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gewesen sei, um den Menschen aufwärts auf seine höchste Stufe zu treiben. Nach alle dem was wir vom Menschen und den niederen Thieren wissen zu urtheilen, hat es stets eine hinreichende Variabilität in den intellectuellen und moralischen Eigenschaften gegeben, um zu einem stetigen Fortschritt durch natürliche Zuchtwahl zu führen. Ohne Zweifel erfordert ein solches Fortschreiten viele günstig zusammenwirkende Umstände; aber es dürfte wohl zu bezweifeln sein, ob die günstigsten dazu hingereicht haben würden, wenn nicht das Verhältniss der Zunahme ein rapides und der in Folge davon auftretende Kampf um’s Dasein ein bis zum äussersten Grade heftiger gewesen wäre. Nach dem, was wir z. B. in Theilen von Südamerica sehn, scheint es, als würde ein Volk, welches wohl civilisirt genannt werden kann, wie die Spanischen Colonisten, leicht indolent und schreite rückwärts, wenn die Lebensbedingungen gar zu günstig und leicht sind. Bei hoch civilisirten Nationen hängt der beständige Fortschritt in einem untergeordneten Grade von natürlicher Zuchtwahl ab; denn derartige Nationen ersetzen und vertilgen einander nicht so, wie es wilde Stämme thun. Nichtsdestoweniger werden in der Länge der Zeit die intelligenteren Individuen einer und derselben Genossenschaft besseren Erfolg haben, als die untergeordneteren, und werden auch zahlreichere Nachkommen hinterlassen: und dies ist eine Form der natürlichen Zuchtwahl. Die wirksameren Ursachen des Fortschritts scheinen zu bestehen einmal in einer guten Erziehung während der Jugend, wo das Gehirn Eindrücken leicht zugänglich ist, und dann in einem hohen Maassstab der Vortrefflichkeit, wie er in der Natur der fähigsten und besten Leute ausgeprägt, in den Gesetzen, Gebräuchen und Ueberlieferungen der Nation verkörpert und von der öffentlichen Meinung bekräftigt wird. Man muss indessen im Auge behalten, dass die Macht der öffentlichen Meinung von unsrer Anerkennung der Billigung und Missbilligung Andrer abhängt; und diese Anerkennung gründet sich auf unsre Sympathie, welche, wie kaum bezweifelt werden kann, als eines der wichtigsten Elemente der socialen Instincte ursprünglich durch natürliche Zuchtwahl entwickelt wurde.[1]

Ueber die Beweise, dass alle civilisirten Nationen einst Barbaren waren. – Der vorliegende Gegenstand ist in einer so eingehenden


  1. Ich bin Mr. John Morley wegen mehrerer guter kritischer Bemerkungen über diesen Gegenstand sehr verbunden; s. auch Broca, Les Sélections. Revue d’Anthropologie. 1872.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/200&oldid=- (Version vom 31.7.2018)