen einer und derselben Genossenschaft besseren Erfolg haben, als die untergeordneteren, und werden auch zahlreichere Nachkommen hinterlassen: und dies ist eine Form der natürlichen Zuchtwahl. Die wirksameren Ursachen des Fortschritts scheinen zu bestehen einmal in einer guten Erziehung während der Jugend, wo das Gehirn Eindrücken leicht zugänglich ist, und dann in einem hohen Maassstab der Vortrefflichkeit, wie er in der Natur der fähigsten und besten Leute ausgeprägt, in den Gesetzen, Gebräuchen und Ueberlieferungen der Nation verkörpert und von der öffentlichen Meinung bekräftigt wird. Man muss indessen im Auge behalten, dass die Macht der öffentlichen Meinung von unsrer Anerkennung der Billigung und Missbilligung Andrer abhängt; und diese Anerkennung gründet sich auf unsre Sympathie, welche, wie kaum bezweifelt werden kann, als eines der wichtigsten Elemente der socialen Instincte ursprünglich durch natürliche Zuchtwahl entwickelt wurde.[31]

Ueber die Beweise, dass alle civilisirten Nationen einst Barbaren waren. – Der vorliegende Gegenstand ist in einer so eingehenden [187] und vorzüglichen Weise von Sir J. Lubbock,[32] Mr. Tylor, Mr. M’Lennan und Anderen behandelt worden, dass ich hier nur nöthig habe, einen sehr kurzen Auszug ihrer Resultate zu geben. Die früher vom Herzog von Argyll[33] und noch früher vom Erzbischof Whately zu Gunsten der Annahme, dass der Mensch als ein civilisirtes Wesen auf die Welt kam und dass alle Wilden seit jener Zeit einer Entartung unterlegen sind, vorgebrachten Argumente scheinen mir im Vergleich mit den von der andern Seite vorgebrachten schwach zu sein. Ohne Zweifel sind viele Nationen in ihrer Civilisation zurückgegangen und einige mögen in vollständige Barbarei verfallen sein, trotzdem mir in Bezug auf den letzteren Punkt keine Beweise begegnet sind. Die Feuerländer wurden wahrscheinlich durch andere erobernde Horden gezwungen, sich in ihrem unwirthbaren Lande niederzulassen, und sie können in Folge davon wohl noch etwas weiter entartet sein; es dürfte aber schwer zu beweisen sein, dass sie viel tiefer als die Botokuden gesunken sind, welche die schönsten Theile von Brasilien bewohnen.

Die Zeugnisse für die Annahme, dass alle civilisirten Nationen die Nachkommen von Barbaren sind, bestehen auf der einen Seite aus deutlichen Spuren ihres früheren niedrigen Zustandes, wie noch immer existirende Gebräuche, Glaubensansichten, ihre Sprache u. s. w., auf der andern Seite aus Beweisen, dass Wilde unabhängig und selbständig im Stande sind, einige wenige Schritte in der Civilisationsstufe sich zu erheben und auch wirklich sich erhoben haben. Der thatsächliche Beweis für den ersten Punkt ist im äussersten Grade merkwürdig, kann aber hier nicht gegeben werden: ich beziehe mich auf solche Fälle, wie z. B. die Kunst des Zählens, welche, wie Mr. Tylor an den an einigen Orten noch immer gebrauchten Worten nachgewiesen hat, ihren Ursprung in dem Zählen der Finger, zuerst der einen Hand, dann der andern und endlich auch der Zehen gehabt hat. Wir haben Spuren hiervon in unserem eigenen Decimalsystem und in den römischen Zahlzeichen, wo wir, nachdem die Ziffer V erreicht ist (von der man annimmt, dass sie eine zusammengezogene Abbildung der menschlichen Hand darstelle), zu den Zahlen VI u. s. w. übergehen, bei denen ohne Zweifel die andere Hand gebraucht wurde; – so ferner wenn die Engländer „von three score and ten sprechen, wo sie im Vigesimalsystem zählen, wobei jedes score als ideelle Einheit aufgefasst für zwanzig [188] steht – für ‚ein Mann‘, wie es ein Mexicaner oder Caraibe ausdrücken würde“.