Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland/Neuntes Kapitel

Achtes Kapitel Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland
von Heinrich Ferdinand Steinmann
Zehntes Kapitel
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[59]
Neuntes Kapitel.




Ich fühlte mich auf das Sonderbarste bewegt und in meinem Kopfe kreuzten sich tausend Gedanken. Kaum hatte ich es mir selbst gestanden, daß John mir Aufmerksamkeit beweise – und schon sprach die Klatschmuhmen-Gesellschaft davon. Welches Talent haben doch die alltäglichsten Dutzendmenschen, sobald es Unheil zu stiften gilt! Eine Art Allwissenheit steht ihnen zu Gebote, alle Elemente sind in ihren Diensten, [60] ein Bund von Millionen Verschworener, die sich alle nicht kennen und doch auf einen Wink nach einem Ziele hinstreben, wirkt und arbeitet dann mit unermüdlicher Geschäftigkeit. Ich mußte mich selbst erst prüfen, ob mein Herz für den Treulosen empfinde, und schon sprachen sie von meiner Ehre – ja, wahrhaftig, das Wort Ehre war in der Rede der Mistreß W. vorgekommen! Mein Glück war schon wieder im Niedergange begriffen, das sagte mir mein ahnungsvolles Herz. – Ich hatte den jungen Mann für ein Muster gehalten, hatte keine Ahnung von dem Erzählten gehabt, meine erste Frage war daher: Ist es zu tadeln, daß er sein Wort brach, oder nicht? Hier stieß ich zuerst auf die Seltsamkeit des Verfahrens, die Braut auf ein ganzes Jahr von dem Bräutigam zu trennen, und sie, die schon alle Vortheile einer guten Erziehung genossen hatte, in’s Ausland zu schicken und mit einiger französischen Grazie zieren zu lassen. Es kam mir vor, als wenn ich einen englischen Garten erhandelt hätte und der bisherige Besitzer ihn hinterdrein in einen französischen verwandeln und umgestalten ließe; ich fühlte mich überzeugt, daß ich ihn dann verschmähen würde. In dieser Beziehung konnte ich also John nicht tadeln. Bei der Betrachtung der zweiten Beschuldigung stellte sich das Bild der Frau B., welche ich mehrere Male in der Kirche zu Tansor gesehen hatte, mit ihrem reizenden Gesicht und ihrer schönen Gestalt, worüber ein seltener Liebreiz verbreitet war, vor meine Seele, und ich fühlte, wie mein Herz dabei schneller schlug und mein Athem beklommener ward. Meine Vernunft forderte sogleich mein Herz vor ihren Richterstuhl. „Wenn Frau B. alt und häßlich wäre, würdest du, Herz, dann auch so klopfen und zittern?“ fragte die Vernunft. „Wahrscheinlich nicht, antwortete das Herz, denn dann wäre weniger Gefahr für ihn vorhanden.“

Ich fühlte mich höchst beunruhigt und unzufrieden mit mir selbst und musterte alle meine Gefühle auf das strengste, wie auch Johns Betragen gegen mich. Er war stets so höflich und achtungsvoll gewesen, seine Scherze so unbefangen, so gutmüthig. Hatte er eine Beute auf der Jagd erlegt oder einen schönen Fisch gefangen, so brachte er mir sie zuerst und freute sich über den Antheil, den ich daran nahm. Kein Tag verging, ohne daß er mir die Hand herzlich schüttelte; war er einmal verreist, so enthielt jeder Brief einen Gruß an mich; kam er dann wieder, so ging er hastigen Schrittes nach meinem Zimmer und erkundigte sich herzlich nach meinem Befinden. Alle diese Aufmerksamkeiten [61] hatten meinem Herzen wohlgethan, und wie hätte ich unempfindlich dagegen sein können? Ich erinnerte mich, daß, wenn sich unsere Hände beim Umwenden der Notenblätter berührten oder beim Gruße begegneten, mir das Blut in’s Gesicht stieg und dann sein Blick stets prüfend auf mir weilte. Ich konnte nicht leugnen: wenn der junge schöne Mann sang oder spielte, hing mein Auge nur zu gern an ihm; aber auch das seine folgte allen meinen Bewegungen, und wenn sich unsere Blicke begegneten, so war es, als würden sie durch einen elektrischen Schlag verschmolzen.

