Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland/Zwölftes Kapitel

Elftes Kapitel Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland
von Heinrich Ferdinand Steinmann
Dreizehntes Kapitel
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Zwölftes Kapitel.




Am folgenden Morgen setzten wir unsere Reise fort, ließen das freundliche Bonn rechts liegen und bewunderten im Vorüberfahren die ehrwürdigen Burgen, welche den kegelförmigen Godesberg bekrönen. – Ich blickte mit unsäglicher Sehnsucht hinüber und beneidete die zahllosen Fußreisenden, welchen wir überall begegneten; sie waren zum Theil mit Topographieen und Karten versehen, um die Merkwürdigkeiten der Gegend zu studiren, während wir uns mit den magern Beschreibungen begnügen mußten, welche wir in Murray’s Handbuche für Reisende fanden. Wir näherten uns jetzt der Hügelgegend, in welcher uns der Weg längs des Stromes weiter führte, und hatten einen prächtigen Anblick von den sieben Bergen, auf deren höchstem Gipfel die Burg Drachenfels liegt. Zu unserer Linken ragte die Burg Rolandseck über die waldigen Felsenkuppen empor, welche wie der Name ihres ritterlichen Gründers bestimmt ist, von den entferntesten Generationen bewundert zu werden, denn sie ist noch eine stolze Veste, ungeachtet sie schon den Stürmen eines Jahrtausends getrotzt hat. Später sah ich in Spanien ein altes Buch, welches die Niederlage Rolands in Roncevalle, wie auch seine übrigen Abenteuer sehr ausführlich beschrieb. Nicht sehr weit davon kamen wir an den malerischen Punkt, wo der Strom von zwei Inseln getheilt wird, auf deren einer das Kloster Nonnenwärth steht, das jetzt zum Gasthof dient. Die Legende erzählt, daß hier die Braut eines Kreuzfahrers, als sie seinen Tod erfuhr, den Schleier genommen habe, worüber er bei seiner Rückkehr lebenslang auf seiner gegenüberliegenden Burg trauerte. Rechts und links erheben sich überall alte Burgen, unwidersprechliche steinerne Urkunden des deutschen Ritterthums. Die dazwischen liegenden Villen verhalten sich zu ihnen wie die jetzigen Begriffe von Bildung zu der sprüchwörtlichen deutschen Treu’ und Biederkeit. In Andernach trafen wir einen ganzen Schwarm von Reisenden der verschiedensten Nationen, die von hier aus Ausflüge machten, meist um die Ruinen der Burg der ehemaligen Könige von Austrasien zu besuchen. Wir kamen noch bei guter Zeit in Coblenz an und übernachteten im Gasthofe „Zu den drei Schweizern“, der eine prachtvolle Aussicht auf die Festung Ehrenbreitstein gewährte. Hinter Coblenz beginnt eigentlich [81] die romantischste und malerischste Scenerie des Rheinstromes, längst welchem die Straße fast ununterbrochen dahin läuft. Nichts vermag einen Begriff von den Bergen zu beiden Seiten dieses reizenden Thales zu geben, welche überall mit Burgen, Ruinen, Wein und Wald bekrönt sind und sich theilweise in den grünen Fluten spiegeln. Welches deutsche Herz schlüge hier nicht höher und freute sich nicht seines Ursprungs! Nur am Rheine fühlt man sich ein Deutscher – sonst nirgends! – Bei Sanct Goar ergötzte uns das herrliche Echo, das der Postillon mit seinem Horne hervorrief. Ein Mann hatte sich dort aufgestellt, um zur Ergötzung der Reisenden Pistolen abzufeuern, was eine großartige Wirkung hervorrief. Bald darauf kamen wir an die berühmte Veste Ritterstein und hörten vom Postillon, daß der Prinz von Preußen eben anwesend und es daher erlaubt sei, sie zu besuchen. Wir entschlossen uns sogleich, hinaufzuklimmen, welches in der That kein geringes Unternehmen ist, denn die Burg schwebt zweihundert Fuß über dem Fahrwege auf Felsenkuppen, welche von drei Seiten eine senkrechte Fronte darstellen. Wir