Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland/Siebentes Kapitel

Sechstes Kapitel Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland
von Heinrich Ferdinand Steinmann
Achtes Kapitel
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Siebentes Kapitel.




Mit dem Wohlbehagen, das man nach überstandenen Mühseligkeiten empfindet, drückte ich mich in die Kissen und überblickte meine Mitreisenden, die meistens essend und unter dem Einflusse starker Dosen Alkohols ihre Bemerkungen wechselten. Ich überließ mich den Gedanken und Betrachtungen, zu welchen meine letzten Erlebnisse Veranlassung gaben. Fräulein Ch. hatte mir gestern Abend noch ganz im Vertrauen gesagt, daß Frau E.’s Kinder verwildert und von der Mutter verzogen seien. Dies gab meiner Freude einen nicht unbedeutenden Beischmack von Furcht, denn ich konnte nicht hoffen, daß meine Milde zum Ziele führen werde, wo Frl. Ch. mit ihrer Nachdrücklichkeit nichts ausgerichtet hatte. Inzwischen hielt der Zug bei Kettewing, von wo aus meine Reise bis E. mit dem Eilwagen fortgesetzt wurde. Hier wartete Mistreß E.’s Equipage, die mich in einer halben Stunde an mein Ziel, E…house, brachte. Da es schon ganz dunkel war, so konnte ich blos sehen, daß ich vor einem großen Gebäude hielt, daß mich dann der vorleuchtende Bediente durch ein reizendes Conservatorium führte, in welchem die seltensten Blumen und Gewächse sinnreich aufgestellt und durch eine schöne Beleuchtung hervorgehoben waren. Dann wurde ein großer geschmackvoller Büchersaal geöffnet, der Diener rief laut meinen Namen und Mistreß E., die mit ihren Kindern eben den Thee nahm, kam mir entgegen, bewillkommnete mich mit Herzlichkeit und stellte mir meine Eleven vor. Als die Begrüßungsförmlichkeiten vorüber waren, mußte mich die Aelteste, Charlotte, auf mein Zimmer führen. Ich legte meine Reisesachen ab, ordnete meine Toilette einigermaßen und betrachtete mit unendlichem Wohlbehagen alle die Bequemlichkeiten und den Luxus, der mich umgab. Zum ersten Male seit den vielen Jahren, die ich in England verlebt, empfand ich Behagen, es war mir, wie wenn ich aus einer Mörderhöhle endlich unter gute Menschen versetzt wäre. Ich befand mich in einem großen viereckigen Zimmer, dessen Wände mit einer reichen Tapete, der Fußboden mit einem schönen Kiddorminsterteppich bedeckt war. Selbst das verwöhnteste Glückskind hätte hier nichts vermißt, denn Trumeau mit Wachskerzen, Chaiselongue, Armsessel, garnirte Toilette mit Wachslichtern, eine schöne Auswahl [46] Bücher, ein kolossales Himmelbett, dessen reiche Gardinen mit denen der Fenster harmonirten – Alles war vollständig. In dem Kamine loderte ein lustiges Feuer und ein Wasserkessel ließ sein gemüthliches Summen ertönen, kurz, es lag in der ganzen Einrichtung so viel Achtung und zarte Fürsorge gegenüber der Niederträchtigkeit der G., H. und N., daß ich sogleich überzeugt war, Mistreß E. sei eine Dame von überwiegendem Verstand und seltener Bildung, weshalb ich mich von Hochachtung und Liebe zu ihr durchdrungen fühlte. Wie rühmlich unterschied sie sich von der Klasse sogenannter Hochgebildeter, welche die Erzieher ihrer Kinder mit rohem Undank und schnöder Geringschätzung behandeln! Diese meinen, durch einen kargen Lohn, den sie ihnen zahlen, von allen weiteren Rücksichten entbunden zu sein, und können doch nicht leicht einen schlagenderen Beweis innerlicher Rohheit geben, die sie mit dem Firniß äußerlicher Politur vergebens zu bedecken suchen.

