Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland/Achtes Kapitel

Siebentes Kapitel Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland
von Heinrich Ferdinand Steinmann
Neuntes Kapitel
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Achtes Kapitel.




Sobald ich in Stamford angekommen war, begab ich mich sogleich zu Mistreß E., um sie von meinem neuen Engagement in Kenntniß zu setzen. Die gute Dame drückte ihr aufrichtiges Bedauern über mein Vorhaben aus, konnte jedoch meine Gründe nicht verwerfen und versicherte mich, daß ich diejenige Erzieherin sei, gegen welche sie die meisten Verpflichtungen habe und daß ich auf die Fortdauer ihrer Freundschaft unter allen Umständen rechnen könne.

Von meinen übrigen Gönnern und Schülerinnen wurde diese Mittheilung mit eben so viel Mißbilligung wie Bedauern aufgenommen. Aber so schmeichelhaft die mancherlei Einwände, welche man mir entgegenstellte, für mein Gefühl auch waren, so blieb ich doch meinem gegebenen Versprechen getreu und traf die nöthigen Vorkehrungen zur Ausführung meines Vorhabens, nachdem ich von meinen edeln Freunden zärtlichen Abschied genommen hatte. Zu meinem Leidwesen kann[WS 1] ich nicht umhin, im Interesse der Wahrheit eines Umstandes zu erwähnen, welcher, obwohl an sich unbedeutend, doch fast Ursache der Entzweiung [54] wurde. Ich hatte bis jetzt meinen Gehalt bei Mistreß E. stehen lassen; als wir nun mit einander rechneten, behauptete sie, daß sie mir zehn Pfund, die ich über ihr Gebot gefordert hatte, nicht bewilligt habe; obgleich nun diese Einbuße mir empfindlich war, so legte ich doch einen zu großen Werth auf ihre Freundschaft, als daß ich deshalb hätte mit ihr streiten sollen und fügte mich ihrer Meinung in der Ueberzeugung, daß sie aus Irrthum so handle.

So stand durch eine Kleinigkeit die schöne Frucht der Achtung und des Vertrauens, welche durch Humanität und Talente im Laufe zweier Jahre erwachsen war, in Gefahr und sollte später dennoch zu Grunde gehen. Welches Labyrinth ist Herz und Leben!

Mein Eintritt in das neue Verhältniß geschah unter den günstigsten Anzeichen. Ich hatte bereits ein Jahr lang in der Familie S. unterrichtet, ein Band zärtlicher Freundschaft umschlang mich und meine Schülerinnen und die edle Mutter, die solche Bildungen geschaffen, überließ die Studien gänzlich meiner Anordnung. Nachdem ich den Plan mit ihrer Zustimmung entworfen hatte, wurde derselbe mit größter Folgerichtigkeit durchgeführt, was bei der Ordnungsliebe und Pflichttreue meiner Eleven ohne Schwierigkeit geschehen konnte. – Herr S. hatte das Rectorat von Oundel als Laie käuflich an sich gebracht, was in England nichts seltenes ist; die geistlichen Pflichten wurden von dem Vicar Herrn H. und einem Curat versehen. Das Rectorhaus war ein großes massives Gebäude inmitten eines schönen Gartens im echt englischen Styl, mit hohen Mauern umgeben, und die Einrichtung war ganz den großen Mitteln des Besitzers entsprechend. Einige Schritte davon war die Vicarwohnung, und da die Familien S. und H. durch die innigste Sympathie verbunden waren, so verkehrten sie täglich mit einander. Auch die Letztere schloß alle Elemente einer feinen Gesellschaft in sich. Herr H., ein ehemaliger Offizier, war der letzte Sprosse eines gräflichen Hauses; da er jedoch aus einer Nebenlinie stammte, so standen seinen Ansprüchen auf Titel und Güter große Hindernisse im Wege. Seinem inneren Berufe folgend hatte er die Armee verlassen und sich der Kirche gewidmet, was ihm insofern leicht geworden war, als früher die Geistlichen nicht studirt zu haben brauchten. – Frau H. und ihre zwei verwittweten Schwestern, die bei ihr wohnten, wie auch ihre beinahe erwachsenen Töchter Alice und Editha waren höchst gebildete und liebenswürdige Damen. Da beide Familien musikalisch waren und die [55] meisten Mitglieder gute Stimmen besaßen, so wurden sehr oft Concerte aufgeführt, und unsere kleine Akademie war weit und breit gerühmt. Bisweilen wurden wir von Frau H. eingeladen, was unsere Jugend als ein Fest betrachtete, obgleich man uns zu Hause weit kostbarere Speisen und Erfrischungen reichte. Weit öfterer indeß versammelte sich jene Familie und bisweilen auch andere Freunde in der Rector-Wohnung, wo der Brennpunkt der Unterhaltung stets ein Leben und Freude verbreitender war.

