Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland/Elftes Kapitel

Zehntes Kapitel Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland
von Heinrich Ferdinand Steinmann
Zwölftes Kapitel
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Elftes Kapitel.




Es war an einem schwülen Sommerabend, zu Anfang August, als wir der Themse zufuhren, um uns einzuschiffen. So lange wir uns in West-Ende von London befanden, sahen wir überall nur Gegenstände, welche von Reichthum und Bildung zeugten[WS 1]: breite, reinliche Straßen, schöne Kirchen, Häuser und Paläste, reizende Plätze und prachtvolle Monumente, glänzende Equipagen und geputzte Fußgänger. Ganz anders war es, als wir in’s Ost-Ende kamen, hier waren die Häuser alt und unregelmäßig, die Straßen schmutzig und eng, die Bevölkerung bestand aus den untersten Gewerbsleuten, Arbeitern und Juden; man sah überall zweideutige Gesichter jedes Alters und Geschlechts, viele Betrunkene darunter; stinkende Fisch- und Fleischläden verunreinigten die Luft, und von [72] allen Seiten wurden die Sinne unangenehm berührt, so daß es war, als seien wir in die Citta dolente des Dante mit ihren Strafabtheilungen gerathen. Ich war glücklich, als wir am Einschiffungsplatze angelangt waren, wo uns ein Boot aufnahm und an Bord brachte. Hier setzten wir uns auf eine Bank und sahen dem geschäftigen[WS 2] Treiben der Passagiere und Bootsleute zu, während H. und seine Frau, Dienerschaft der Miß, unser Gepäck in Sicherheit brachten. Um zehn Uhr wurden die Anker gelichtet, die Maschine puffte und pustete, und unser Dampfer glitt langsam durch die zahllosen Schiffe hindurch, welche fortwährend hier liegen oder segeln. Plötzlich stand im milden Lichte des Mondes jene prachtvolle Veste vor uns, die ich während meiner Gefangenschaft bei den Kerkermeisterinnen H. und N. nicht hatte sehen können – der Tower mit seinen riesigen Bastionen, Mauern, Thürmen und Außenwerken, in deren Mitte sich ein zauberisches Schloß erhob. Einen Augenblick glaubte ich ein Trugbild der Fata-Morgana zu sehen, aber als Miß M. den Namen Tower aussprach, war es auch keine leblose Steinmasse, die ich erblickte, sondern meine Phantasie belebte sie mit den Geistern aller Derer, die hier gelebt und gelitten hatten und eines gewaltsamen Todes gestorben waren. O, seufzte ich, warum sind Staatsverfassungen und Gesetze so spät menschlich geworden? Ihr gehört alle zu den Opfern der Barbarei voriger Jahrhunderte, und hätten die Völker ihre Regierungen nicht gewaltsam vorwärts gestoßen, so säße heute noch politischer und religiöser Aberglaube auf seinem blutigen Throne, und die Humanität wäre nur erst in den Köpfen einiger Edeln und würde als Chimäre verlacht. – Die beginnende Seekrankheit unterbrach sehr unsanft meine philosophischen Betrachtungen, und das jammervolle Ansehen meiner Dame verrieth einen ganz verwandten Zustand; wir versuchten in die Kajüte zu krabbeln, waren aber bereits so ohnmächtig, daß wir warten mußten, bis man uns hinab führte. – Die Ueberfahrt war übrigens eine sehr glückliche und wir kamen am nächsten Nachmittage mit sehr geschärftem Appetit in Ostende an, wo wir vortrefflich bewirthet wurden.

Zu unserem Erstaunen sahen wir hier die Frauen der unteren Klasse große dicke Tuchmäntel tragen, obgleich es eine Hitze von 24 Grad R. war. Wir wurden dabei an das spanische Sprüchwort erinnert: El que preserve de el frio, preserve de el calor – (was die Kälte abhält, hält auch die Wärme ab). Wir vermutheten, daß dieses Costüm [73] aus der Zeit der spanischen Herrschaft herstamme, weil es heute noch in einigen Gegenden Spaniens und Portugals herrschend ist.