[34] Den Ansichten einer grossen und an Anhängern noch zunehmenden Philologenschule zufolge trägt jede Sprache Merkzeichen ihrer langsamen und allmählichen Entwickelung an sich. Dasselbe ist der Fall mit der Kunst zu schreiben, da die Buchstaben Rudimente bildlicher Darstellungen sind. Es ist kaum möglich, Mr. M’lennan’s Werk[35] zu lesen, ohne zuzugeben, dass fast alle civilisirten Nationen noch immer gewisse Spuren derartiger roher Gewohnheiten, wie des zwangsweisen Gefangennehmens der Weiber, beibehalten. Welche Nation des Alterthums, frägt derselbe Schriftsteller, kann angeführt werden, welche ursprünglich monogam gewesen wäre? Die ursprüngliche Idee der Gerechtigkeit, wie sie sich durch das Gesetz des Kampfes und anderer Gebräuche zeigt, deren Spuren noch jetzt übrig sind, war gleichfalls äusserst roh. Viele noch jetzt existirende abergläubische Züge sind die Ueberbleibsel früherer falscher religiöser Glaubensansichten. Die höchste Form der Religion – die grossartige Idee eines Gottes, welcher die Sünde hasst und die Gerechtigkeit liebt – war während der Urzeiten unbekannt.

Wenden wir uns jetzt zu der andern Form von Beweisen: Sir J. Lubbock hat nachgewiesen, dass einige Wilde neuerdings in einigen ihrer einfacheren Kunstfertigkeiten fortgeschritten sind. Nach dem äusserst merkwürdigen Berichte, welchen er von den Waffen, Werkzeugen und Künsten gibt, welche von Wilden in verschiedenen Theilen der Welt gebraucht oder geübt werden, lässt sich nicht zweifeln, dass dies fast alles unabhängige Entdeckungen gewesen sind, vielleicht mit Ausnahme der Kunst, Feuer zu machen.[36] Der australische Bumerang ist ein gutes Beispiel einer solchen unabhängigen Entdeckung. Als man zuerst die Bewohner von Tahiti besuchte, waren sie in vielen [189] Beziehungen gegen die Einwohner der meisten andern polynesischen Inseln vorgeschritten. Für die Annahme, dass die hohe Cultur der eingeborenen Peruaner und Mexicaner aus irgend einer fremden Quelle geflossen sei, lassen sich keine triftigen Gründe anführen;[37] viele eingeborene Pflanzen wurden dort cultivirt und einige wenige eingeborene Thiere domesticirt. Wir müssen im Auge behalten, dass eine wandernde Bootsmannschaft aus irgend einem halb civilisirten Lande, wenn sie an die Küsten von America angetrieben worden wäre, nach dem geringen Einflusse der meisten Missionäre zu urtheilen, keine ausgesprochene Wirkung auf die Eingeborenen geäussert haben würde, wenn diese nicht bereits in einem gewissen Grade fortgeschritten gewesen wären. Werfen wir unsern Blick auf eine äusserst entfernt zurückliegende Zeit in der Geschichte der Welt, so finden wir, um Sir J. Lubbock’s bekannte Ausdrücke zu gebrauchen, eine paläolithische und eine neolithische Periode; und Niemand wird behaupten, dass die Kunst, rohe Feuersteinwerkzeuge zu poliren, eine erborgte gewesen sei. In allen Theilen von Europa, und zwar im Osten bis nach Griechenland, dann in Palästina, Indien, Japan, Neuseeland und Africa, mit Einschluss Egyptens, sind Feuersteinwerkzeuge in grosser Menge entdeckt worden, und von ihrem Gebrauch hat sich bei den jetzigen Einwohnern auch nicht einmal eine Tradition erhalten. Wir haben auch indirecte Belege dafür, dass solche Werkzeuge früher von den Chinesen und alten Juden gebraucht wurden. Es besteht daher wohl kaum ein Zweifel darüber, dass die Bewohner dieser zahlreichen Länder, welche nahezu die ganze civilisirte Welt umfassen, einstmals in einem barbarischen Zustande sich befanden. Zu glauben, dass der Mensch vom Ursprung an civilisirt gewesen und dann in so vielen Gegenden einer Entartung unterlegen sei, hiesse eine sehr erbärmliche Ansicht von der menschlichen Natur hegen. Allem Anscheine nach ist es eine richtigere und wohlthuendere Ansicht, dass Fortschritt viel allgemeiner gewesen ist als Rückschritt, dass der Mensch, wenn auch mit langsamen und unterbrochenen Schritten, sich von einem niedrigeren Zustande zu dem höchsten jetzt in Kenntnissen, Moral und Religion von ihm erlangten erhoben hat.