Ehe man sich trennte, wurde jedesmal ein schöner Choral gesungen, ein Kapitel der Bibel verlesen und von Herrn H. ein Gebet aus dem Stegreife gesprochen, wobei das gesammte Dienstpersonal wie bei den täglichen Morgen- und Abendandachten zugegen war. Aber diese Familie ließ es nicht bei Formen und Gebräuchen bewenden, sondern verfehlte auch nie eine Gelegenheit zum Gutesthun. Außer den großen Summen, welche sie für gemeinnützige Zwecke ausgab, spendete sie vielen Hülfsbedürftigen insgeheim Wohlthaten aller Arten. Die Töchter besuchten alle Armen, und die Kranken in der Stadt und auf dem Dorfe, ihrem Eigenthum, Ashton, versorgten sie mit Arznei, Lebensmitteln, Kleidung und Geld, und pflegten des höchst mühsamen Amtes der Collectensammler für Mission und Bibelverbreitung. Stolz und Unduldsamkeit waren diesen unvergleichlichen Wesen völlig fremd, sie hatten ein Wort des Trostes und der Erbauung und einen herzlichen Gruß für Jeden, und indem sie Tractate, Bibeln und andere Bildungsschriften unter das Volk vertheilten, wurden sie Tausenden rettende Engel. – Oundel war früher wegen Sittenlosigkeit und Irreligiosität verrufen gewesen, seit die Familie S. dort war, zeichnete sich diese Stadt durch Moralität und Frömmigkeit vor andern aus.

In Tansor, unweit Oundel, lebte der Rector Herr W. mit seiner Familie. Mein Ruf als Erzieherin bewog ihn, den Wunsch gegen S.’s auszusprechen, daß ich auch seinen drei Töchtern Unterricht in den Sprachen ertheilen möchte. Frau S. theilte mir dieses sogleich mit der herzlichsten Freude mit und gab mir zugleich die Erlaubniß, meine Freistunden nach meinem Belieben zu verwenden. Auch Herr H. begehrte meinen Unterricht für seine Töchter. Ich kam daher mit jenen zwei Familien überein, jeder von ihnen zwei Nachmittage in der Woche zu widmen, wogegen sie mir ein anständiges Honorar bewilligten, so daß sich mein jährliches Baar-Einkommen auf 1024 Thaler belief. Meine [56] beiden Schülerinnen in Tansor, Katharina und Auguste, achtzehn und sechszehn Jahre alt, waren ebenfalls hochbegabte und in aller Hinsicht ausgezeichnete Mädchen, und wir gewannen einander so lieb, daß wir uns immer herzlich auf unser Beisammensein freuten. An diesen Tagen gab es nicht selten ein spätes Diner oder sonst eine Gesellschaft, woran ich stets theilnehmen mußte; und es ging dann immer höchst unterhaltend und vergnügt zu. Da die Töchter sehr schön sangen und Piano spielten, auch Herr W. einen guten Baß sang, so widmeten wir immer einen Theil des Nachmittages der Musik, wobei wir oft von gegenwärtigen Bekannten auf der Violine, Flöte und andern Instrumenten unterstützt wurden. So verschafften wir uns oftmals die herrlichsten Genüsse.

Als ich ein Jahr in Oundel zugebracht hatte, erhielt ich von Mistr. E. die Einladung, einige Tage bei ihr zuzubringen, wozu mir Frau S. ihre Erlaubniß bereitwilligst gab. – Ich wurde mit herzlicher Freude empfangen, Frau E. feierte unser Wiedersehen durch ein glänzendes Gastmahl, wobei ich alle besten Freunde mit großem Vergnügen wieder vereinigt sah. Man fand mich allgemein zu meinem Vortheil verändert und freute sich meines Wohlergehens.