Da der nächste Tag ein Sonntag war, so brachten wir ihn hier zu und besuchten früh die englische Kirche, wo wir zufällig den anwesenden König der Belgier sahen. Sein schönes intelligentes Gesicht und seine edle Gestalt entsprechen vollkommen den guten Eigenschaften, die ihn so geliebt und verehrt machen.

Am folgenden Morgen reisten wir auf der Eisenbahn nach Brüssel und stiegen im Hotel de l’Europe ab, wo wir sehr prachtvolle Zimmer im ersten Stock erhielten. Hier verweilten wir einige Tage und besuchten zuerst die alte Kirche der heiligen Gudula. Das Chor, die Beichtstühle und die Kanzel sind aus sehr künstlichem Schnitzwerk, letztere ruht auf einer Gestalt, den Tod mit Sense und Stundenglas vorstellend. Die Verzierungen an den Beichtstühlen stellen Begebenheiten aus dem Leben Jesu und der Apostel dar. Wir besahen auch den berühmten botanischen Garten, dessen Gewächshaus riesige Palmen und Lotusbäume enthält. Hier sind alle Länder und Klimate vertreten und ihre herrlichen Repräsentanten bilden einen wahren Wundergarten der Schöpfung. Da die königliche Familie auf ihrer Sommerresidenz Laeken weilte, so besuchten wir den Palast des Prinzen von Oranien. Der Park umgiebt den Palast, der aus einem langen Parallelogram besteht, im einfachsten Style mit zwei Portalen. Das Innere indessen zeigt Geschmack für reiche Eleganz und Bequemlichkeit. Die bedeutende Gemäldesammlung enthält auch einen Raphael, besonders viele Bilder des Paul de Potter und des noch lebenden Verborkhoven. Der Hausverwalter, ein schon alter Mann, erzählte uns die Geschichte von dem Diebstahle des Schmuckes der Prinzessin von Oranien, welcher einige Zeit vor der Revolution stattgefunden hatte, und zeigte uns das Fenster, durch welches der Dieb eingebrochen war. Die Feinde des Hauses Nassau, und namentlich die des Prinzen selbst, hatten diesen Umstand benutzt, um dessen Charakter zu verdächtigen und zu brandmarken, indem sie ihn öffentlich beschuldigten, die Juwelen versetzt zu haben, um seine Spielschulden zu decken. Aber der hochgesinnte und freimüthige Krieger handelte wie jeder Mensch von Selbstgefühl in ähnlichen Fällen handeln würde – er hielt es nicht der Mühe werth, sich gegen diese niedrige Verleumdung zu vertheidigen, sondern überging sie mit stiller Verachtung. Später wurden die Juwelen mit dem Diebe in New-York entdeckt und dieser auch bestraft. [74] Diese Begebenheit wurde von allen Unpartheiischen als ein frohes Ereigniß gefeiert.

Im Palaste des Herzogs von Aremberg sahen wir eine besonders werthvolle Gemäldesammlung, welche Arbeiten von Albrecht Dürer, Hans Holbein, Vandyk, Rubens, Tizian, Wouvermann und anderen enthält.

Auf dem Markte sahen wir den verhängnißvollen Platz, wo die Grafen Egmont und Hoorn hingerichtet wurden, und alle Greuel der spanischen Blutwirthschaft, insonderheit des scheußlichen Tyrannen Alba, zogen an unserer erschreckten Phantasie vorüber. Der Marktplatz gewährt durch die vielen ihn umgebenden Paläste im gothischen Styl einen höchst imposanten Anblick, und der Liebhaber alterthümlicher Kunst findet hier ein reiches Feld zu Forschungen. Sonderbarer Weise zeigte meine Gebieterin wenig Geschmack an Brüssels Schönheiten, und da ich auch hier keine Spur von Karl T. entdecken konnte, so schmerzte mich die Eile, mit der wir es verließen, gerade nicht zu sehr. In Miß M. fand ich übrigens eine sehr gebildete Dame mit vortrefflichen Eigenschaften, jedoch schien sie mehr in Theorieen zu leben, während das wahre Dasein und das menschliche Herz ihr offenbar unbekannt geblieben waren. Sie hatte blos zwei Klassen von Menschen kennen gelernt, die fashionable gekünstelte haut volée und die der Verbrecher, welche ihr durch ihren Vater, einen Magistratsbeamten, bekannt geworden war.