  1. Anthropological Review. May 1864. p. CLVIII.
  2. Wenn die Glieder eines Stammes oder ganze Stämme eine Zeit lang in einem andern Stamm aufgegangen sind, nehmen sie, wie Mr. Maine bemerkt (Ancient Law, 1861, p. 131) an, dass sie Nachkommen derselben Voreltern wie die Glieder des letzteren seien.
  3. Morlot, Soc. Vaud. Scienc. Nat. 1860, p. 294.
  4. Beispiele habe ich in meinem „Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication“. 2. Aufl. Bd. 2, S. 224 gegeben.
  5. s. eine Reihe merkwürdiger Artikel „on Physics and Politics“ in: Fortnightly Review. Nov. 1867, 1. Apr. 1868. 1. Juli 1869; seitdem separat erschienen.
  6. Mr. Wallace führt Fälle hiervon an in seinen Contributions to the Theory of Natural Selection. 1870, p. 354.
  7. Ancient Law. 1861, p. 22. Wegen Bagehot’s Bemerkungen s. Fortnightly Review, 1. Apr. 1868, p. 452.
  8. Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication. 2. Aufl. Bd. 1. S. 342. 343.
  9. Fraser’s Magazine. Sept. 1868, p. 353. Es scheint dieser Aufsatz viele Personen sehr frappirt zu haben; auch hat er zwei merkwürdige Abhandlungen hervorgerufen, ebenso eine Entgegnung in The Spectator, 3. Oct. und 17. Oct. 1868. Ebenso hat er Erörterungen veranlasst im Quart. Journal of Science, 1869, p. 152, dann von Mr. Lawson Tait in: The Dublin Quart. Journ. of Medical Science, Febr. 1869. und von E. Ray Lankester in seiner: Comparative Longevity. 1870, p. 128. Aehnliche Ansichten wurden früher schon geäussert in „Australasian“ 13. Juli, 1867. Von mehreren dieser Schriftsteller habe ich Ideen entlehnt.
  10. Wallace, in der Anthropolog. Review, am früher angeführten Orte; Galton, in Macmillan’s Magazine, Aug. 1865, p. 318. s. auch sein grösseres Werk „Hereditary Genius“. 1870.
  11. Prof. H. Fick gibt (Einfluss der Naturwissenschaft auf das Recht, Juni 1872) mehrere gute Bemerkungen hierüber und über andere derartige Punkte.
  12. Hereditary Genius, 1870, p. 132-140.
  13. Quatrefages, Revue des Cours scientifiques, 1867—68, p. 659.
  14. s. die fünfte und sechste nach guten Quellen zusammengestellte Columne der Tabelle in E. Ray Lankester’s Comparative Longevity. 1870, p. 115.
  15. Hereditary Genius. 1870, p. 330.
  16. Entstehung der Arten. 5. Aufl. S. 104.
  17. Hereditary Genius. 1870, p. 347.
  18. E. Ray Lankester, Comparative Longevity. 1870, p. 115. Die Tabelle der Unmässigkeit ist aus Neison’s Vital Statistics. In Bezug auf Ausschweifungen s. Dr. Farr, Influence of Marriage on Mortality: Nat. Assoc. for the Promotion of Social Science. 1858.
  19. Fraser’s Magazine, Sept. 1868, p. 353. Macmillan’s Magazine. Aug. 1865, p. 318. F. W. Farrar (Fraser’s Magaz., Aug. 1870, p. 264) ist verschiedener Ansicht.
