Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland/Fünftes Kapitel

Viertes Kapitel Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland
von Heinrich Ferdinand Steinmann
Sechstes Kapitel
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Fünftes Kapitel.




Lady Georgiana empfing mich mit vieler Herzlichkeit und stellte mir zwei ihrer Kinder vor, ihre zweite Tochter Georgiana, ein bildschönes Mädchen von zwölf Jahren, und ihren jüngsten Sohn Richard, [30] einen Knaben von zwölf Jahren. Die übrigen Kinder waren noch mit ihrer englischen Gouvernante in Brighton, um der Seebäder willen. Sie gab mir volle Autorität über erstere, der Knabe hatte noch seine Kinderfrau. Mein Posten war daher vor der Hand ein sehr leichter, d. h. ich ertheilte meiner interessanten Schülerin deutschen Sprachunterricht, musicirte mit ihr, dann gingen wir auf ärztliche Verordnung spazieren, arbeiteten ein wenig und unterhielten uns auf die angenehmste Art von der Welt. Meine Schülerin hatte ein lebhaftes Temperament, große Fähigkeiten, aber auch großen Hang zum Leichtsinn, der sie alle Rücksichten mißachten ließ, die sich ihren Neigungen entgegenstellten. – Sie war durch Natur und Erziehung die geistige Doppelgängerin ihrer Mutter.

Ich erfuhr jetzt, daß Milady mit ihrem Gemahle in sehr unglücklicher Ehe, sogar in halber Trennung lebte, er auf seiner Besitzung H., sie in London. Auffallend war mir, daß Dr. Charles, obwohl Gatte und Vater, sie überallhin, zu Fuß und zu Wagen, auch an die öffentlichen Vergnügungsörter begleitete, so wie daß die Lady oft um ein und zwei Uhr des Nachts halb berauscht in unser Schlafzimmer kam und ihre Tochter mit Küssen und Leckereien weckte. Ich hatte noch nicht mein siebenzehntes Jahr vollendet und Milady hielt mich daher wahrscheinlich für zu kindisch und unwissend, um sich den geringsten Zwang anzuthun, weshalb ich leider oft Augenzeuge von Scenen war, die mein Gefühl verletzten. Da sie sich ungern von Georgiana trennte, so begleiteten wir sie und Sir Charles oft in das Schauspiel und die Oper, deren großartige Pracht und glänzendes Publikum mir ein lebhaftes Vergnügen gewährte. Ich hatte einige Male Gelegenheit, das Talent Kambles und Keans, wie auch die Meisterschaft eines Rubini, Lablache, einer Grisi u. a. zu bewundern. Die italienische Oper gewährt einen der reizendsten Genüsse, die man sich vorstellen kann, da nicht nur die Bühne, sondern auch das Publikum die größte Pracht entfaltet. Niemandem wird der Eintritt gestattet, der nicht in voller Toilette erscheint; selbst die Galerie, auf welcher der Platz zehn Schillinge kostet, ist davon nicht ausgenommen. Bisweilen besuchten wir zwei reizende Vergnügungsorte bei London, Beulachs Spaa und Hornsey Wood, wo täglich vorzügliche Musikcorps spielen und welche durch ihre herrlichen Anlagen unbeschreiblich anziehend sind. Hier giebt es Bücher, in welche Besucher nach Belieben ihre Namen schreiben, und ich konnte nicht umhin, zu [31] bemerken, daß Lady N. sich stets als Gräfin M… einschrieb. Sie erzählte mir bei einer solchen Gelegenheit, daß ein Ahnherr ihres Gemahls diesen Titel von dem Großherzog Cosmo dei Medici erhalten habe, weshalb er in der Familie erblich sei, daß der honorable Lord N. ein jüngerer Zweig der gräflichen Familie A… und sie selbst die Tochter des irischen Grafen L… sei. Im Umgange mit mir fand ich diese Dame meist liebenswürdig, bis auf gewisse Launen, denen ich auch die Inconsequenz hinzurechnete, womit sie ihre Tochter behandelte. So begriff ich zum Beispiel nicht, weshalb diese bisweilen Morgens, wenn sie ihre Mutter besucht hatte, weinend und so grausam zerschlagen zurück kam, daß sie weder sitzen noch gehen konnte. Ich hätte ein steinernes Herz haben müssen, wenn ich nicht auf das Schmerzlichste hätte ergriffen sein sollen, namentlich da ich nicht die geringste Ursache zu solcher barbarischen Strafe an dem reizenden Wesen fand. Indessen konnte ich lange keine erklärende Antwort auf meine Fragen erhalten, und gewöhnlich überhäufte ihre Mutter sie in der nächsten Stunde mit Liebkosungen und Geschenken.