erstiegen den Pfad, welcher vielfach geschlängelt und folglich sehr vortheilhaft angelegt ist, bei der bedeutenden Hitze nicht ohne Mühe; aber die reizenden Ruhepunkte und der Blick auf die mittelalterlichen Thürme und Zinnen, welche fast senkrecht über uns in den blauen Aether hinauf ragten, ermunterten uns in unserer Anstrengung. Endlich gelangten wir keuchend und erhitzt an das Burgthor und zogen die Glocke, um Einlaß zu begehren. Wir hatten Zeit, einen Blick in alle Richtungen dieser unvergleichlichen Landschaft zu thun, und fühlten in der reinen balsamischen Luft eine wunderbare Spannkraft und Lebenslust in unsern Adern klopfen. Nach einigen Minuten erschien der Burgvogt, welcher sich sehr bereit zeigte, unser Begehren zu erfüllen; er führte uns über die Zugbrücke, welche, wie verschiedene andere Theile, ganz im Geschmacke der ursprünglichen Bauart erneuert ist. Das Gemäuer und die Thürme, welche rund und aus rohen Steinen ausgeführt sind, haben ein hohes Alter und erinnerten mich an die Ruinen des Schlosses zu Dover, das bekanntlich aus den Römerzeiten stammt; die Brustwehren und eisernen Treppen sind jedoch neu und das Ganze ist im wohnlichsten und anmuthigsten Zustande. Der Hofraum ist zwar nicht groß, aber verschiedene Abtheilungen an der Vorderseite entsprechen den mancherlei Zwecken eines Gehöftes. Von hier aus beherrscht man das Rhein-Panorama sehr weit, und der köstliche Eindruck desselben wird durch die gemütliche [82] Unregelmäßigkeit des Baues nicht gestört, im Gegentheile bildet sie eine der vorzüglichsten Annehmlichkeiten dieses Felsensitzes. Die Burghalle oder der Rittersaal ist das stattlichste Zimmer im Schlosse, und enthält eine Menge alterthümlicher Waffen und Geräthschaften, nicht weniger andere seltene Gegenstände. – Der Kamin ist mannshoch und entbehrt des Madelabers, welchen die jetzigen haben, aber seine echt alterthümliche Form entspricht dem Ganzen trefflich. Die Deckenleuchte ist originell und besteht aus einer Menge kreisförmig geordneter Gemshörner, worin sich Lampen befinden. In einer Ecke des Saales stand ein antiker Wasserbehälter mit einem Hahn, unter welchem eine Schaale zum Auffangen der Tropfen steht. Die Sessel, Tische und Schränke waren alle massiv aus Eichenholz geschnitzt, die Sitze und Lehnen enthielten reiche Goldstickereien, welche Zeichnungen der königlichen Familienwappen vorstellten und von verschiedenen Gliedern derselben gearbeitet worden waren. Wir machten hierauf die Runde durch die Zimmer und konnten den alterthümlichen Geschmack nicht genug bewundern. Die Lagerbetten standen in dazu bestimmten Vertiefungen oder Nischen der Mauern, in einigen Schlafzimmern fanden wir jedoch Luxus-Artikel, die zu entschieden das Gepräge der gegenwärtigen Verfeinerung trugen, um für mittelalterlich gelten zu können. Dann erstiegen wir vermittelst einer Treppe einen der Thürme, welchen sie umkreist; sie ist einfach wie alle übrigen, aber merkwürdig. Die Plattform des Thurmes ist dreihundert Fuß über dem Rheinspiegel, welchen wir meilenweit überblickten; die Gegenstände erschienen aber wegen ihrer weiten Entfernung nur in ihrer halben natürlichen Größe und zeigten so ein vielgestaltiges Miniaturbild. Dieser Thurm steht am äußersten Rande des grauenerregenden Absturzes. Es war eine hochherzige Idee des Prinzen von Preußen, diese Burg herstellen zu lassen und zu bewohnen, er hat sich dadurch nicht allein die Zeitgenossen, sondern auch die kommenden Geschlechter zu Danke verpflichtet, und ich werde meines Theils die Stunde, in welcher ich die Anschauung dieses steinernen Heldengedichtes genoß, stets zu den glücklichsten meines Lebens zählen.