Seine Mutter und Schwestern, weit entfernt, uns argwöhnisch zu belauschen oder uns trennen zu wollen, schienen sich über unser gegenseitiges Wohlwollen zu freuen und lobten ihn fortwährend gegen mich und mich gegen ihn. Mistreß S. hatte auch großmüthig mehrmals geäußert, daß sie das ärmste Mädchen mit Freuden zur Schwiegertochter annehmen würde, wenn sie tugendhaft und gebildet wäre. So viel war jedoch klar, meinte er nichts Ernstes mit dem allen, so scherzte er nur mit meinen Gefühlen in kalt berechnender Selbstsucht, und es blieb mir nichts übrig, als mein Herz zu beherrschen. Und schon diese Aufklärung über meinen Gemüthszustand war ein wesentlicher Gewinn, den ich aus der Mittheilung der Frau W. gezogen hatte.

Als ich Sir John am nächsten Tage sah, kam er mir mit derselben Herzlichkeit entgegen wie gewöhnlich, indem er mir seine Hand reichte; allein ich war schon viel kälter, denn ich hatte in der Schule meines harten Lebens schon früh die Kunst der Selbstbeherrschung gelernt. John mochte die Veränderung an mir gleich merken, denn er sah mich eine Zeitlang prüfend an und entfernte sich ungewöhnlich früh. – Ich war bis jetzt oft mit meinen Zöglingen spazieren geritten, auch heute luden sie mich dazu ein, allein ich lehnte es ab und[WS 1] machte einen Spaziergang nach Tansor. Frau W. war mit Katharina und Auguste im Garten beschäftigt. Mein Erstes war, mich nach Anna zu erkundigen, worauf ich erfuhr, daß man damit umging, sie wieder nach Frankreich zu schicken. „Sehen Sie, sagte die Mutter, dort steht sie schon am Fenster und wartet auf den, der sie um ihr ganzes Lebensglück gebracht hat und den sie noch unendlich liebt.“

In der That stand sie oben am Fenster und blickte auf die Straße herunter, die man von hier bis Oundel überblicken kann.

„Da kommt er!“ sagte jetzt Mistreß W., indem sie an den Zaun [62] ging und das Laub wegbog, um sich ihm bemerkbar zu machen; Herr S. jedoch ritt vorüber, ohne seitwärts zu blicken, und verschwand in Herrn B.’s Gehöfte neben an.

„Nun, glauben Sie mir jetzt?“ fragte Madame W. mit Bitterkeit.

„Herr B. ist ja sein Freund, erwiederte ich, und wahrscheinlich liegt seinem Besuche nichts Unlauteres zu Grunde.“

„Aber Herr B. ist vor einer halben Stunde ausgeritten und kommt vor Abend nicht wieder.“

„Wär’ es möglich?“ sagte ich gedankenvoll.

„Herr B. weiß Alles, fuhr Madame fort, unsere Söhne haben es ihm gesagt, aber Sie wissen, daß es unmöglich ist, Jemand zu überzeugen, der nicht glauben will. John ist kein undankbarer Hausfreund, und B. braucht immer Geld und Pferde – verstehen Sie?“

Herr W. und einer seiner Söhne traten jetzt hinzu und bestätigten Alles. Da ich Tags vorher den Unterricht des Besuches wegen hatte abbrechen müssen, bat man mich, ihn heute fortzusetzen, und weil das Wetter schön war, blieben wir im Garten. Gegen sechs Uhr machte mich Frau W. wieder auf Herrn S. aufmerksam, welcher aus ihres Nachbars Thorwege und nach Oundel ritt.

„Jetzt können Sie nicht länger zweifeln,“ sagte Frau W. triumphirend.