Ihre Begriffe waren in sofern ziemlich beschränkt, indem reich, vornehm und achtbar, andererseits arm, gemein und verächtlich gleichbedeutend bei ihr waren. Das ist der alte aristokratische Zopf, den die Neuzeit so halbweg abgeschnitten hat und allmälig ganz beseitigen wird. – Am liebenswürdigsten war meine Dame, wenn sie über Literatur sprach; dann entfaltete sie einen großen Reichthum an Belesenheit und richtigem Geschmack, und an der Begeisterung, womit sie die schönsten Stellen der vorzüglichsten Dichter anführte, hätte ich errathen, daß sie selbst Dichterin sei, wenn ich es auch nicht von Miß Ch. erfahren gehabt hätte. Uebrigens war diese Dame sehr großmüthig und beschenkte Alle, welche ihr einen Dienst geleistet hatten, auf eine fürstliche Weise. Ich fürchtete bisweilen, dies geschehe aus Unkenntniß der Münze und sie könnte in Verlegenheit gerathen; allein sie versicherte, daß es ihr unmöglich sei, ihre Zinsen zu verzehren und daß sie einst nur lachende Erben durch ihr Vermögen bereichern werde.

[75] Von Brüssel, wo die Miß einen schönen Reisewagen gekauft hatte, reisten wir sehr bequem mit Postpferden weiter und besuchten zunächst das Schlachtfeld von Waterloo, auf dem uns ein alter Soldat, der in jener Schlacht mitgefochten hatte, herumführte und uns ein so lebendiges Bild davon entwarf, daß mir war, als sähe ich die Ereignisse jenes unvergeßlichen Tages vor Augen. In der Scheune, „la belle Alliance“ genannt, sahen wir viele berühmte Namen eingeschrieben und in einer Kapelle die Namen der gefallenen Sieger, in Marmortafeln gegraben. Das Hauptmonument ist ein kolossaler Löwe in Bronze auf einem verhältnißmäßigen Piedestal, gewiß die erhabenste Trophäe, welche je auf einem Schlachtfelde aufgepflanzt worden ist. Eine Art Obelisk bezeichnet den Platz, wo der Marquis von Anglesea ein Bein verlor, das darunter begraben liegt. Wenn man diese weite Ebene überblickt, die mit dem edelsten Blute getränkt ist, dann fühlt man sich von einem seltsamen Schauer überrieselt; es ist als müsse man niederknieen und den heiligen Boden küssen, auf welchem Europa’s Befreiung errungen wurde. – Auch Napoleon hätte hier sterben sollen, dann hätten selbst seine Feinde in seine Apotheose eingestimmt.

Unser nächster Anhaltepunkt war Namur, wo wir im Hotel d’Harskamp übernachteten, von dessen Fenstern aus wir die herrliche Festung betrachten konnten. Sie hat ihren früheren Ruhm der Unbesiegbarkeit durch die Waffen Ludwigs XIV. verloren. Die Stadt mit ihren vielen schönen Häusern und Gärten ist reizend an der Maas gelegen. Wir sahen eine Prozession zu Ehren der heiligen Jungfrau, welche zu dem frechen und wilden Treiben in den Straßen und Läden einen sonderbaren Widerspruch bildete.