Nach einer splendiden Mahlzeit, die mir auf die seitherige Hungerkur wohlthat, ließ mich Mistreß E. wieder zu sich rufen; sie hatte die Kinder zu Bette geschickt und erkundigte sich umständlich nach meinen letzten Erlebnissen, woran sie den innigsten Antheil nahm. Ueber Lady N. war sie empört, sie kannte sie nicht blos aus Fräulein Ch.’s Mittheilungen, sondern auch durch andere Quellen. Ich leitete endlich die Unterhaltung auf ihren Erziehungsplan; hierin zeigte sich Mistreß E. aber ausweichend, ungefähr wie Einer, der einen schmerzlichen Fleck hat und sich scheut, ihn verbinden zu lassen. Sie beschränkte sich darauf, die Unterrichtsgegenstände zu bestimmen, das Uebrige, sagte sie, erwarte sie von meiner Umsicht und Geduld.

Ich war am nächsten Morgen schon bei Zeiten im Schulzimmer, um mich mit der Büchersammlung und hauptsächlich mit den Erziehungswerken bekannt zu machen. Auch in diesem Zimmer herrschte Bequemlichkeit und Eleganz, und das schöne Piano verhieß mir manche Stunde süßen Genusses. Ich war schon lange hier, als Karl und Richard, die Söhne der Mistreß E., erschienen und mit Heftigkeit in die Klingel stürmten, um, wie sie sagten, der Dienerin geschwinde Beine zu machen. Als das Frühstück hierauf gebracht wurde, fielen Beide darüber her und geriethen dabei in Rauferei. Ich gebot ihnen Ruhe und erklärte, daß keiner etwas anrühren solle, bevor das Morgengebet gesprochen sei. Die Knaben antworteten, daß sie dazu keine Zeit hätten, und stürmten fort, um sich in der Küche zu verproviantiren.

[47] In der festen Ueberzeugung, daß kein Unternehmen ohne Gottes Segen gelingen könne, hatte ich mir vorgenommen, das Gebet und die Religion überhaupt zur Grundlage meiner Erziehung zu machen, und mittelst dieser allein durfte ich hoffen die starren Gemüther der mir anvertrauten Kinder zu erweichen und zu zähmen; allein ich stieß bei Charlotten und Georginen auf denselben Widerstand und dieselben Schwierigkeiten. Sie erschienen sehr unregelmäßig im Schulzimmer und legten einen entschiedenen Widerwillen gegen dieses System an den Tag. Dazu waren sie so eigenmächtig, daß sie alles vornahmen, ohne es je der Mühe werth zu halten, Erlaubniß einzuholen. Charlotte war herrschsüchtig und widerspenstig, Georgiana übermüthig und wild, schlug Purzelbäume und sprang über Tisch und Stühle wie ein Affe, wobei sie so laut lachten, daß meine Ermahnungen verhallten. Dieser Verwilderung lag mehr als eine Ursache zu Grunde. Erstens war Mistreß E. schon seit mehreren Jahren Wittwe und entbehrte daher der Unterstützung, welche ein Gatte und Vater allein zu gewähren vermag. Zweitens führte sie das Geschäft ihres verstorbenen Mannes fort, welches in einer Wechselbank in St. bestand, und brachte den ganzen Tag darin zu. Kam sie nun nach Hause, so war sie nicht aufgelegt, Klagen über ihre Kinder anzuhören und das Strafamt zu üben. Meine Stellung war daher eine höchst schwierige, ungeachtet die Dame alle meine Schritte und Maßregeln billigte und mir nie zuwiderhandelte.

Ich begann meinen Unterricht mit einer gründlichen Prüfung über die einzelnen Gegenstände, und hatte die Befriedigung, zu finden, daß die Kinder ausgezeichnete Fähigkeiten und treffliche Grundlagen besaßen. Nachdem ich ihre Gaben und Talente ermittelt hatte, bestrebte ich mich, ihre Ansichten und ihren Geschmack zu läutern und sie für das Streben nach Vollkommenheit zu begeistern.