„Sein Besuch beweist aber immer noch nichts Böses,“ sagte ich in der Absicht sie zu beruhigen; jedoch Madame nahm mir dies sehr übel, legte mir falsche Motive wahrscheinlich unter, denn sie entließ mich beim Abschiede sehr kalt. Ich fing jetzt an, Herrn S. ernstlich zu meiden und verzichtete deshalb auf alle geselligen Unterhaltungen, welche mich in seine Nähe brachten. Aber desto geflissentlicher suchte er mich auf, und ohne eine Erklärung zu fordern oder zu geben, beschränkte er seine Unterhaltung auf allerlei Manöver, welche berechnet waren, mich zu fesseln. Ich durchschaute jedoch dieselben, und während ich nicht umhin konnte, seine Schönheit und seltenen Talente zu bewundern, verachtete ich seine Koketterie. Frau S. und ihre Töchter schien meine Zurückziehung zu betrüben und sie gaben sich alle erdenkliche Mühe, die Ursache derselben zu ergründen, während ich mich sorgfältig hütete, das Geringste darüber zu äußern. Zu meinem Bedauern wurden sich beide Familien jetzt allmälig fremder, und obgleich die S.’sche sich passiv verhielt, so wurde die W.’sche doch von Tage zu Tage feindseliger [63] gegen sie und beunruhigte mich durch die unzartesten Mittheilungen über ein Verhältniß, welches ich am liebsten unerwähnt gelassen hätte. Es entstand dadurch in meinem Gemüth ein fortwährender Kampf der verschiedenartigsten Gefühle, denn sobald John’s Mutter und Schwestern meine gute Meinung von ihm durch Hervorhebung seiner Tugenden wieder aufgebaut hatten, wenn es ihnen selbst gelungen war, meinen Glauben an die Wahrheit seiner Gefühle wiederherzustellen, zertrümmerte Frau W. beides wieder, so daß ich mich endlich entschloß, meiner Qual ein Ende zu machen und die Familie S. zu verlassen. Ach, es ward mir unendlich schwer, meinen Plan auszuführen, denn außer jenem traurigen Verhältniß gab es nichts in meiner Stellung, was mich nicht beglückt hätte. Mistreß S. bot alles auf, mir meine Familie durch die ihrige zu ersetzen, und ich mußte, wenn ich nicht undankbar scheinen wollte, wieder an den geselligen Kreisen Theil nehmen[WS 2]. John sang dann jedesmal mit seiner schönen Stimme Liebeslieder, welche tief und mächtig in meinem Innern wiederhallten, und seine Blicke versicherten mich, daß sie mir gälten. Bisweilen überraschte er mich mit einem zarten Beweise der Aufmerksamkeit, und schien beglückt, wenn ich dabei erröthete. Ein oder zwei Mal fand er mich in Thränen und schien dann heiter und zufrieden. Eines Tages, als ich wieder nach Tansor kam, machte mir Mistreß W. Mittheilungen, die mich in meinem Entschlusse vollkommen befestigten. Auch theilte sie mir mit, daß ich durch mein Zögern, die Familie S. zu verlassen, Anlaß zu Mißtrauen gegeben hätte, und daß man im Begriffe sei, Anna einstweilen nach Paris zu bringen. Alles dieses verleidete mir mein Leben so schrecklich, daß ich die erste Gelegenheit benutzte und meine Stelle kündigte. S.’s waren äußerst bestürzt darüber und versuchten Alles, mich von meinem Vorsatz abzubringen, allein ich beharrte darauf, weil ich fühlte, daß ich dieses Leben nicht fortsetzen konnte.