Eines Tages kam Frau M…, Lady Georgiana’s Kammerfrau, zu mir und sagte, daß sie von ihrer Dame beauftragt sei, über einen Gegenstand mit mir zu sprechen, der ihr als Mutter schmerzlich sei, zugleich lasse sie mich aber dringend bitten, Georgiana und künftig alle ihre Kinder auf das strengste zu überwachen, weil sie sich einer Sünde hingäben, welche den Körper und schließlich auch den Geist zu Grunde richte.

„Aber was ist denn das für eine Sünde? fragte ich mit der äußersten Spannung; ich habe sie stets im Auge und habe doch noch nicht das mindeste Unrechte an ihr bemerkt.“

„O, Sie glauben nicht, sagte die Kammerfrau, wie verderbt alle diese Kinder sind! es vergeht kein Tag, wo sie ihr Laster nicht treiben, Milady und ich sehen es ihnen gleich an den Augen ab, und dann müssen sie es gestehen, und thun sie es nicht gutwillig, so prügeln wir sie, bis sie haarklein erzählen. Sie glauben nicht, wie schwer es manchmal hält, zuweilen sind wir beide so müde vom Zuhauen, daß wir die Arme nicht mehr rühren können.“

Bei dieser empörenden Mittheilung wurde mir schwarz vor den Augen: „Ist es möglich, rief ich aus, daß eine Mutter ihre Kinder so foltern kann? Sie sagen selbst, daß die Kinder geschlagen werden, bis sie gestehen; das ist Tortur, die in der ganzen civilisirten Welt nicht [32] bei den schwersten Verbrechen besteht; wie kommt sie in die Kinderstube? was ist das für eine „Sünde“, deren sich die armen Geschöpfe sollen schuldig gemacht haben?“

Das Weib erzählte mir jetzt mit der Wuth eines Inquisitors, daß die Kinder sich sämmtlich dem Laster der Selbstbefleckung hingäben, und als ich dies bezweifelte, drohte sie mir mit dem Zorne der Lady. So scharf ich aber auch von jetzt an Georginen in’s Auge faßte und sorgfältigst beobachtete, konnte ich doch nie etwas Unanständiges an ihr bemerken. Eines Tages ließ mich die Lady rufen, Sir Charles war auch zugegen und sie redete mich barsch an: „Ich habe Sie zur Beaufsichtigung meiner Kinder engagirt, und damit Ihnen dieselbe gelinge, Sie von ihren Verirrungen in Kenntniß setzen lassen. Aber Sie scheinen Ihre Pflicht nicht zu thun, denn Georgiana treibt ihre Unart so arg als je. Sie müssen dies entweder verhüten oder wir müssen uns trennen, denn wenn Sie die Eine nicht überwachen können, was soll werden, wenn die übrigen kommen?“

„Milady, erwiederte ich ruhig, ich habe Georgiana wie meinen Augapfel bewacht und verbürge mich dafür, daß sie nichts Unrechtes gethan hat.“

„Es sind aber Beweise vom Gegentheile da; nicht wahr, Sir Charles?“ sagte sie, sich an Diesen wendend.

„Gewiß,“ sagte dieser, und die Dame gab mir jetzt eine so umständliche Beschreibung der Thatsache, daß mich eine Ohnmacht anwandelte; sie fügte auch zu meiner besseren Belehrung ein Buch von dem Franzosen Dr. Riofray hinzu und gebot mir, es aufmerksam zu lesen. Ich verwünschte meine Armuth und empfand einen wahren Lebensüberdruß. Vielleicht, sagte ich zu mir selber, giebt es keine zweite Familie in England, wo dieses Laster herrscht, und gerade mich mußte es treffen, hierher zu kommen! Vielleicht giebt[WS 1] es keine G’s. und keine Mistreß H. mehr, aber gerade mich mußte das Schicksal ihnen in die Hände spielen! In demselben Augenblicke fiel mir aber auch ein, daß ich in Brüssel mein Glück zwei Mal von mir gestoßen und die Vorstellungen meines edeln Freundes Karl T. verachtet hatte. Ich hatte ihm seit meinem Eintritt in dieses Haus zum ersten Male geschrieben, die Scham hatte mich abgehalten, ihm mein Unglück zu melden, jetzt erhielt ich eine Antwort, die mir alle meine Geistesfrische wiedergab. Sein Schreiben war ganz Liebe zur Kunst und zu mir; er hatte Italien gesehen [33] und seine Meisterwerke studirt; er gab sich mit Entzücken der Hoffnung hin, ihnen mit Erfolg nachzueifern; der König hatte ihn würdig befunden, ihn im nächsten Winterhalbjahr auf Kosten der Civilliste nach Griechenland zu schicken. Brauchte es mehr, mich mein Schicksal vergessen zu lassen?