Am folgenden Morgen reisten wir die Maas entlang weiter und waren entzückt über die liebliche Romantik dieser Gegend. Der Fluß ist zwar weder sehr breit noch tief genug zur Schifffahrt, aber das Thal, durch das er fließt, ist hinreichend breit, um weder den Blick noch die Phantasie zu hemmen, und erhält durch seine vielen Krümmungen, malerische Fernsichten und Abwechselungen den Geist in einer frischen Lebendigkeit. Die waldigen Berge auf beiden Seiten bilden einen nicht weniger schönen Rahmen zu diesem lieblichen Gemälde und erfreuen das Auge durch anmuthige Villen, welche nach Art der mittelalterlichen Ritterburgen die am Fuße liegenden Dörfer beherrschen. Das Ganze war von der freundlichsten Sonne beleuchtet, welche unstreitig den Zauber [76] des Eindrucks um vieles erhöhte. In dem kleinen Städtchen Huis aßen wir zu Mittag und sahen hier im Vorüberfahren zwei sehr schöne gothische Gebäude. In Lüttich empfing uns die Wirthin des Hotel de Russie am Wagen, eine echt flammändische korpulente Matrone, und führte uns zur Besichtigung der Zimmer herum. Als wir eben angefangen hatten, uns bei einem guten Abendessen gütlich zu thun, erhielten wir Besuch von zwei Mäusen, die so zahm waren, daß sie uns ganz nahe kamen. Miß M., die einen besonderen Widerwillen gegen diese Thiere hatte, wurde sogar des Nachts im Bette von ihnen heimgesucht, so daß sie vor Furcht und ich vor ihrem Kreischen nur wenig schlafen konnte.

Von hier reisten wir nach Spaa, welches früher eines europäischen Rufes genoß und jetzt immer noch sehr besucht war. – Für Miß M. hatte dieser Badeort nur deshalb Interesse, weil sie Madame de Genlis „L’Aveugle de Spaa“ gelesen hatte. Sie befahl dem Postillon, uns nach dem Hotel d'Angleterre zu fahren; als wir uns jedoch demselben näherten, rief sie ihm plötzlich mit einer Art komischer Bestürzung zu, er solle weiter fahren.

„Ach, Gott sei Dank, rief Fräulein M. mit sichtlicher Erleichterung, als wir vorüber waren; sahen Sie nicht die Menge Herren, welche dort überall umherschlendern? Ach, daß Gott erbarm, eher will ich die ganze Nacht reisen, als dort schlafen!“

Diese lächerliche Prüderie war sehr überflüssig, denn alle Gasthöfe waren so sehr mit Reisenden überfüllt, daß wir froh waren, als wir nach langem Suchen ein kleines Zimmer mit zwei Betten bekamen und einen unerhörten Preis dafür zahlen mußten. Die hochadliche Aristokratie im Fremdenbuche nebst einer Menge hoher Würdenträger gab uns die Erklärung zu unserer Rechnung.