Hatte ich nun in meiner neuen Stelle mit Schwierigkeiten zu kämpfen, denen bisweilen meine physische Kraft zu erliegen drohte, so genoß ich auch wieder Annehmlichkeiten und Vortheile, die mir unendlich wohl thaten. So z. B. behandelte mich Mistreß E. bei jeder Gelegenheit wie ihre Tochter, und da sie ein höchst geselliges Leben führte, so boten sich mir unzählige Genüsse, welche mich das Leben, die Menschen und mich selbst praktischer als bisher auffassen ließen. Es verging selten eine Woche, wo Madame nicht zwei bis drei Diners oder auch wohl einen Ball gab, und da die dortige Nachbarschaft eine in jeder [48] Beziehung ausgezeichnete war, so wurden bei diesen Gelegenheiten alle jene glänzenden Mittel entfaltet, welche das Resultat einer glücklichen Bildung und eines außerordentlichen Reichthumes sind. Bisweilen führte man in St. Oratorien und Concerte auf, wohin ich die Familie stets begleiten mußte, ich selbst nahm noch bei einem dortigen vorzüglichen Lehrer Unterricht in Musik und Gesang, hätte aber ohne den Antrieb durch meine Gebieterin dieses Studium gewiß nicht erneuert.

Da ich vom ersten Momente meiner Bekanntschaft mit Mistreß E. einen ausgezeichneten Geist und edlen Charakter in ihr erblickt hatte, so freute es mich doppelt, diese Meinung unter ihren Bekannten vorherrschend und täglich mehr durch meine Beobachtungen bestätigt zu finden. Ich erfuhr endlich, daß Mistreß E. die Verfasserin mehrerer interessanten Werke war und sich einen bedeutenden Ruhm in der literarischen Welt dadurch gegründet hatte. Ihr erstes Buch: „Zu Hause und in der Fremde“ hatte sie schon in ihrem funfzehnten Jahre herausgegeben. Später, nachdem sie mit einer ihrer Schwestern, einer tüchtigen Malerin, Italien bereist hatte, war ihr Meisterwerk „Rom im 19. Jahrhundert“ erschienen, welches durch tiefe Gelehrsamkeit, glücklichen Humor und fließenden runden Styl mit Recht berühmt ist. Es enthält unzählige Beweisstellen der Alten, glänzt durch seine richtigen Urtheile über Kunstwerke älterer und neuerer Zeit, Staatsverfassung und Sitten, die mit vielen geistreichen Gesprächen und Anekdoten vermischt sind. Bei dem Lesen desselben ergriff mich eine Art von Schwindel über die Gründlichkeit und Tiefe des Wissens, welche sie darin entfaltet, so daß ich ihr als Erzieherin ihrer Kinder wie als Gesellschafterin nicht genügen zu können fürchtete. Dieser Gedanke stachelte mein Ehrgefühl in dem Grade, daß ich mich nicht allein mit unbeschreiblichem Eifer dem Studium der englischen Sprache, Literatur und Geschichte hingab, sondern auch das Lateinische ernstlich trieb, und da meine Zeit sehr in Anspruch genommen war, so gönnte ich mir selten mehr als fünf Stunden Schlaf und verbrachte den übrigen Theil der Nacht über den Büchern. Unendlich gehoben wurde ich in diesem Streben durch die überaus erstaunlichen Resultate, welche sich an meinen beiden Zöglingen Charlotte und Georgiana in einem so hohen Grade zeigten, daß nicht nur ihre Mutter, sondern alle ihre Umgebungen von dieser Umwandlung mit Begeisterung sprachen. Mehr zu sagen verbietet mir das [49] Bewußtsein, daß dies weniger ein Erfolg meines Unterrichts als der glücklichen Begabung der Kinder war.

Um diese Zeit meldete mir mein Sachwalter in London, daß Lady N. mit Sir Charles H. bei Nacht und Nebel entflohen sei und ihren verzweifelnden Gläubigern nichts als die leeren Mauern ihres Hauses hinterlassen habe. Dieser Scandal ward sogar in der Presse besprochen. Auch mein Verlust war kein unbedeutender; ich hatte immer noch gehofft, daß ich meinen beträchtlichen Rückstand auf dem Prozeßwege erlangen würde, weil ein neues Gesetz über die Zahlungspflichtigkeit verheiratheter Frauen in nächster Aussicht stand. Nun war Alles vorbei.