Es waren einige Wochen verstrichen, als Fräulein J., die englische Gouvernante, mit den anderen Kindern und dem Dienstpersonal von Brighthon ankam, eine Dame von etwa fünfundzwanzig Jahren, ziemlich schön, von ausgezeichneten Formen. Milady empfing sie freundlich und herzlich, aber in der würdevollen Haltung und kalten Höflichkeit der Ersteren lag so viel imposante Selbstachtung, daß es schien, als dulde sie jene mehr als daß sie sie achte oder gar verehre, und es bedurfte keines besonderen Scharfsinnes, um zu schließen, daß Fräulein J.’s Stellung der Herrin gegenüber vollkommen gesichert sei.

Die Kinder achteten und fürchteten die Gouvernante so sehr, daß sie vor einem strafenden Blicke zitterten, während sie ein freundlicher zu beglücken schien. Anfänglich standen wir uns ziemlich verschlossen gegenüber, später wurden wir Freundinnen.

Jeden Morgen nach dem Frühstück holte Frau M. Georgiana und Charlotte zu ihrer Mama, und es vergingen wenig Tage, an denen sie nicht bis auf’s Blut geschlagen wurden. Miß J. und ich hörten ihr Angstgeschrei, welches uns das Herz zerriß, ohne daß wir ihnen helfen konnten. Auch der zweite Knabe, Georg, ward dieses Vergehens geziehen und mit derselben Grausamkeit behandelt. Nur Lavinia, die Aelteste, ein Mädchen von dreizehn Jahren, wurde nie zu ihrer Mama gerufen und daher nie geschlagen. Als ich gegen diese einst meine Freude äußerte, daß Lavinia von dem Fehler frei sei, sagte sie: „Ach, sie ist so schlimm wie die anderen, aber sie ist zu häßlich, als daß ich mir die Mühe mit ihr nehmen sollte.“ – Lavinia, welche die Schönheit ihrer Schwestern mit derartigen Vortheilen bevorzugt sah, schien eine heile Haut als hinlänglichen Ersatz für dieselbe zu betrachten und tröstete sich vollkommen über die Verbannung aus ihrer Mutter Gegenwart. Sie hatte das beste Herz und den liebenswürdigsten Charakter unter den drei Schwestern. Früher hatten die Kinder im Verhöre vorgegeben, daß sie ihre Unart in Miß J.’s Gegenwart begangen hätten, allein da diese sie nie dabei ertappt hatte, so wurden die armen Geschöpfe noch besonders wegen Lüge bestraft. Jetzt spielte ich in ihren Aussagen die [34] Rolle der Gouvernante; allein da auch ich nie dergleichen an ihnen gesehen hatte, auch ihre blühende Gesundheit das Gegentheil bezeugte, so hielt ich Alles für ein Hirngespinnst der Mutter und des Arztes, sprach mich auch in diesem Sinne offen aus. Diese Kinder waren, wie sonst die sogenannten Hexen, das Opfer des scheußlichen Beichtprozesses. – Auf Befehl der Lady mußte jetzt Frau M. bei einem berühmten Mechaniker in Oxford-Street den Kindern fabelhafte Maschinen anmessen lassen, welche durch Bandagen und Schlösser am Körper befestigt wurden. – Diesen drei Menschen erging es ihrerseits wie den Ketzer- und Hexen-Richtern: sie waren in ihrer abscheulichen Idee befangen und würden derselben ihre Opfer geschlachtet haben. – Als die Kinder diese Instrumente am Leibe hatten, bekamen wir einigermaßen Ruhe, da sie jetzt nicht mehr gefoltert und gemißhandelt, wir nicht mehr mit dem aufreibenden Geschäfte des Hütens und mit Vorwürfen über angebliche Saumseligkeit gepeinigt würden. Frau M. hatte die Schlüssel zu den Maschinen.