Die darauf folgenden drei Monate machten mir diese Familie wo möglich noch theurer, denn es verging kein Tag, an dem sie nicht unsere bevorstehende Trennung beweinten und Alles aufboten, um mich aufzuheitern. Als die Scheidestunde gekommen war, mußte ich ihren thränenreichen Bitten um längeres Verbleiben die Erklärung entgegenhalten, daß ich einer traurigen Nothwendigkeit weiche, worauf mir Madame S. eine bedeutende Geldsumme und jedes Familienglied ein Liebeszeichen schenkte. Der Abschied von diesen edeln und liebevollen Menschen war [64] voraussichtlich ein überaus erschütternder, der alle meine Standhaftigkeit aufrief und daher bis zuletzt verschoben werden mußte. – Ich hatte Frau E. schon von meinem Vorhaben benachrichtigt und machte ihr jetzt noch einen Abschiedsbesuch, wobei sie mir einen Brief von Fräulein Ch. mittheilte, der die Bitte enthielt, ihr bei vorkommenden Fällen Abmiether für ihr selbsterkauftes Haus zuzuweisen. Mistreß E. verwandte sich mit so viel Wärme dafür, daß ich sofort beschloß, von diesem Anerbieten Gebrauch zu machen. Nachdem ich die nöthigen schmerzlichen Abschiedsbesuche in Eastonhouse, Stamford, Tansor und Umgebung gemacht hatte, blieb mir noch der traurigste von allen, dessen Andenken mir heute noch Thränen entlockt. Wir alle schluchzten und umarmten uns zu wiederholten Malen, auch John hatte Thränen in den Augen, doch klangen seine Abschiedsworte hart und ominös, ich bemühete mich lange umsonst, ihre Bedeutung zu verstehen. Ich fühlte mich unaussprechlich unglücklich, mir war es, als verließ ich freiwillig ein Paradies, das sich auf ewig hinter mir schlösse, und nur das Bewußtsein meines reinen Beweggrundes vermochte mich einigermaßen aufrecht zu erhalten. Meine Reise nach London war eine sehr traurige, aber die freundschaftliche Aufnahme, die ich bei Fräulein Ch. fand, beruhigte mich einigermaßen und wir kamen bald auf frühere Zeiten zu sprechen. Sie erzählte mir aus sicherer Quelle, daß sich Lady Georgiana N. von England zunächst nach Frankfurt am Main mit Sir Charles H. gewendet und dort dasselbe Manövre mit Frau M. wie früher mit mir vorgenommen hatte, worauf ihr diese entlaufen und nach England zurückgekehrt war. Hier hatte sie alle bösen Thaten ihrer Gebieterin, deren ergebene Helfershelferin sie früher gewesen war, eifrig ausposaunt. Nach ihr hatte Lady Georgiana eine deutsche Kinderfrau angenommen und ihr eines Tages gesagt, daß sie mit den Ihrigen auf einige Tage verreisen wolle, während welcher Zeit die Wärterin mit dem kleinen Karl, ihrem vorletzten Sohne, das Haus hüten solle. Darauf war sie mit Sack und Pack, begleitet von Doctor H. und den übrigen Kindern, abgereist. Nach einigen Tagen war der Hauswirth gekommen, um den Miethzins in Empfang zu nehmen, hatte sich jedoch durch das Vorfinden dieses lebendigen Pfandes der hohen englischen Herrschaft vollkommen beruhigt gefühlt. Es war nun eine Woche nach der anderen vergangen, Kaufleute, Bäcker, Fleischer und andere Lieferanten hatten keinen Credit mehr gegeben, die Mittel der Wärterin waren [65] erschöpft – da hatte sich endlich der Hauswirth nebst den übrigen Gläubigern an die Obrigkeit gewendet, welche die Verschwundene öffentlich aufrief, ihre Schulden zu bezahlen und sich ihres Kindes anzunehmen. Jetzt stellte sich heraus, daß die Lady ganz gemüthlich am Hofe von Florenz die große Dame spielte und von der Bekanntmachung, nicht die geringste Notiz nahm. Der englische Consul, Herr C., hatte endlich den Vater des verlassenen Knaben, den ehrenwerthen Lord N., in England ausgemittelt, ihn von der hilflosen Lage seines Kindes unterrichtet, und es hatte dann der Herr Vater das Kind nach England bringen lassen. In Florenz hatte die Lady einige Zeit eine bedeutende Rolle am Hofe gespielt, wobei ihr der Name einer Gräfin M., welchen sie dem Verdienste des Ahnherrn ihres gekränkten Gatten verdankte, wesentlich genützt hatte. Aber während sie mit ihrem Cicisbe herrlich und in Freuden lebte, waren die Kinder leider von vielen dort lebenden Britten mit zerrissenen Strümpfen und niedergetretenen Schuhen gesehen worden. Hier war sie endlich erkrankt und in einen Zustand verfallen, der Alles von ihr verscheucht hatte, nur die verachtete Lavinia hatte ihr Hilfe leistend und tröstend zur Seite gestanden und ihr endlich die Augen geschlossen. Einer religiösen Engländerin, die mit ihr in demselben Hause gewohnt, sie auch oft besucht, hatte sie noch auf dem Sterbebette vertraut, daß sie ihr Schicksal verdient habe, dabei auch meiner mit tiefer Reue gedacht. Auf den Rath dieser Dame, ihr Unrecht nach Kräften an mir gut zu machen, hatte sie ein ehrenvolles Zeugniß für mich nebst einer Schuldverschreibung ausgestellt, welches diese mir später einhändigte. Nach dem Tode Lady Georgiana’s hatte sich die Großherzogin von Toskana der zweiten Tochter angenommen, Lavinia und Charlotte waren zu ihren väterlichen Tanten nach England gekommen und die Knaben hatte der Vater versorgt. Später erfuhr ich zu meinem Schmerze, daß diese Kinder alle Diejenigen, die da Augenzeugen von den traurigen Geheimnissen ihres Familienlebens gewesen waren, zu brandmarken suchten; ein klarer Beweis, daß sie die schmachvolle Politik ihrer Mutter angenommen hatten.

