Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland/Sechstes Kapitel

Fünftes Kapitel Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland
von Heinrich Ferdinand Steinmann
Siebentes Kapitel
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Sechstes Kapitel.




Als Frl. Ch. abging, versprach sie, mir eine Stelle zu verschaffen und mir deshalb zu schreiben; ich selbst war nicht im Stande, mir ein anderes Unterkommen zu verschaffen, denn neben meiner systematischen Absonderung von der Außenwelt und der daraus hervorgehenden vollständigen Unbekanntschaft gebrauchte die Lady auch noch den Kunstgriff, mir stets einen Theil meines Gehaltes innezubehalten. Da ich nun den empfangenen nach Deutschland schickte und für meine Bedürfnisse verwandte, so war ich immer ohne Geld und an meine Hölle gefesselt. Miß Ch. wußte in ähnlicher Lage Rath. Mit der Lady hatte sie schreckliche Auftritte, weil diese sie ebenfalls nicht bezahlen wollte und förmlich durch Hunger zwang, das Haus zu verlassen; sie schrieb daher an Doctor Charles und drohete ihm, sein Verhältniß zur Lady Georgiana seiner Gattin zu verrathen, wenn sie ihr Geld nicht bekomme. Das wirkte, denn sie erhielt sofort ihre Forderung.

Im nächsten Frühjahre schickte uns Milady nach Bognor an der Küste von Sussex in das Seebad. Bognor ist ein nettes, aber ziemlich einsames Städtchen mit einer herrlichen Umgebung, wo ich mich recht behaglich würde gefühlt haben, hätte mir die Lady dies Mal nicht eine unsittliche und rohe Collegin Namens N. gegeben, die sich bei mir durch eine scandalöse Biographie einführte. Nun kam zum Ueberflusse auch noch die Lady mit ihrem Liebhaber an und ergab sich einem so zügellosen Leben, daß ganz Bognor von ihren Schäferscenen am Meeresstrande sprach. Da sie auch hier nicht zahlte, so kamen die hiesigen Gläubiger, deren sich in sechs Monaten eine bedeutende Anzahl gesammelt hatte, nach London, umringten das Haus und verlangten lärmend und steinwerfend Einlaß. Lady saß derweil wie ein guter Feldherr in aller Ruhe und ertheilte ihren beiden Adjutanten, Frau M. und dem Bedienten, ihre Befehle. Diese Belagerung dauerte einige Tage, während welcher das Thor nicht ein einziges Mal geöffnet wurde, und die Lady hätte sich schließlich ergeben müssen, wenn nicht ein Ausgang durch die Stallgebäude hinter dem Hause eine Zufuhr von Lebensmitteln möglich gemacht hätte. Ungeachtet aber Milady hinreichende Mittel besaß, ließ sie uns dennoch bittern Mangel leiden, und ich beschloß nun, [40] meine Befreiung um jeden Preis auszuführen. Ich wagte daher eines Tages, eine verheirathete Schwester der Miß Ch., deren Adresse sie mir gegeben hatte, aufzusuchen und mir Rath zu erholen. Zu meiner unbeschreiblichen Freude traf ich Frl. Ch. selbst hier, die mich mit großer Herzlichkeit bewillkommnete und nicht begreifen konnte, wie ich fünf volle Jahre in jenem „Sodom“ habe ausdauern können. Zugleich versicherte sie mich, sie habe mir mehrmals geschrieben, mich sogar persönlich aufgesucht, sei aber stets vom Diener abgewiesen worden. Jetzt ward mir klar, daß Lady N. meine Briefe unterschlagen hatte! Frl. Ch. sagte mir zugleich, daß sie mir eine Stelle als Erzieherin bei Mistreß E. auf E…house bei St. ausgemacht und mir auch von dort aus geschrieben habe, daß sie selbst gleich nach ihrem Abgange von Lady N. jenen Posten innegehabt, wegen der dortigen Luft aber hätte verlassen müssen. Als ich mich zur Annahme dieser Stelle bereit erklärt hatte, verabredeten wir alles Nöthige und ich begab mich nach Hause, mit dem Vorsatze, sofort zu kündigen. Milady empfing meinen Entschluß als Antwort auf ihre Drohung, daß ich ihr Haus verlassen müsse, sobald ich es wage, noch ein Mal auszugehen. „Ich wünsche nichts so sehnlich, sagte ich, als Ihr Haus zu verlassen, Milady, und mache Sie mit meinem festen Entschlusse bekannt, dasselbe heut über vier Wochen zu verlassen, bitte Sie auch, mir meinen lange vorenthaltenen Sold sofort auszuzahlen.“