Seit Fräulein J.’s Ankunft waren alle jene Ergötzlichkeiten, deren ich zuvor genoß, weggefallen, wiewohl die Lady fast täglich mit Dr. Ch. ausfuhr und bisweilen die Kinder mitnahm. Es war klar, daß sie sich vor ihrer Gouvernante scheuete, und da sie niemals Gesellschaft empfing noch mit uns verkehrte, so waren wir Beide auf uns selbst beschränkt. Miß J. hatte indeß eine günstig gestellte Familie und wohlhabende Freunde, die sie oft besuchte, während meine einzige Freundin Fräulein H. war, deren Anhänglichkeit mir in meiner Verlassenheit unendlich wohl that. Sie bat mich am Schlusse der Season dringend, sie vor ihrer Abreise noch einmal zu besuchen, wozu ich von der Lady nur mit Mühe die Erlaubniß erhielt. Als ich nach einer glücklich verlebten Stunde mich verabschieden wollte, kam Madame H. und versicherte mich, daß sie mir ein Pfund zu viel gezahlt habe; ich empfand einen solchen Widerwillen gegen dieses niedrige Geschöpf, daß ich sagte: „Madame, Sie kommen mir vor wie Abdallah in Chamisso’s Gedicht, und da muß ich wohl den Derwisch machen, um Ihnen zu beweisen, daß die Deutschen großmüthig sind.“

Mit diesen Worten gab ich ihr meinen letzten Souvereigne aus Nationalgefühl, und die edle Miß nahm ihn von der so verlästerten Deutschen sehr dankbar an – die Reiche von der Armen.

Im Verlaufe der Zeit stellten sich die finanziellen Verhältnisse der [35] Lady immer mehr als zerrüttet heraus, der Tisch im Schulzimmer und manche andere Bedürfnisse wurden immer mangelhafter. Nichtsdestoweniger hing sie ihrer Putz- und Vergnügungssucht nach, kein Luxusartikel war ihr zu theuer und bei Hofe und in anderen Gesellschaften entfaltete sie die größte Pracht. An Erziehungsmitteln ließ sie es jedoch nicht fehlen; ein Kapellan der Königin Victoria ertheilte den Kindern Unterricht in Religion, Naturlehre, Algebra und Mathematik, woran Fräulein J. und ich Theil nahmen; Herr H…, einer der ersten Musiklehrer Londons, lehrte Piano und Theorie, Madame G… unterrichtete in der Tanzkunst, und Signora P…, eine Römerin, im Italienischen. Nur eine Stunde des Tages gingen wir spazieren, alle übrigen hatten ihre Bestimmung, an welche eine Wanduhr im Schulzimmer erinnerte. Höchst wohlthätig wirkte das Beispiel der J. auf mich wie auf die Kinder, ihre Gerechtigkeit, Beständigkeit und Entschiedenheit, wie ihr seltener Scharfblick und ihre Pflichttreue erregten meine Bewunderung. Sie ließ sich nie zu einer Hätschelei gegen die vergötterte Georgiana oder zu einer Zurücksetzung gegen die unterdrückte Lavinia bewegen, und hatte sie einmal ein Mittel gewählt, so verfolgte sie es beharrlich. Ihr Blick drang in die geheimsten Falten, sie überraschte so zu sagen die Gedanken, und Niemand konnte ihr eine Nachlässigkeit nachweisen. Ihre Zucht war eine vollkommen militairische; nie plauderte oder scherzte sie mit ihren Zöglingen und lobte sie selbst dann nicht, wenn sie es verdienten. Daher der große Respekt, den sie genoß und der an Ehrfurcht grenzte. Alles dieses wäre indessen nicht so gewesen, hätte sie auf Widerstand der Mutter gestoßen, dieser aber imponirten die mächtigen Gönner und glücklichen Familienverhältnisse ihrer Erzieherin, und sie vermied daher jede, auch die geringste Reibung mit ihr. Im Frühjahre verließ uns leider dieses ausgezeichnete Frauenzimmer und trat in eine gräfliche Familie als Gouvernante ein; Niemand empfand ihren Verlust mehr als ich.

