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einen Knaben von zwölf Jahren. Die übrigen Kinder waren noch mit ihrer englischen Gouvernante in Brighton, um der Seebäder willen. Sie gab mir volle Autorität über erstere, der Knabe hatte noch seine Kinderfrau. Mein Posten war daher vor der Hand ein sehr leichter, d. h. ich ertheilte meiner interessanten Schülerin deutschen Sprachunterricht, musicirte mit ihr, dann gingen wir auf ärztliche Verordnung spazieren, arbeiteten ein wenig und unterhielten uns auf die angenehmste Art von der Welt. Meine Schülerin hatte ein lebhaftes Temperament, große Fähigkeiten, aber auch großen Hang zum Leichtsinn, der sie alle Rücksichten mißachten ließ, die sich ihren Neigungen entgegenstellten. – Sie war durch Natur und Erziehung die geistige Doppelgängerin ihrer Mutter.

Ich erfuhr jetzt, daß Milady mit ihrem Gemahle in sehr unglücklicher Ehe, sogar in halber Trennung lebte, er auf seiner Besitzung H., sie in London. Auffallend war mir, daß Dr. Charles, obwohl Gatte und Vater, sie überallhin, zu Fuß und zu Wagen, auch an die öffentlichen Vergnügungsörter begleitete, so wie daß die Lady oft um ein und zwei Uhr des Nachts halb berauscht in unser Schlafzimmer kam und ihre Tochter mit Küssen und Leckereien weckte. Ich hatte noch nicht mein siebenzehntes Jahr vollendet und Milady hielt mich daher wahrscheinlich für zu kindisch und unwissend, um sich den geringsten Zwang anzuthun, weshalb ich leider oft Augenzeuge von Scenen war, die mein Gefühl verletzten. Da sie sich ungern von Georgiana trennte, so begleiteten wir sie und Sir Charles oft in das Schauspiel und die Oper, deren großartige Pracht und glänzendes Publikum mir ein lebhaftes Vergnügen gewährte. Ich hatte einige Male Gelegenheit, das Talent Kambles und Keans, wie auch die Meisterschaft eines Rubini, Lablache, einer Grisi u. a. zu bewundern. Die italienische Oper gewährt einen der reizendsten Genüsse, die man sich vorstellen kann, da nicht nur die Bühne, sondern auch das Publikum die größte Pracht entfaltet. Niemandem wird der Eintritt gestattet, der nicht in voller Toilette erscheint; selbst die Galerie, auf welcher der Platz zehn Schillinge kostet, ist davon nicht ausgenommen. Bisweilen besuchten wir zwei reizende Vergnügungsorte bei London, Beulachs Spaa und Hornsey Wood, wo täglich vorzügliche Musikcorps spielen und welche durch ihre herrlichen Anlagen unbeschreiblich anziehend sind. Hier giebt es Bücher, in welche Besucher nach Belieben ihre Namen schreiben, und ich konnte nicht umhin, zu