Unter den vielen Einladungen, welche ich erhielt, erwähne ich besonders nur die des Fräulein M., in deren Pensionat ich in Stamford unterrichtet hatte. Bei der Festlichkeit, die sie mir zu Ehren veranstaltete, schlug sie ihren Gästen vor, das Residenzschloß des Marquis von E., Burley-Hous, zu besuchen, weil der Besitzer gerade abwesend und der Eintritt dem Publikum gestattet war. Burley-House ward zur Zeit der Königin Elisabeth in dem Styl erbaut, welcher der Elisabethinische heißt. Auf die Größe des Schlosses läßt sich von der Zahl der Fenster schließen, welche sich auf 366 belaufen. Die Halle ist gewölbt und mit Fresco-Gemälden geziert, das jüngste Gericht darstellend. Die Dreieinigkeit im Mittelpunkte derselben, welche den orthodoxen Begriffen gemäß dargestellt ist, ist von mächtigem Eindruck. Unter den Verurtheilten, welche sich in allen Richtungen herabstürzen, zeichnet sich eine weibliche Gestalt durch Schönheit und Ueppigkeit der Formen aus. Unsere Führerin, welche mit der Familien-Chronik bekannt war, erzählte uns, daß diese Figur die damalige Köchin des Hauses vorstelle, welche der Maler, ein Italiener, geliebt, und, da er keine Gegenliebe gefunden, aus Rache derartig preisgegeben habe. Sie fällt mit dem Kopfe zu unterst, und ihr Gewand, der natürlichen Richtung folgend, enthüllt sie verrätherisch [57] den Blicken der Beschauer. Eine bildlichere Darlegung der männlichen Gerechtigkeit und Großmuth hätte der Künstler nicht leicht liefern können. – Wir sahen auch das Zimmer und Bett, in welchem die Königin Elisabeth geschlafen hatte, noch in dem Zustande, in welchem sie es verlassen. Der Prunksaal enthält nebst anderen Familiengemälden die Großeltern des jetzigen Marquis mit ihren Kindern in Lebensgröße, von welchen man uns folgende authentische Geschichte erzählte. Der Marquis war auf einer Vergnügungsreise plötzlich erkrankt, von einem Pachter und seiner schönen Tochter aufgenommen und gepflegt worden. Als er genesen war, freite er um seine schöne Pflegerin und gewann sie, verschwieg ihr jedoch seinen Rang und gab sich für einen Standesgenossen ihres Vaters aus; dies war in jenem Lande der Freiheit eher möglich als bei uns, wo Pässe, Heimathsscheine, Geburtsscheine u. dgl. das erste Lebensbedürfniß bilden. Als er sie nun nach der Trauung in sein fürstliches Schloß einführte, in dessen Park die zahlreiche Dienerschaft ihre Gebieterin in Reih und Glied erwartete, und ihr gesagt wurde, daß sie die Herrin über Alles sei, fiel sie in Ohnmacht. Nichts destoweniger hatte sie sich sehr bald in ihre Lage gefunden, dieselbe mit vieler Würde repräsentirt und sich allgemeine Verehrung und Liebe erworben. – Das bedeutendste Gemälde ist der berühmte Ecce homo von Carlo Dolce, mit der Dornenkrone, und es war ein schöner Gedanke, dieses, das christliche Herz innigst rührende Gemälde ganz allein in ein schwarz ausgeschlagenes Zimmer zu hängen. Es macht dies ganz den Eindruck einer Kapelle.

Nachdem wir alle Sehenswürdigkeiten betrachtet, verließen wir Burley-Hous und ich trennte mich von meiner freundlichen Gastgeberin und ihren Freunden mit einem unsäglichen Gefühle und Zufriedenheit mit den Erlebnissen des Tages.

Dieser Winter brachte der Familie S. schwere Prüfungen. Herr S., auf der einen Seite bereits gelähmt, wurde abermals vom Schlage getroffen und verfiel in eine lange Krankheit; bald darauf erkrankte auch Frau S. Beide wurden nur durch die Pflege ihrer Kinder und die rastlose Sorgfalt eines jungen Arztes gerettet. Wahrhaft bewundernswerth war die Geduld und Entsagung, welche Alle unter diesen schweren Prüfungen an den Tag legten, und Frau S. pflegte oft die Worte ihres Freundes und Beichtvaters, des Pfarrers R., zu wiederholen: „Die Gesundheit verhält sich zum Leben wie der Zucker zum [58] Thee, sie versüßt es, aber man muß es auch ohne sie genießen können.“ – Die Kinder erkrankten nach der Genesung der Eltern sämmtlich in Folge der überstandenen Anstrengungen, aber auch sie rettete der junge Arzt, der zu unserer Verwunderung bei einer starken Praxis jedem Gottesdienst, jedem religiösen Meeting, sogar den Arbeiten der Sonntagsschule beiwohnte. Hinterher ergab es sich, daß sein Antrieb allerdings die Menschenliebe gewesen war, denn es gelang ihm, Mary als Braut heimzuführen. Der ehrwürdige Herr S. war leider nicht lange Zeuge des ehelichen Glückes seiner Kinder, denn er ward uns im folgenden Winter durch den Tod entrissen. Ich beweinte ihn wie einen Vater, denn er hatte mich stets wie eine Tochter behandelt, und sein Tod machte eine unausfüllbare Lücke in unserem Kreise. Die Armen indeß fühlten seinen Verlust jedenfalls am schmerzlichsten.