Leider bestätigte sich Miß Ch. Aussage bezüglich der hiesigen Gesundheitsverhältnisse nur zu sehr, denn wir hatten stets Kranke im Hause. Mistreß E. wußte wohl, daß die aus den nahen Sümpfen aufsteigende Malaria die Ursache davon war, sie reiste daher Anfangs Juni mit uns nach der Insel Man, früher Mona genannt, an die sich viele geschichtliche Erinnerungen knüpfen und welche wegen ihrer Schönheit, ihres gesunden Klima’s und Wohlfeilheit der Lebensbedürfnisse sehr besucht wird.

Douglas, die Hauptstadt, ist ein alterthümliches und reizendes Oertchen, welches starken Handel treibt, weil ausländische Waaren hier zollfrei sind. Das Schloß Mona, die Residenz der früheren Fürsten dieser Insel, jetzt die des dortigen Bischofs, steht auf einer herrlichen Anhöhe und ist mit reizenden Anlagen und Gärten umgeben. Von seinen Zinnen weht eine Flagge mit dem seltsamen Wappen von Mona, welches aus drei ausschlagenden Beinen besteht, ein Symbol ihrer Unabhängigkeit von England, Schottland und Irland, und man sieht an ihren Privilegien, was doch der Trotz eines Zwergleins vermag. Dieses Inselchen hat sogar das Recht, sein eigenes Geld zu münzen.

Wir bewohnten ein nettes Haus eine Meile von Douglas und ganz nahe am Meere. Zu unserer Linken erhob sich auf einem hohen Felsen ein mittelalterliches Schloß, ein herrliches Denkmal des Ritterthums. War Mistreß E. als Gastgeberin bewundernswürdig gewesen, indem sie Jeden durch äußerst feine Beleuchtung seiner Vorzüge in eine glückliche Stimmung zu versetzen und durch anmuthige Anordnung unendliches Behagen zu verbreiten wußte, so zeigte sie sich in dieser Umgebung nicht minder im günstigsten Lichte.

Die Luft auf Man ist so rein und mild, daß ich mich wie umgeschaffen [50] fühlte, sobald ich den Boden betreten hatte. Die Scenerie ist höchst mannichfach und würdig, die Muse Walter Scott’s begeistert zu haben, der sie in seiner historischen Novelle „Perevill von dem Pic“ beschreibt. Ich las die Dichtung an Ort und Stelle, was mich befähigte, die Verdienste des Schriftstellers wie das Theater der Begebenheit ganz zu verstehen. Wir fanden einen sehr gebildeten und angenehmen Umgang in der Familie unseres Wirthes und einiger seiner Freunde, hatten somit den Vortheil, Geselligkeit mit ländlicher Freiheit zu verbinden. Einige Stunden des Tages wurden den Studien gewidmet, die übrige Zeit auf Baden und Spaziergänge oder Fahrten verwandt. Zu unseren Lieblingsvergnügungen gehörten die sogenannten Picknick-Parthieen, wozu sich die romantischen Gegenden mit ihren Ruinen, Waldschatten, Wasserfällen und Felsen trefflich eigneten. Hierbei wurde getafelt, gesungen, getanzt, gespielt, und alles Schöne ohne Ziererei, Rangsucht und Splitterrichten gegeben und empfangen. Eines Tages kamen wir an einen ziemlich breiten und tiefen Bach, welcher sich in einiger Entfernung schäumend über einen Felsen stürzte. Da es keine Brücke gab, so fingen die Herren der Gesellschaft an, Baumstämme herbeizuschleppen, weil die jenseitige Gegend denn doch besehen werden mußte, um eine Brücke zu improvisiren. Ein ziemlich beleibter ältlicher Junggesell wollte seine Gewandtheit zeigen, nahm, uns zur Nachahmung auffordernd, einen tüchtigen Anlauf und – plump, lag er im Wasser und plantschte unter allgemeinem Gelächter ängstlich umher, bis er sich mühsam herausgehaspelt hatte.