Ich bemühete mich sogleich, eine Anstellung zu finden, aber man versicherte mich überall, daß jetzt der ungünstigste Monat sei, weil die London-Season zu Ende und alle vornehme Welt schon zerstreut wäre. Mein Vertrauen auf Gott war aber so stark, daß ich mich nicht einen Augenblick entmuthigt fühlte, auch meldete mir eine meiner Beauftragten [66] bald, daß eine reiche Dame eine Reisegesellschafterin auf drei Monate suche und zwar zu einer Reise in Deutschland. So war zugleich mein sehnlichster Wunsch erfüllt, die Meinen und mein Vaterland einmal wiederzusehen. Fräulein Ch. und ich waren gerade bei einem frühen Mittagsmahl, als eine glänzende Equipage vorfuhr und der dazu gehörende Bediente nach englischer Sitte durch sein donnerndes Klopfen – double wrap – die Aufmerksamkeit der Nachbarschaft erregte. Das Dienstmädchen flog hinunter und empfing einen Brief, an mich adressirt, welchen ihr die Dame im Wagen gereicht hatte. Er war von Fräulein M., welche mich bat, ihr mich vorzustellen. Ich besuchte sie zu der von ihr bestimmten Zeit und ward augenblicklich sehr freundlich angenommen. Fräulein M. war eine Dame in den Vierzigen, mittler, sehr hagerer Gestalt, mit einem sehr lebhaften und gutmüthigen Gesicht. Sie redete mich sofort deutsch an, befragte mich über meine bisherige Stellung, meine Kenntnisse und Leistungen, dann sprach sie französisch, italienisch und spanisch, welches letztere ich seit einiger Zeit zu meinem Vergnügen getrieben hatte, und prüfte mich sehr umständlich in der Literatur und Geschichte der betreffenden Länder. Nach einer förmlichen Prüfung von zwei Stunden erklärte sich Fräulein M. vollkommen befriedigt durch meine Leistungen, und sagte, daß sie ihre Reise so lange habe verschieben müssen, weil unter allen Gesellschafterinnen, die sich ihr seit Monaten vorgestellt, nicht eine ihren Ansprüchen genügt habe. Sie versprach, nach Eingang der voraussetzlich günstigen Zeugnisse von Mistreß E. und S. mich sofort zu engagiren und alles Weitere bis dahin zu verschieben. Da ich mich in Bezug auf Empfehlung und Ruf sicher fühlte, so gab es keinen froheren Menschen in England als mich. Meine Freundin, die unterdessen Erkundigung über Miß M. eingezogen hatte, erzählte mir, daß sie reich und Dichterin sei, auch viel in’s Englische übersetzt habe, und wünschte mir Glück zu dieser auserlesenen Bekanntschaft. Die Zwischenzeit bis zum Eintreffen neuer Nachrichten verwandten wir auf Besichtigung der berühmtesten Kirchen und anderer Merkwürdigkeiten.