Nachdem wir zu Abend gegessen hatten, fuhren wir aus, um die schöne Gegend zu besehen und den Berg zu betreten, dessen Brunnen einst die Gesundheit der Gemalin Louis Philipps, damaliger Herzogin von Orleans, wieder herstellte. Wir bewunderten die lieblichen Parthieen, welche ihre Kinder mit ihren eigenen Händen der wohlthätigen Nymphe zu Ehren anlegten, und den geschmackvollen Pavillon, den sie ebenfalls bauen ließen. Hier hatten wir einen sehr schönen Blick auf die Bergkette, welche das liebliche Thal mit der Stadt umgiebt, wurden aber durch die hereinbrechende Nacht an allem weiteren Umschauen verhindert. Am nächsten Morgen reisten wir durch eine Gegend, die erst [77] an den Ufern der Maas wieder unterhaltend wurde, und zwar vor Vervier, wo wir zur Rechten wieder den Fluß, zur Linken hohe Berge hatten. Einige neue Schlösser, die wir hier sahen, blieben freilich in der Wirkung hinter den alten Ritterburgen zurück. – Vervier hat eine große Kanonengießerei und wir sahen schon von weitem die thurmhohen Schornsteine, welche, in Verbindung mit den gefängnißartigen Fabrikhäusern, allen industriellen Oertern ein so prosaisches Ansehen geben. Um so poetischer war das Gefühl, welches mich überkam, als wir in Aachen, die alte Kaiserstadt, einzogen. Wunderbares Würfelwerk der Geschichte! In dieser tausendjährigen, halbverfallenen Metropole bezogen wir ein modernes Hotel „Zu den vier Jahreszeiten“ und bekamen die prächtigsten, fashionablesten Zimmer, die ich jemals in einem Gasthause oder einer Privatwohnung gesehen, ausgestattet mit allem Comfort von 1840. Aachen, das vor fast elfhundert Jahren den mächtigsten und genialsten Herrscher der damaligen Christenwelt in seinen Mauern leben und sterben sah! Ich brannte vor Begierde, Thron und Gruft Karls des Großen zu sehen, aber in dieser steifen, stockenglischen, deutschfeindlichen, spindeldürren Miß mußte sich die Ironie des Schicksals verkörpern, die es der Patriotin versagte, die Schwelle des Doms zu überschreiten, wo ihr erster und ältester König ruht. Miß M. erklärte rund und nett, ihre Reise habe blos das Vergnügen zum Zweck, Kunst und Geschichte lägen ihr fern; somit war sie nicht zu bewegen, das Innere der Kirche in Augenschein zu nehmen. Echt englischer Egoismus, der an den erhabensten Erinnerungen und ehrwürdigsten Denkmälern kein „Vergnügen“ findet, sobald sie nicht nach Beefsteaks und Porter riechen; echte Brutalität, die nicht begreift, daß aus den edelsten Trieben der Begeisterung für Kunst und Geschichte das schönste „Vergnügen“ entspringt. – Das Aeußere des Domes steht, da er im byzantinischen Style gebaut ist, an Erhabenheit den gothischen weit nach; die Rundbogen und breitwüchsigen Thürme sehen neben den Spitzbogen und himmelanstrebenden, durchsichtigen, schlanken und leichten der Gothik trübselig und gequetscht aus. Die Stadt liegt in einem schönen Thale und die umgebenden Berge bieten viele Trink- und Bade-Anstalten, reizende Promenaden und Vergnügungs-Oerter. Obwohl wir aber volle acht Tage hier blieben, war es mir doch unmöglich, den Dom zu durchwandern; die Spazierfahrten waren täglich neu, und es war mir nur unmöglich, einzusehen, warum Miß M., die das Theater und alle öffentlichen [78] Unterhaltungen mied, auch den altehrwürdigen Münster floh. – Ueberhaupt habe ich gefunden, daß zwei Frauenzimmer auf die Länge sich mit einander langweilen oder zanken, vollends wenn eine Engländerin dazu gehört. Meine Gebieterin besaß viel Geist und Phantasie, auch die Kunst, Eindrücke, Gedanken und Ansichten mit Leichtigkeit und Anmuth auszusprechen; dagegen aber war wieder ihr Urtheil schwach und fehlerhaft. Und wer weiß, welche Fehler sie ihrerseits an mir herausfand. So beschäftigten wir uns denn viel mit Lesen und Schreiben, woneben ich selbstverstanden die Obliegenheit hatte, die langen Tiraden meiner Dame mit gebührender Bewunderung anzuhören und mit möglichst treffenden Antworten zu erwiedern. Bisweilen erwachte in dieser qualvollen Lage der Humor in mir: ich mußte über meine freiwillige Marter laut lachen, und wenn mich die Miß dann verwundert ansah, suchte ich ihr zu beweisen, daß ihr unaussprechlich feiner und versteckter Witz die Ursache meiner Fröhlichkeit sei. Dagegen hatte die heitere Gemüthlichkeit der Aachener, welche in den lauen Sommernächten singend und musizirend auf den Straßen umherzogen, für mich unbeschreiblichen Reiz, wie in materieller Beziehung das milde Klima und der Genuß der herrlichen Natur auf meine Gesundheit unendlich wohlthuend einwirkten.