Wir blieben bis Ende des Monats August auf Man, während welcher Zeit wir so gesund und blühend geworden waren, daß unsere Freunde uns kaum wiedererkannten. Der Abschied von diesem reizenden Eilande ward mir unendlich schwer und die Erinnerung an den dortigen Aufenthalt gehört zu den glücklichsten meines Lebens. Um so trübseliger war die Wahrnehmung, daß unser Uebelsein bald nach unserer Rückkehr sich wieder einstellte, bei mir mit solcher Heftigkeit, daß ich meine schweren Pflichten nicht mehr erfüllen konnte. Ich traf daher mit Mistreß E. die Uebereinkunft, meinen Aufenthalt von Easton-Hous nach Stamford zu verlegen und nur einen Theil des Tages in Easton zuzubringen. Es kamen jetzt von allen Seiten Nachfragen um Unterricht, und bald hatte sich ein weiter Kreis von Schülerinnen um mich gebildet, daß seine Ausbildung meine Kräfte bei weitem überstieg, so reich sich [51] auch dadurch meine Einnahmen gestalteten. Mein Schicksal schien mich mit sich selbst versöhnen zu wollen. Mein einziger Kummer war jetzt der um meinen edeln Jugendfreund, der seit langer Zeit meinen suchenden Blicken gänzlich entschwunden war. Hatte er mich vergessen? War er todt? Ach, alle meine Briefe an ihn und seine Mutter blieben ohne Antwort! – Unter den Familien, in welchen ich lehrte, war auch die Familie S. in Oundel, ein wahres Muster der Vollkommenheit, denn sie verband aufrichtige Frömmigkeit mit liebenswürdigster Heiterkeit und aufopfernder Menschenliebe. Ihr galt nur Tugend und Talent; das Gemeine verachtete sie in der prächtigsten Vermummung. Welch ein Gegensatz zu Lady N., deren Mutter schon ihrem ersten Gemale, dem ältesten Sohne des Herzogs von N., auf einem Balle mit dem Grafen L. davongelaufen war, dann diesen geheirathet hatte, später auch ihm entlaufen und in Italien umgekommen war. Solch ein glänzendes Schicksal hat auch ihre würdige Tochter getheilt. – Dem Andringen dieser Familie konnte ich nicht widerstehen. Die süße Eintracht, der himmlische Friede dieses Hauses zog mich allzu mächtig an; ich dachte mit Ernst daran, meine Stellung wieder mit der einer Erzieherin zu vertauschen. Im Laufe des Sommers wurde ich von S.’s eingeladen, während der Badezeit mit den Töchtern nach Dover zu gehen, weshalb ich mich von Frau E. und meinen andern Freunden während der Sommerferien beurlaubte. Unsere Gesellschaft bestand aus Mary, aus Ellen, meiner ältesten, und Pauline, meiner zweiten Schülerin. Emma und Henriette blieben bei den Eltern und sollten Jene später im Bade ablösen. Wir bezogen das erste Stockwerk eines schönen Hauses, mit unmittelbaren Aussicht auf das herrliche Meer.

