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ihrer Genossen nachahmen. Wenn nun in einem Stamme irgend ein Mensch, welcher scharfsinniger ist als die Uebrigen, eine neue Finte oder Waffe oder irgend ein anderes Mittel des Angriffs oder der Vertheidigung erfindet, so wird das offenbarste eigene Interesse, ohne die Unterstützung grosser Verstandesthätigkeit, die andern Glieder des Stammes dazu bringen, ihm nachzuahmen, und hierdurch werden Alle Vortheile haben. Die gewohnheitsgemässe Uebung einer jeden neuen Kunst muss gleichfalls in einem unbedeutenden Grade den Verstand kräftigen. Ist die neue Erfindung von grosser Bedeutung, so wird der Stamm an Zahl zunehmen, sich verbreiten und andere Stämme verdrängen. In einem hierdurch zahlreicher gewordenen Stamme wird auch die Wahrscheinlichkeit immer grösser sein, dass andere ausgezeichnete und erfinderische Glieder geboren werden. Hinterlassen solche Leute Kinder, welche deren geistige Ueberlegenheit erben können, so wird die Wahrscheinlichkeit der Geburt von noch ingeniöseren Mitgliedern wieder grösser werden und besonders bei einem sehr kleinen Stamme ganz entschieden grösser. Selbst wenn sie keine Kinder hinterlassen, wird doch der Stamm wenigstens Blutverwandte von ihnen noch enthalten, und es ist von Landwirthen[1] nachgewiesen worden, dass durch das Erhalten einer Familie und das Nachzüchten von ihr, wenn sich überhaupt nur ein Thier aus derselben beim Schlachten als ein werthvolles herausstellte, die gewünschte Beschaffenheit erlangt worden ist.

Wenden wir uns nun zu den socialen und moralischen Fähigkeiten. Damit die Urmenschen oder die affenähnlichen Urerzeuger des Menschen social würden, mussten sie dieselben instinctiven Gefühle erlangt haben, welche andere Thiere dazu treiben, in Menge beisammen zu leben; und sie boten ohne Zweifel dieselbe allgemeine Disposition dazu dar. Sie werden sich ungemüthlich gefühlt haben, wenn sie von ihren Kameraden getrennt waren, für welche sie einen gewissen Grad von Liebe gefühlt haben; sie werden einander vor Gefahr gewarnt haben und werden sich gegenseitig beim Angriff oder bei der Vertheidigung unterstützt haben. Alles dies setzt einen gewissen Grad von Sympathie, von Treue und von Muth voraus. Derartige sociale Eigenschaften, deren wichtige Bedeutung für die niederen Thiere Niemand bestritten


  1. Beispiele habe ich in meinem „Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication“. 2. Aufl. Bd. 2, S. 224 gegeben.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 168. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/182&oldid=- (Version vom 31.7.2018)