„Wie, rief die Lady, Sie wollen mich verlassen, Sie undankbares Geschöpf? nachdem ich Ihre Gesundheit hergestellt und Ihnen so viel Gutes erwiesen habe?“

„Was meine Gesundheit betrifft, sagte ich, so ist diese keinesweges wiederhergestellt, und übrigens habe ich Ihnen für einen Gehalt gedient, dessen wir uns Beide schämen müssen. Wenn Sie den Mangel und die Schande, die ich bei Ihnen erduldet, Gutes nennen, so steht Ihnen frei, eine Andere damit zu verpflichten.“

Georgiana gerieth in eine entsetzliche Wuth, schwor, daß sie mir kein Zeugniß geben und Maßregeln ergreifen werde, um mein nochmaliges Ausgehen zu verhüten.

Ich hörte nicht darauf, mußte aber zu meinem tiefsten Schmerz eine Verschlimmerung ihrer Grausamkeit an den Kindern bemerken. Sie wurden des Nachts mit den Händen und Füßen an den vier Bettpfosten gebunden und das Ungeheuer ersann allerlei neue Grausamkeiten; [41] sie versuchte auch alles Mögliche, mich an diesen Ruchlosigkeiten zu betheiligen und drohte mir mit ihrer Rache, als sie ihre Pläne scheitern sah. So ließ sie mich eines Tages rufen, als Charlotte ganz nackt und am ganzen Leibe zerschlagen und blutend, an Händen und Füßen gebunden auf ihrem Bette lag. Als ich hereintrat, heftete das arme Kind einen Blick auf mich, den ich nie vergessen werde; die Mutter reichte mir eine ganz zerhauene, bluttriefende Birkenruthe hin und forderte mich auf „auch einmal meine Pflicht zu thun“. Mit der Aussicht auf Befreiung war auch mein Muth wiedergekehrt und ich rief außer mir vor Entsetzen: „Pfui, Sie grausamste, unnatürlichste aller Mütter, diesen Augenblick rufe ich Mord aus dem Fenster, wenn Sie das Kind nicht sogleich befreien und für seine Pflege sorgen!“ – Ich riß zugleich den einen Fensterflügel auf, aber leider ging das Fenster auf das Gehöfte der Lady, deren Stallbedienten gewiß keine Notiz von meinem Geschrei genommen hätten. Doch ließ sie das Kind losbinden, ergriff aber den Kohlenschürer (Poker), der glühend im Feuer lag, und verbrannte Charlotten die Hände damit an verschiedenen Stellen, indem sie rief: „Wenn Du schon bei dieser Kleinigkeit schreist, was wirst Du thun, wenn Du in der Hölle brennen wirst?“

Ungeachtet ich diese Barbareien bereits fünf Jahre gewohnt war, so entsetzte mich doch der Anblick derselben dermaßen, daß ich ohnmächtig zu Boden sank. Als ich erwachte, schwor das Weib mit Thränen, daß sie ihre Kinder blos darum so strafe, um sie von zeitigem und ewigem Verderben zu retten, worauf ich abermals die Unschuld der Kinder betheuerte. – Ich begab mich nach meinem Zimmer und hörte alsbald einen heftigen Tumult auf der Hausflur, begab mich auf die vordere Treppe und erblickte hier den Bedienten in einem Wuthkampfe mit einem starken Manne begriffen. Sie zerschlugen sich Köpfe und Gesichter mit den Fäusten und bluteten schon aus großen Wunden. Plötzlich schlug der Diener seinem Gegner ein Bein, worüber dieser donnernd zu Boden stürzte und die steinernen Platten augenblicklich mit seinem Blute röthete. Aber er hatte auch seinen Feind mit niedergerissen, der in demselben Moment einen gellenden Schrei ausstieß, denn ihm war der Daumen dicht an der Hand abgebissen. Frau M. kam von der Lady mit dem Befehl, das Haus zu verschließen, denn sie hatte aus dem Fenster bemerkt, daß mit dem Fleischer noch eine Menge ihrer Lieferanten erschienen waren, und dieser bemühete sich nun mit seiner [42] colossalen Gestalt vergebens, das Heer seiner Mitgläubiger einzulassen, denn das Schloß und Thor widerstand seiner Riesenstärke. Als der Fleischer sah, daß weder seine Schmähungen noch seine Bitten etwas fruchteten, nahm er seine Stellung ganz ruhig vor dem Salon ein und erklärte, nicht eher weichen zu wollen, bis er sein Geld erhalten habe. Seine Beharrlichkeit siegte: Abends nach zehn Uhr, wo sich die Uebrigen zerstreut hatten, bezahlte ihn die Lady bei Heller und Pfennig und er räumte das Haus.