Fräulein Ch., die nächste englische Gouvernante, hatte das Unglück, lahm, kränklich und nervös zu sein; das daraus entspringende unbeholfene ängstliche Wesen bildete einen zu grellen Gegensatz zu der einfachen Würde und der Energie ihrer Vorgängerin, als daß die Kinder nicht augenblicklich hätten bemerken sollen, daß eine schwache Hand die Zügel ihrer Erziehung führe. Der Vergleich fiel allzu sehr zum Nachtheile der Miß Ch. aus und die Mutter unterstützte sie so wenig, daß meine [36] wie ihre Bemühungen, Verwilderung und Rückschritt fern zu halten, vergeblich blieben. Die Maschinen hatte man als unheilvoll den Kindern abnehmen müssen und alsbald begann Frau M. in Herne-Bey an der Küste von Kent, wo wir mit den Kindern den Sommer wegen der Seebäder verlebten, die Quälerei wieder. Da aber Miß Ch. mit mir unverhohlen ihre Mißbilligung aussprach, so hielt sie damit ein. Wären nicht alle Nachrichten von Karl, den Meinigen in Deutschland und Miß H. seit längerer Zeit ausgeblieben, so hätte ich zum ersten Male in England mit meinem Schicksale zufrieden sein können, zumal meine Gesundheit sich in dieser schönen Gegend und köstlichen Luft mehr und mehr befestigte. Einer unserer Lieblingsspaziergänge war ein schöner Weg, welcher über Wiesen unweit des Strandes nach einer alten gothischen Kirche führte, deren zwei spitze Thürme sich eigenthümlich schön am Horizonte abzeichneten. Nach ihrer Erbauung hatte sie ein paar englische Meilen vom Strande gestanden, die See war jedoch nach und nach gestiegen und hatte nicht nur den Kirchhof, sondern endlich die Kirche selbst unter Wasser gesetzt, und in diesem Zustand hatte sie wahrscheinlich Jahrhunderte gestanden. Demungeachtet ist sie merkwürdig erhalten, und von besonderer Schönheit sind die hohen Spitzbogenfenster, auf welchen das Leben Christi in allem Zauberspiel der Farben dargestellt ist. Auch sieht man noch viele Marmortafeln mit lateinischen und anglosächsischen Inschriften, wie auch andere Monumente, welche die Verdienste und Ruhestätten längst vergessener Generationen bekunden. Gern überließ ich mich den feierlichen Eindrücken, welche diese geweiheten Alterthümer auf mich machten; während ich im mystischen Halblicht, welches durch die bunten Fenster drang, diese Denkmäler und die Ansicht der Kirche zeichnete, fühlte ich mich von Ehrfurcht für das Zeitalter durchdrungen, welches schon vollendete Kunstwerke inmitten einer erst erblühenden Kultur erzeugte.

Im Herbste wurden wir wieder nach London gerufen, und hier ging leider die Pein der Kinder wie unsere eigene erst recht an. Jene wurden alle Tage wieder grausam gemißhandelt, und so fabelhaft es klingt, so ist es dennoch wahr, daß, nachdem sie bis auf’s Blut geschlagen worden waren, sie Frau M. auf Befehl ihrer Mutter mit Pfeffer und Salz einreiben mußte. Und alle diese teuflischen Grausamkeiten beging Lady N. unter dem Vorwande, ihre Kinder von einer unnatürlichen Sünde zu heilen! Zugleich reducirte sie unsern Tisch [37] auf ein so geringes Quantum, daß die Kinder – außer den Lieblingen Georgiana, Charlotte und Richard – die ekelhaftesten Dinge aus Hunger verzehrten. Sie selbst setzte ihr ausschweifendes Leben fort, und es war zu verwundern, daß dieses und ihre Gottlosigkeiten nicht bekannt wurden, denn wäre dies geschehen, so hätten sich ihre hohen Freunde, worunter die Familie des Herzogs von P. die einflußreichste und mächtigste war, gewiß von ihr zurückgezogen. – Im Verlaufe des Winters verließ uns Miß Ch. und an ihre Stelle trat Miß B., die gegen die schaamlose Aufführung der Lady und die Knauserei der Einrichtungen sofort heftig remonstrirte, ohne dadurch etwas anderes als beleidigende Chicanen zu erzielen. – Ihr folgte nach der Season Mistreß D. und so wechselten Gouvernanten und Dienstpersonal unaufhörlich, nur ich blieb wie ein Galeerensklave an meine Kette angeschlossen, ich hatte keine Hoffnung, meinem Schicksale zu entrinnen, und schon waren vier Jahre unter Qualen und im fürchterlichen Einerlei verstrichen. Dazu kam, daß ich von Karl keine Antwort erhielt, so oft und dringend ich ihn auch darum bat, und ebenso stumm blieben meine wenigen Freunde in England. Mitten in dem unermeßlichen Menschenmeere Londons lebte ich dennoch in trostloser Einsamkeit. Die Lady hatte mich von der Außenwelt völlig abgesperrt, ich konnte wegen ihrer Maßregeln längst nicht mehr das Haus verlassen, wenn ich nicht auf die Straße hinausgesperrt sein wollte. So lautete ihre Drohung, ihre Verheißung hingegen: „Bleiben Sie bis nach vollendeter Erziehung meiner Töchter in meinen Diensten, so erhalten Sie auf meiner Besitzung H. in Derbyshire lebenslänglich freie Wohnung und eine gute Pension.“

