Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland/Zehntes Kapitel

Neuntes Kapitel Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland
von Heinrich Ferdinand Steinmann
Elftes Kapitel
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Zehntes Kapitel.




Am nächsten Morgen machten wir uns auf den Weg nach der Westminster-Abtei, dem Meisterwerk echt gothischer Baukunst, welches mit Recht ein Wunder der Welt genannt wird. Sie ist dem Apostel Petrus gewidmet und die Geschichtsschreiber verlegen ihren Ursprung in das sechste Jahrhundert. Nachdem sie von den Verfolgern des Christenthums zerstört worden war, ließ sie Eduard der Beichtiger wieder aufbauen und beschenkte ihre Geistlichkeit mit großen Privilegien und Einkünften. Heinrich II. ließ sie jedoch niederreißen, dann vergrößert wieder aufbauen und eine Kapelle errichten, welche er zu seiner Familiengruft bestimmte und der Jungfrau widmete. Die weltberühmte Kapelle ließ Heinrich VII. als Gruft für sich bauen und weihte sie ebenfalls der Jungfrau. Sie ist mit sechszehn gothischen Thürmen geschmückt, welche in der Ferne Brabanter Spitzen gleichen, und schließt sich gegen Osten an den Dom. Nichts vermag eine Vorstellung von der Schönheit dieses Baues zu geben, selbst nicht die gelungensten Kupferstiche. Man begreift nicht, wie Menschenhände diese ätherischen Verzierungen aus Stein verfertigen und in diesem Ebenmaße aufstellen konnten. So verwendete jener Monarch gleich den ägyptischen Königen unendliche Schätze auf seine Grabstätte, während er dem Entdecker einer neuen Welt ein Schiff versagte. Diese Kapelle enthält viele Merkwürdigkeiten und Zierden, von denen das Grabmal des Begründers die erheblichste ist. Sein Sohn Heinrich VIII., welcher die Besitzungen der Klöster und Abteien an sich zog, machte auch an die Westminster-Abtei schwere Forderungen, in Folge deren sie in Verfall gerieth, auch [69] wurde sie in den bürgerlichen Unruhen des siebzehnten Jahrhunderts sehr beschädigt.

Die Kirche enthält viele prachtvolle Kapellen mit verschiedenen, meist kostbaren Denkmälern, Statuen und Votivtafeln. Sie ward gegen das Ende des siebzehnten Jahrhunderts vom Ritter Christoph Wren restaurirt und mit zwei neuen Thürmen geschmückt. Der Grundriß ist die Form des Kreuzes. Die Beschreibung der Monumente dieses Tempels würde allein einen Band füllen und vereinigt sich daher nicht mit dem Plane dieses Werkes, jedoch will ich wenigstens das des William Pitt erwähnen, obgleich die Meinungen darüber sehr verschieden sind. Der große Staatsmann erscheint hier als Redner im Parlament mit den Insignien der Kanzlerwürde, den rechten Arm ausstreckend. Der Verrath in der Gestalt eines Dämons windet sich zu seinen Füßen und scheint verzweiflungsvoll mit seinen Ketten zu rasseln, mit den Zähnen zu knirschen, und sein Gesicht drückt überhaupt die äußerste Wuth aus. Zu Pitt's Linken steht der Genius der Geschichte, welcher die Verdienste des großen Mannes aufzeichnet, um sie der Nachwelt zu überliefern.

Ein anderes Monument ist dem Andenken eines schlichten Landmannes, Namens Thomas Parr, gewidmet, der ein Alter von 152 Jahren erreichte.

Nichts ist nach meiner Meinung mehr geeignet, von dem Charakter des englischen Volkes einen erhabenen Begriff oder einen summarischeren und zugleich ästhetischeren Ueberblick seiner Größe zu geben, als dieses Pantheon der Westminster-Abtei. Jedes Verdienst um Englands Wohl wird hier der Nachwelt aufbewahrt; das englische Volk errichtet hier seinen Wohlthätern prunkende Denkmäler, welche ihre Thaten und seine Dankbarkeit zugleich feiern. Ich sah hier die Namen aller berühmten Staatsmänner, Helden, Dichter, Künstler und zahlloser Personen, die sich auf irgend eine edle Weise ausgezeichnet haben. Die Westminster-Abtei kam mir vor wie ein ethisches Gedicht schöner Thaten, welches zur Begeisterung für alles Erhabene und Edle anfeuert.