Am nächsten Tage begab sich die Lady mit ihren Töchtern über den Hof in ihren Wagen und fuhr aus. Ich kleidete mich sogleich an, um Frl. Ch. einen Besuch zu machen, allein ich fand die vordere und hintere Thüre verschlossen, und als ich den dienstthuenden Lakay deshalb zur Rede stellte, erwiederte er, daß die Lady ihm befohlen habe, mich nicht ausgehen zu lassen. Da half kein Bitten, kein Drohen. – Als die Lady zurückkehrte, kam sie sogleich, von den Kindern und einem bepackten Diener begleitet, in das Schulzimmer, nahm zwei schöne Kleider aus dem Ballen und reichte sie mir und Madame N., der ersten Gouvernante, mit den Worten hin: „Ich mache mir ein besonderes Vergnügen daraus, Ihnen eine angenehme Ueberraschung zu bereiten und zugleich zu beweisen, daß meine Verhältnisse nicht so schlecht stehen, wie Sie vielleicht glauben.“

„Ich würde es für einen Mißbrauch Ihrer Güte halten, Milady, sagte ich, wenn ich dieses Geschenk annähme, da ich nur noch wenige Wochen in Ihrem Hause bleibe. Ich danke Ihnen demungeachtet,“ – setzte ich ablehnend hinzu.

„Unsinn, Unsinn,“ sagte sie mit verbissenem Zorn, und entfaltete verschiedene kostbare Kleider, Mäntel und Stoffe zu Winteranzügen für sich und die Kinder, und schien sich an unserer Verwunderung zu weiden. Die Herrlichkeit war indessen von kurzer Dauer, denn plötzlich erscholl ein heftiger Wortwechsel von der Hausflur herauf und wir hörten ganz deutlich die Worte: „Wenn ich nicht mein Geld oder meine Waaren auf der Stelle bekomme, so lasse ich Lady N. als Schwindlerin verhaften, denn ich habe ihr nichts auf Credit gegeben.“ – Die Lady wollte Widerstand leisten, aber der Kaufmann rief die patrouillirende Polizei, welche auch versprach, sofort Anzeige zu machen. Nun schickte die Lady Alles durch den Bedienten hinunter. Ich fand die Posse höchst [43] belustigend, Madame N. aber war aufgebracht darüber, daß ihr das Geschick den Bissen vor dem Munde weggenommen hatte.