Das stete Zusammenleben, welches der Stein des Anstoßes der meisten Freundschaften ist, diente dazu, die unsrige zu befestigen, denn die Vortrefflichkeit dieser Charaktere übertraf meine bisherige Meinung noch um Vieles. Nie entdeckte man auf ihrer Stirn eine Wolke oder irgend welche Unzufriedenheit in ihrem Betragen, sondern ihre Stimmung war eine höchst gleichförmige und zuverlässige, wie sie bei gesunden Seelen sein muß; ihre echte Sittlichkeit zeigte sich in der Richtigkeit der Begriffe, wie in dem Urtheil über Menschen und Dinge. – Nach drei Wochen verließen uns Marie und Pauline; Ellen, die kränklichste, blieb, und Emma und Henriette kamen an. Emma besaß weniger Tiefe des Gefühls und Gründlichkeit des Wissens als Mary, aber sprudelnden [52] Witz, Frohsinn, viel Verstand mit Herzensgüte gepaart; dabei war sie sehr hübsch, hatte lebhafte Augen, feine regelmäßige Züge und eine symmetrische Mittelgestalt. Mary hingegen war schön zu nennen; auf ihrem blendend weißen Gesicht mit den großen dunkeln Augen thronte eine erhabene Ruhe, jede ihrer Bewegungen war anmuthig, ihre Gestalt ein Modell reiner Formen. Ellen war ein Ideal stiller Sanftmuth und Lieblichkeit; auf ihrem blüthenweißen Gesicht schimmerte der leiseste Hauch von Roth wie Morgenlicht, ihre großen dunkeln Augen strömten reines Wohlwollen aus, ihre Schönheit bestand in der Unschuld des Ausdruckes. Obgleich sie mit vielem Scharfsinn begabt war, so enthielt sich doch ihr menschenfreundliches Herz jedes strengen Urtheils, es schloß sich nur, wie die Gefühlspflanze bei der Berührung sich schließt, vor denen, welche ihrem Maßstabe von Gediegenheit nicht entsprachen. – Henriette hatte den Kopf eines Engels des Fra Giovanni da Fiesole, von goldenen Locken umflossen, aus welchem große braune Augen schelmisch blickten. Ihr Gemüth war biegsam und anschmiegend, meines Herzens Freude und Glückseligkeit. – Körperlich am wenigsten ausgestattet war Pauline; ihr Gesicht trat neben der Schönheit ihrer Schwestern in Schatten, aber ihr Herz besaß alle die Tugenden, welche das Weib dem Engel ähnlich machen; ihre schöne Seele freute sich nur über die Vorzüge der Ihrigen, welche manches andere Mädchen mit Mißgunst erfüllt hätten.

Um sieben Uhr Morgens versammelten wir uns zum gemeinschaftlichen Gebete; dann badeten wir im Meere und gingen spazieren. Unsere Lektüre bestand zumeist aus wissenschaftlichen Werken, welche wir wechselseitig vorlasen, während sich die Anderen mit Handarbeiten beschäftigten. Da wir Alle musikalisch waren, so hatten wir einen kostbaren Flügel gemiethet und führten des Abends die herrlichsten Programme aus, wobei sich immer ein Schwarm von Zuhörern um unser Haus versammelte. Auch bekamen wir oft Besuche von Brüdern und Verwandten meiner Eleven, welche stets mit ruhigen Ergötzlichkeiten gefeiert wurden. Nach drei Wochen verließen uns Mary und Pauline, wie bereits erwähnt, und das Einleben der zwei neuen Ankömmlinge gewährte neuen Reiz. So vergingen denn sechs glückliche Wochen, während welchen wir uns unendlich theuer wurden, so daß meine jungen Freundinnen mich auf’s neue baten, ihre Erzieherin zu werden, obgleich Mistreß S. dieses Amt seit mehreren Jahren bei ihnen vertrat. Als [53] wir nach Oundel zurückkamen, bot mir Frau S. diese Stellung mit einem Gehalte von jährlich hundert Guineen an und drang sehr in mich, dieselbe anzunehmen. Ich hatte Zeit gehabt, die Vortheile und Nachtheile meiner Stellung in Stamford kennen zu lernen und zu würdigen. Zu den ersteren gehörte der Umstand, daß ich hier mit einem bedeutenden und ebenso liebenswürdigen wie gebildeten Publikum in Beziehung stand und der angenehmen Abwechselungen genoß. Aber weder die Luft noch die unausgesetzten Anstrengungen sagten meiner Gesundheit zu; und welche Gefahr des Invalidwerdens drohete mir! Ich folgte daher nicht minder den Eingebungen der Klugheit wie der Neigung meines Herzens, wenn ich dem Rufe dieser liebenswürdigen Familie Folge leistete.

Ich ging daher auf die Anerbietungen ein und stellte meinen Antritt auf den Tag fest, welcher das zweite Jahr meines Wirkens in der Familie E. beendigte.