Am folgenden Tage kamen wir überein, das Coliseum zu besehen und traten daher erst Nachmittags die Wanderung nach dem Regent-Park an, wo sich dasselbe befindet. Es ist ein großes rundes Gebäude, welches dem römischen sehr gleichen soll. Seine Beleuchtung erhält es durch eine Kuppel, die aus zusammengefügten Glasscheiben besteht. [70] Hier sahen wir das Museum, welches sehr merkwürdige Naturalien und Kunstseltenheiten enthält. – Das Diorama, eine Art von beweglichem Panorama, ergötzte uns sehr durch die gelungene Darstellung berühmter Naturscenen und Phänomene. Wir sahen den Wasserfall des Niagara in furchtbar schöner Vollendung, ein Schiff in der Polargegend, umringt von allen Schrecken einer wilden und lebensfeindlichen Natur, gleich darauf standen wir in der afrikanischen Wüste vor einer Fata Morgana, und der Eindruck, welchen diese Darstellungen auf uns machten, war ein so lebhafter, daß wir die verschiedenen Temperaturen der wirklichen Naturscenen zu fühlen vermeinten. Wir verließen dieses großartige, majestätische Gebäude mit höchster Befriedigung, während schon ein herrlicher Vollmond vom blauen Himmel strahlte.

Meine erhöhte Stimmung erhielt neuen Aufschwung durch einen Brief des Fräulein M., worin dieselbe mir mittheilte, sie hätte die befriedigendsten Nachrichten über mich erhalten und bitte mich um einen Besuch, um das Weitere mit mir zu besprechen.

Ich freute mich, die Freundschaft meiner gütigen Gönnerin auf diese Weise bestätigt zu finden und den Lieblingswunsch meines Herzens befriedigen zu können. Fräulein Ch. behauptete, ich sei ein Glückskind, weil ich ohne die geringste Mühe das erlangt hätte, wonach so Viele umsonst mit allen Kräften strebten. Als ich am nächsten Morgen zu Fräulein M. kam, trat sie mir mit der gewinnendsten Freundlichkeit entgegen, indem sie mir die erwähnten Zeugnisse zeigte, welche mein Herz in der That erfreuten. Zum ersten Male fragte sie heute nach meiner Gehaltsforderung; ich nannte ihr meine zuletzt bezogene Besoldung, worauf sie entgegnete, daß sie mich nach Maßgabe eines Jahrgehalts von 140 Guineen bezahlen wolle, zugleich bat sie mich, einstweilen eine Zehnpfundnote anzunehmen, welchem Ansinnen ich mich denn auch nach langen Weigerungen fügen mußte.

Unser nächster Schritt betraf die Erlangung unserer Pässe, die mir einige Schwierigkeit bereitete, weil ich noch nie einen Paß besessen hatte und doch jetzt meine Herkunft beweisen sollte. Glücklicher Weise erinnerte ich mich jenes Advokaten, welcher aus meinem gerichtlichen Erbschafts-Documente meine Heimatsverhältnisse ersehen hatte; ich fuhr daher mit Miß M. bei ihm vor, um mir eine Bescheinigung darüber zu verschaffen. Auf dem Heimwege ward meine Aufmerksamkeit durch einen so höchst widrigen Gegenstand gefesselt, daß ich einige Augenblicke [71] wie versteinert saß. Eine Dame, welche auf den Stufen eines Hauses das Oeffnen der Thüre erwartete, wandte uns ein von ekelhaften Ausschlägen überdecktes Gesicht zu und starrte mich mit einer gespenstischen Regungslosigkeit an. Trotz meines Schreckens erkannte ich doch sofort Mistreß H. in ihr, die einst zu mir sagte, daß jedes englische Herz die Deutschen wie den Aussatz hasse und die mir und der unglücklichen Westindierin eine Schale dünner Milch entriß, um sie ihren Schweinen zu geben. Ist hier die Strafe des Himmels nicht sichtbarlich ausgedrückt? An dem schreckhaften Zucken ihrer Gesichtsmuskeln und ihrem raschen Umdrehen bemerkte ich, daß mich die Mänade erkannt hatte und meine Erscheinung sie schmerzlich berührte. Was half nun der Elenden ihr Reichthum, ihr wahrhaft teuflischer Hochmuth und ihre Grausamkeit? Meine glatte Haut genügte, mir einen vollständigen Triumph über sie zu verschaffen. – Ich erhielt ohne Schwierigkeit die gewünschte Bescheinigung[WS 1] von meinem ehemaligen Sachwalter, worauf mir der sächsische Consul, Herr C., sogleich einen Paß ausfertigte. Als Alles zur Abreise fertig war, nahm ich von Fräulein Ch. Abschied und verfügte mich zu Fräulein M., mit der ich nach englischer Sitte um sechs Uhr das letzte Mittagsmahl einnahm.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. in der Vorlage: Bescheigung