Eines Tages redete mich in Tansor Mistreß W. zu meinem Staunen also an: „Es ist mir unmöglich, Sie länger in einer Gefahr zu wissen, ohne Sie davor zu warnen. Ich weiß, daß Herr J. – ältester Bruder meiner Zöglinge – sich um Ihre Gunst bewirbt; aber nehmen Sie sich in Acht vor ihm und ein Beispiel an meiner Tochter Anna.“

Ich wußte von nichts, als daß diese ihre älteste Tochter etwas schwermüthig war, und bat sie, sich näher zu erklären.

„Wissen Sie nicht, fuhr Mistreß W. traurig fort, daß Anna durch J.’s Schuld geisteskrank ist? Sie hat jetzt wieder einen Anfall von Wahnsinn, und ich weiß nicht, wo das hinaus soll!“

„Ich weiß von alledem nichts, Madame, aber am wenigsten, daß Herr S. ein solches Unglück über Ihre Familie gebracht hat.“

„Ja, er hat meine Tochter betrogen und um ihr ganzes Lebensglück gebracht! Unsere Kinder wuchsen mit den S’schen auf wie Geschwister und wir Eltern freuten uns über ihre gegenseitige Zuneigung. John gewann nach langen und unablässigen Bemühungen das Herz unserer Anna; er hielt um ihre Hand an und erhielt sowohl unsere wie seiner Eltern Zustimmung zu dieser Verbindung, worauf die Verlobung erfolgte. Da aber Anna noch sehr jung war, hielten wir es für zweckmäßig, sie auf ein Jahr nach Paris zu schicken, um ihre Erziehung auf eine glänzende Weise vollenden zu lassen. Als sie wieder zurück kam, war er ein veränderter Mensch: kalt und befangen in ihrer Nähe, schien er fortwährend einen inneren Kampf zu bestehen, der ihn unruhig und unstät machte; und wie er sie früher gesucht, vermied er sie jetzt geflissentlich. [59] Eines Tages endlich erklärte er ihr, daß es ihm unmöglich sei, sie zu heirathen, weil er ihr französisches Wesen nicht vertragen könne, und da er um ein englisches Mädchen geworben habe, sei er nicht verpflichtet, eine gekünstelte Französin zu heirathen. Anna verließ ihn, unfähig, ihm zu antworten, und indem sie todtenbleich zu uns in’s Zimmer trat, sagte sie: Vater, John tritt zurück – ich bin verloren! – Mein Mann, der ihn natürlich zur Rede stellte, erhielt dieselbe Erklärung von ihm. Wir verlangten Genugthuung von den Eltern, und diese versicherten, daß sie bereit wären, unsere Anna als Tochter zu empfangen, aber ihren Sohn nicht zu einer Heirath zwingen könnten. Wir mußten diesen Bescheid als bündig hinnehmen, und Anna würde sich vielleicht mit der Zeit beruhigt haben, wäre nicht die Eifersucht hinzugekommen. John ist mit unserem Nachbar, Herrn B., noch mehr aber mit dessen schöner und koketter Frau befreundet – das Uebrige können Sie errathen. Wenn Ihnen also Ihre Ehre und Ruhe lieb ist, so verlassen Sie die Familie S., denn schon spricht man davon, daß er Ihnen den Hof macht. Ihr Unglück ist allgemeiner …“

Ein angekommener Besuch von Verwandten unterbrach unser Gespräch und ich hatte nur noch Zeit, die Worte zu sagen: „Bis jetzt hat mir Herr S. noch nicht die geringste Veranlassung zu einer Befürchtung gegeben, indessen danke ich Ihnen für Ihre wohlgemeinte Warnung und gebe Ihnen die Versicherung, daß mir für meine Ehre kein Opfer zu groß sein würde.“ Ich war froh, mich endlich empfehlen zu können.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. in der Vorlage: kaun