Zuerst kam die Paulskirche an die Reihe. Zum Besuche dieses nach der Peterskirche zu Rom größten Domes der Christenheit wählten wir einen heitern Sonntagsmorgen und wohnten dem Gottesdienste bei, welcher hier täglich zwei Mal gehalten wird. Der Klang der riesigen Orgel, begleitet von dem Schalle der Trompeten, Posaunen und [67] Pauken, bringt in diesen unermeßlichen Hallen einen unbeschreiblich erhabenen Eindruck hervor, der durch die Abwechselung mit den schmelzendsten Adagio’s und Soloparthieen noch unendlich an Wirkung gewinnt. Es klang meinen begeisterten Sinnen, als ob sich alle Himmel mit der Erde in diesem Jubel-Hymnus des Ewigen vereinigten, und dabei wurde das Gemüth durch die Anschauung dieses erhabenen Tempels zur Ehrfurcht und Anbetung hingerissen. Die Kuppel ist mit schönen Fresken geschmückt, welche die wichtigsten Begebenheiten aus dem Leben des Apostel Paulus, dem die Kirche geweihet ist, vorstellen. Sie endet in einer Kugel und Laterne, worauf sich das Kreuz erhebt. Die Zahl der anwesenden Domherren war sehr bedeutend, und auf dem prachtvollen Chor sah man verschiedene Schulen in ihren eigenthümlichen Trachten. Diese mit vielen Denkmälern und Votivtafeln gezierte Kirche ist echt griechischen Styls und muß den vollkommensten Kenner durch die Reinheit ihrer Bauart und Verzierungen befriedigen.

Wir begaben uns auf einer Wendeltreppe nach der berühmten Wisper-Galerie, wo wir uns von den verschiedensten Seiten gegen die Mauer wispernd wandten und gleichwohl in einer Entfernung von hundert Ellen jedes Wort deutlich verstanden. Die vier Seiten oder Fronten dieses Domes entsprechen den vier Himmelsgegenden. Die westliche nach Ludgate-Street ist vorzüglich imposant; ein erhabenes Portal, welches nach dem Haupteingange führt, ruht auf einer Colonnade von zwölf korinthischen Säulen mit einem oberen Portal von acht Säulen in gemischtem Styl. Die südliche und nördliche Front sind weit einfacher und gleichen einander in ihren Verzierungen; auf der ersteren sieht man jedoch einen Phönix aus den Flammen steigend, worunter das Wort Resurgam zu lesen ist. Halbkreisförmige Portale führen nach den Thoren derselben, und über dem nördlichen befindet sich das englische Wappen, von Engeln getragen.

Die ursprüngliche Erbauung der Parochial-Kirche verliert sich in die ersten Zeiten des Christenthums und man behauptet von ihr, daß sie in der Christenverfolgung unter Diocletian zerstört worden sei. Die aus den Trümmern wieder hergestellte wurde in dem großen Feuer von 1086 ein Raub der Flammen, 225 Jahre später erbaute der Bischof Moritz von London eine gothische, die in der großen Feuersbrunst von 1666 ebenfalls unterging. Nun legte der Baumeister Christoph Wren den 21. Juni 1675 den Grundstein zu der jetzigen [68] Kirche, die er in 35 Jahren vollendete. Die nordwestlichen und südwestlichen Ecken des Doms zieren zwei graziöse Thürmchen, welche in einer Kuppel enden, die mit einem vergoldeten Knopfe in Form einer Ananas verziert sind. Dieses Denkmal menschlicher Kunst hinterläßt durchaus das Gefühl der Begeisterung für den Urheber alles Guten wie der Bewunderung für den Künstler, der es schuf.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. in der Vorlage: unst
  2. Vorlage: nahmen