  20. On the laws of the Fertility of Women, in: Transact. Roy. Soc. Edinburgh, Vol. XXIV, p. 287, jetzt auch apart erschienen unter dem Titel: „Fecundity, Fertility and Sterility“. 1871. s. auch Galton, Hereditary Genius, p. 352–357, wo sich Beobachtungen zu Gunsten der obigen Ansicht finden.
  21. Tenth Annual Report of Births, Deaths etc. in Scotland, 1867, p. XXIX.
  22. Diese Citate sind unserer höchsten Autorität über solche Fragen entnommen, nämlich Dr. Farr in seinem Aufsatz: On the Influence of Marriage on the Mortality of the French People, gelesen vor der Nat. Assoc. for the Promotion of Social Science. 1858.
  23. Dr. Farr, ebenda. Die weiter unten angeführten Angaben sind derselben merkwürdigen Arbeit entnommen.
  24. Ich habe das fünfjährige Mittel genommen aus The Tenth Annual Report of Births, Deaths etc. in Scotland. 1867. Das Citat nach Dr. Stark ist aus einem Artikel in den Daily News, 17. Oct. 1863, welcher nach Dr. Farr’s Urtheil mit grosser Sorgfalt verfasst ist.
  25. Dr. Duncan bemerkt (Fecundity, Fertility etc., 1871, p. 334) hierüber: „Auf jeder Altersstufe gehen die Gesunden und Schönen von den Unverheiratheten auf die verheirathete Seite über und lassen damit die Reihen der Unverheiratheten voll von Kränklichen und Unglücklichen“.
  26. siehe die geistvolle und originelle Erörterung dieses Gegenstandes von Galton, Hereditary Genius, p. 340–342.
  27. Greg in Fraser’s Magazine. Sept. 1868, p. 357.
  28. Hereditary Genius. 1870, p. 357-359. F. H. Farrar bringt Gründe für die gegentheilige Ansicht bei (Fraser’s Magazine, August 1870, p. 257). Sir Ch. Lyell hat bereits in einer merkwürdigen Stelle (Principles of Geology. Vol. II. 1868, p. 489) die Aufmerksamkeit auf den üblen Einfluss der Inquisition gelenkt, indem sie nämlich durch Zuchtwahl den allgemeinen Stand der Intelligenz in Europa herabgedrückt habe.
  29. Galton in Macmillan’s Magazine. Aug. 1865, p. 325. s. auch „Nature“, Dec. 1869, p. 184: On Darwinism and National Life.
  30. Last Winter in the United States. 1868, p. 29.
  31. Ich bin Mr. John Morley wegen mehrerer guter kritischer Bemerkungen über diesen Gegenstand sehr verbunden; s. auch Broca, Les Sélections. Revue d’Anthropologie. 1872.
  32. On the origin of Civilisation; Proc. Ethnolog. Soc. Nov. 26, 1867.
  33. Primeval Man. 1869.
  34. Royal Institution of Great Britain. March 15, 1867; s. auch Researches into the Early of History of Mankind. 1865.
  35. Primitive Marriage, 1865; s. auch einen offenbar von demselben Verfasser herrührenden ausgezeichneten Artikel in der North British Review, July, 1869. Auch L. H. Morgan, A Conjectural Solution of the Origin of the Class. System of Relationship. in: Proceed. American Acad. of Sciences. Vol. VII. Febr. 1868. Prof. Schaaffhausen erwähnt (Anthropol. Review, Oct. 1869, p. 373) „die Spuren von Menschenopfern im Homer und im alten Testament".
  36. Sir J. Lubbock, Prehistoric Times. 2. edit. 1869. Cap. XV und XVI, an mehreren Stellen, s. auch das ausgezeichnete 9. Capitel in Tylor’s Early History of Mankind, 2. edit. 1870.
  37. Dr. Ferd. Müller hat einige gute Bemerkungen hierüber gemacht in der „Reise der Novara". Anthrop. Theil. Abtheil. III. 1868. S. 127.
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