Da mir die Lady es unmöglich machte, das Haus zu verlassen, so dachte ich, als eines Tages die ganze Familie ausgefahren war und auch Madame N. dem Spatzieren oblag, eben darüber nach, wie ich mich aus meiner verzweifelten Lage befreien könne. Da hörte ich einen Wagen vorfahren. Ich ging an’s Fenster und sah, daß der dazu gehörige Lakay lange parlamentirte, bis endlich eine Dame ausstieg und in das Haus ging. Auf einmal hörte ich deutlich die Worte: „Führen Sie mich augenblicklich zu ihr, sonst lasse ich die Polizei holen!“ – Ich wollte die Thür öffnen, fand sie aber zu meiner Verwunderung verschlossen; in demselben Augenblick hörte ich Fußtritte näher kommen und gleich darauf öffnete der Bediente die Thür, durch die eine starke Dame in den Funfzigen mit den Worten eintrat: „Mein Gott, ist es möglich, daß man so gottlos sein kann! ich hätte es nimmermehr geglaubt, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte!“ – Es war Miß E., die mir erzählte, daß sie auf Miß Ch. Bericht vorgefahren sei, daß der Diener mich erst verleugnet, dann ihr den Eintritt verweigert habe. Sie nahm warmen Antheil an meinem Schicksale und fragte mich, ob ich mir getraue, die Erziehung ihrer beiden Töchter im Alter von vierzehn und zehn Jahren zu übernehmen, gleichzeitig aber auch den Unterricht ihrer beiden Söhne von dreizehn und eilf Jahren, welche die Realschule in St. besuchten, in den neueren Sprachen zu leiten. – Ich fühlte wohl, daß dies keine leichte Aufgabe sei, jedoch ich hatte keine Wahl und erwiederte daher, ich sei dazu bereit, sofern Mistreß E. mir zutraue, dem vorliegenden Bedürfnisse genügen zu können. Sie prüfte mich nun in der deutschen, französischen und englischen Sprache, welche sie zu meinem Erstaunen alle sehr fertig sprach, und endlich auch in den Wissenschaften, ganz wie ein bestallter Examinator, worauf sie sich befriedigt erklärte, zugleich aber auch ihre Bedenken äußerte, ob ich die nöthige moralische und physische Kraft besitzen würde, um ihre Kinder leiten zu können? Daraus schloß ich, daß diese nicht die lenksamsten sein dürften und entgegnete, ich müsse alles Uebrige ihrer Beurtheilung anheimgeben. Nachdem wir uns über Alles geeinigt, beschied sie mich auf den nächsten Abend zu sich, um das Weitere bezüglich der Reise zu ordnen. Bald nachher kam Madame N. mit der Nachricht an, daß sie soeben eine andere Stelle erhalten [44] habe, die gegenwärtige also ungesäumt kündigen müsse, wobei sie sich ganz glücklich zeigte. Als ich hierauf ihr auch mein Glück mittheilte, stand sie eine Weile versteinert vor Verwunderung, wurde dann aber ganz niedergeschlagen und mißmuthig. Mir fiel La Rochefoucault’s Wort ein: „Wenn Jemand denkt, er sei mit großen Eigenschaften begabt, so frage er sich, ob er neidisch sei, denn der Neid ist ein sicheres Zeichen eines niedrigen Charakters.“ Und Frau von Maintenon pflegte zu sagen: „Die Herzensgüte ist die beste Politik.“ Ich habe beide Maximen immer bestätigt gefunden.

Als die Lady nach Hause kam, benachrichtigte ich sie sofort von meinem Engagement und forderte meinen rückständigen Gehalt, dann verfügte ich mich zu Mistreß E., welche mich nochmals über meine Ansichten und Kenntnisse vom Erziehungswesen prüfte. Während unserer Besprechung stellten sich in Folge einer Anzeige in den Blättern nicht weniger als noch fünf Gouvernanten, und es war für mich nicht wenig schmeichelhaft, daß ich meine schließliche Bevorzugung weder der Empfehlung des Frl. Ch., noch dem Mitleide, sondern meinen Eigenschaften verdankte.

Sieben Jahre waren verflossen, seit ich mein geliebtes Vaterland verlassen, die erste Blüthe meiner Jugend war unter den Stürmen ungewöhnlicher Schicksale gefallen, aber mein Dankgefühl über die endliche Wendung zum Besseren war doch immer so groß, daß ich vor Freude beschloß, mein kleines großelterliches Erbtheil an meine Eltern abzutreten[WS 1], ich kaufte auch Frl. Ch. beim Silberarbeiter ein Andenken, das sie erst gar nicht annehmen wollte, welches ihr aber unbeschreibliche Freude machte. Auch mein Abschied von Signora P. war ein sehr freundlicher. Weil Lady N., ihrem Character treu, mir einen bedeutenden Theil meiner Forderung innebehalten, mich auch auf’s äußerste verunglimpft hatte, so übergab ich dem Juristen, der mir meine Cessions-Urkunde aufsetzte, zugleich diese Angelegenheit zur gerichtlichen Verfolgung und bestieg an einem rauhen Herbstmorgen den Waggon, um meiner neuen Bestimmung mit freudigem Muthe entgegenzugehen.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. die Originaldokumente aus London befinden sich in der Nachlassakte der Großmutter im Staatsarchiv Dresden; Marie standen an Geld 63 Thaler und sechs Groschen zu.