So waren vier Jahre verflossen, als Miß Emily Ch. erste Gouvernante bei uns ward. Sie war eine Dame von anscheinend vierzig Jahren, obgleich sie sich für dreißig ausgab; da ihr Vater ein berühmter Advokat gewesen war, so besaß sie von Hause aus bedeutende Connexionen und hatte ihre Laufbahn als Erzieherin unter sehr glücklichen Umständen begonnen. Sie war stets in hohen Häusern gewesen und wurde von diesen sehr wirksam unterstützt, besaß aber auch eine Unabhängigkeit und Sicherheit, wie ich sie noch an keiner ihrer Vorgängerinnen bemerkt hatte. Sie ging und kam nach Belieben, empfing alle Tage Besuche beider Geschlechter, und durch sie lernte ich auch die Gattin des bekannten Doctors B. R. kennen, die früher Erzieherin gewesen war und ihre Memoiren unter dem Titel The Govorness [38] herausgegeben[WS 2] hat. – Miß Ch. ergriff die strengsten Maßregeln, um die bereits verwilderten Kinder wieder zu bessern, aber ihr leidenschaftliches Verfahren verfehlte den Zweck gänzlich. Durch den unerträglichen Mangel und die außergewöhnlichen Verhältnisse auf’s äußerste gereizt, beobachtete sie die Lady und Sir Charles H. unaufhörlich, Tag und Nacht, und überraschte sie daher auch bei zärtlichen Scenen, worüber sie ihre Mißbilligung bei jeder Gelegenheit in Spott- und Schmähreden aussprach. Kurz, die Lady und ihre Erzieherin lebten in offener Fehde. Miß Ch. hatte übrigens die gute Eigenschaft, daß sie sich der kleineren unterdrückten Kinder schützend annahm, und gegen die scheußlichen Grausamkeiten, welche ihre Mutter an ihnen verübte, tobte und stürmte sie nicht nur mit der ihr eigenthümlichen Gemüthsart, sondern sie drohete auch mit Anzeige, wodurch sie wirklich einige Milderung für diese Unglücklichen erlangte. Sie hatte übrigens die Befriedigung, den Sturm, welcher sich schon seit langer Zeit über Lady Georginen’s Haupte zusammengezogen hatte, noch losbrechen zu sehen. Ihre unzähligen Gläubiger waren endlich zu einer richtigen Kenntniß ihrer Verhältnisse und Handlungsweise gelangt, verweigerten ihr in Folge davon allen ferneren Credit und bestürmten das Haus mit den unbeschreiblichsten Auftritten. Lehrer und Lieferanten blieben aus, und so war auf einmal der ganze Glanz wie eine Seifenblase verschwunden. – Zu jener Zeit galt in England noch das Gesetz, welches jede verheirathete Frau, so lange ihr Mann lebte, von der Bezahlung ihrer Schulden dispensirte, und auf diesen Schutz hin hatte Lady N. Schulden gemacht, die sie in ihrem Leben nicht bezahlen konnte. Da nun ihre Gläubiger jetzt von Rechtswegen nichts erlangen konnten, so setzten sie das Haus in einen völligen Belagerungszustand, bombardirten Thüre und Fenster, warnten die armen Lieferanten und hielten das Haus oft tagelang so abgesperrt, daß Niemand heraus noch hinein konnte. Einige hielten sich bisweilen versteckt, und wenn dann die Lady auszugehen wagte, verfolgten sie dieselbe mit Schimpfen und Drohungen, oft kam sie mit Schmutz und Speichel bedeckt nach Hause. Und dennoch schaffte sie nicht ein einziges Pferd ab und schränkte ihre Verschwendung nicht im geringsten ein.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. in der Vorlage: gibs
  2. in der Vorlage: herausgegehen