Es war ein reizender Morgen, als wir diesem Schauplatze fast heiliger Erinnerungen Lebewohl sagten und durch eine ziemlich einförmige Gegend dem Rheine zueilten. Eine herrliche Ueberraschung ward uns zu Theil, als wir an den Rand der Erderhebung kamen, von welcher wir die weite Rhein-Ebene und das alte Colonia Agrippina mir seinen vielen Thürmen und Festungswerken erblickten. Dieser Agrippina geht es wie manchen alten Agrippinen unter den Menschen, sie sieht sehr schön in der Ferne aus, in der Nähe aber verliert sie allen Reiz, und zwar durch ihren höllischen Dunstkreis. Nirgend wäre eine Parfümerie-Fabrik besser angebracht als hier, ich glaube, als Festung wäre sie durch ihren mephitischen Geruch uneinnehmbar. Wir wenigstens machten augenblicklich Kehrt und schlugen unsere Herberge am andern Ufer im Deutzer Hofe auf, einem schönen und ausgezeichneten Gasthof mit guten Zimmern und ausgezeichneter Tafel. Sonderbar genug eilte Fräulein M. hier schon am nächsten Morgen in den Dom, der mir trotz seiner Berühmtheit immer noch nicht so wichtig war, wie der weniger gefeierte Aachener. Es versteht sich, daß in Memoiren technische [79] Beschreibungen und historische Nachweise nicht angebracht sind; ich unterlasse dieselben daher auch und beschränke mich auf wenige Worte über dieses weltberühmte Meisterwerk gothischer Baukunst, welches seit Jahrhunderten im Entstehen begriffen ist und vielleicht niemals vollendet werden wird. Auch der Cölner Dom stellt im Grundrisse die Form des Kreuzes dar; die Thürme, von denen der eine beinahe, der andere halb vollendet war, sind seine Hauptzierde und sehen so luftig, so kühn und so zierlich aus, wie nur die Begeisterung sie entwerfen konnte. – Sie sollten nach ihrer Vollendung mit einer majestätischen Blume in Kreuzesform gekrönt werden nach dem frommen Glauben des Mittelalters, das dieses heilige Symbol allem Erhabenen aufdrückte und in dem kühnen Aufstreben desselben das Ziel aller irdischen Sehnsucht darstellt. Ein reich und sinnig verziertes Hauptportal führt nach dem Mittelschiff, zwei einfache Nebenportale nach den Seitenschiffen, welche von jenem durch luftige Säulen und Spitzbogengewölbe getrennt sind. Das Ganze ist von Außen durch mächtige Strebepfeiler zusammen gehalten. Ruft schon der äußere Anblick der Kirche eine feierliche Stimmung hervor, so steigert sich dieses Gefühl bis zur schauervollen Ehrfurcht und Anbetung Dessen, der alle Räume füllt und von dessen Nähe man sich in diesem feierlichen Halbdunkel bis zur Beklommenheit ergriffen fühlt. Die hohen schmalen Spitzbogenfenster, mit köstlicher Glasmalerei bedeckt, welche die Lebens- und Leidensgeschichte des Heilandes und seiner Apostel darstellt, scheinen den Zweck zu haben, den Betenden von der Außenwelt abzusondern und seine Seele ganz und gar mit dem Gekreuzigten zu beschäftigen. Das Chor und die Kapelle dahinter sind wahre Perlen der Architektur und Bildhauerei. Es giebt noch mehrere Kapellen hier, in denen man viele Heiligthümer aufbewahrt. Unter anderen zeigte man uns die Schädel der heiligen drei Könige, welche Kronen von falschem Gold und Edelsteinen tragen; der Küster versicherte uns, daß Letztere früher echt gewesen seien. Ich hätte gern stundenlang hier geweilt, allein Miß M. war befriedigt und wir verließen den Dom zu Cöln. Leider sahen wir das Museum und die Kirche mit den Gebeinen der elftausend Jungfrauen nicht, und ich vermochte diese vandalische Gleichgiltigkeit an einer Dichterin um so weniger zu begreifen, als sie reich und verschwenderisch war.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. in der Vorlage: zeigten
  2. in der Vorlage: geschättigen