Wir fuhren sodann auf Bingen zu und waren bald nachher auf nassauischem Gebiet. Wir hatten eine schöne Ansicht vom Schlosse Johannisberg, dessen schneeweiße Mauern im Strahle der sinkenden Sonne erglänzten. Es gehörte bis zur ersten französischen Revolution einem geistlichen Orden, aber der jetzige Besitzer, Fürst Metternich, hat alle [83] Klosterspuren verwischen lassen, was mir gerade an diesem Führer der reactionären Cabinetsparthei auffällig war. Diese Herren scheinen auch das Pfaffenthum mehr aus der Perspective zu lieben; die Klöster sind ihnen so eine Art von Volksapotheken für die Krankheit der geistigen Mondsucht.

In Biberich kamen wir noch zeitig genug an, und man war hier so ungemein artig, uns ungeachtet der Anwesenheit des Hofes nicht nur den Garten, sondern sogar das Innere des Schlosses mit Ausnahme der von der herzoglichen Familie bewohnten Zimmer sehen zu lassen. Das Schloß war neu und im geschmackvollsten Styl erbaut, im Innern herrscht gefällige Eleganz, wozu die Verzierungen in einem eigenthümlich schönen Marmor, der im Herzogthume gebrochen wird, sehr viel beitragen. In der Mitte des Gebäudes befindet sich eine kreisförmige Halle, von einer Kuppel überragt, deren Hauptzierde in einer Colonade von Marmor besteht. Die Gartenanlagen sind theils in echt deutschem, theils in englischem, theils in französischem Geschmack, und diese Verschiedenheit giebt ihnen einen ungewöhnlichen Reiz. So sehr wir auch an gute Küche gewöhnt waren, so sehr übertraf doch unsere Abendmahlzeit in Biberich alle unsere Erwartungen, namentlich waren Fische und Wildpret trefflichst zubereitet; der Nachtisch hätte einen Hidalgo befriedigen können. Eine Flasche Johannisberger Blaulack erhöhete als echter Nektar die Mahlzeit zu einem Götterbankett, so daß selbst die reiche und verwöhnte Engländerin vor der deutschen Speisekunst Achtung bekam. Von nun ab sah sie unsere Verhältnisse wirklich mit ehrfurchtsvollen Augen an, denn ein Volk wie die Engländer beurtheilt ein anderes immer zuerst vom materiellen Standpunkte aus. Nun folgte eine von jenen deutschen Sommernächten, wo das Bewußtsein des Lebens schon Genuß ist. Das Licht des Vollmondes spiegelte sich in den grünlichen Fluten des edeln Stromes, Glühwürmer tauchten hier und da auf und wiegten sich üppig auf den vom Westwind bewegten Zweigen, und die Heimchen sangen ihren summenden Chorus. Kurz, alles trug bei, unseren Umgebungen einen zauberischen Charakter zu verleihen, daß wir eine Weile schweigend auf dem Balkon saßen und uns ganz unseren Empfindungen hingaben.

„Ich begreife nicht, unterbrach endlich Miß M. das Schweigen, wie man so lange hat glauben können, die Sterne hätten keinen anderen Zweck als den, unserer Erde zu dienen; denn nichts scheint mir natürlicher [84] als die Meinung, daß sie eben solche bewohnte Weltkörper wie unsere Erde sind.“

„Diese Meinung, entgegnete ich, scheint jetzt freilich sehr natürlich, aber weder wir noch Fontanelle, der unsterbliche Verfasser der Gespräche über die Mehrzahl der Welten, würden zu diesem Begriffe gelangt sein, wenn nicht zuvor Galilei das Fernrohr wesentlich verbessert hätte; und dieser hätte vielleicht nicht sein System der Bewegung der Erde um die Sonne aufgestellt, hätte nicht Copernicus hundert Jahre früher das Ptolomäische System umgestoßen. So hätte auch Columbus ohne die Kenntniß des Compaß die neue Welt nicht entdeckt, und es bedurfte also eines Zeitraums von mehr als zwei Jahrhunderten und der Vereinigung der größten Genies, um diesen Gedanken zu endlicher Geltung zu bringen.“

„Es ist gewiß etwas Schönes um die Wissenschaften, sagte Miß M., aber erstens reicht unsere Vernunft nicht aus, sie zu ergründen, und zweitens genügen sie unserm aufstrebenden Verstande nicht. Die Metaphysik hingegen ergänzt unser unvollkommenes Wissen und stillt die Sehnsucht unserer Seele nach dem Begriff alles Unergründlichen. So finde ich zum Beispiel die Meinung, die Bewohner des Mondes seien sanfte ruhige Wesen mit bleichem Angesicht, ganz im Einklange mit seinem sanften bleichen Lichte, und der Urheber derselben hat vielleicht eben so viel Verdienst wie der des Systems der Anziehungskraft.“

„Wenn der Mond wirklich bewohnt ist, gab ich zur Antwort, so kann er es nur von körperlosen Wesen sein, da er keine Atmosphäre hat und somit des zur physischen Existenz unentbehrlichsten Elementes entbehrt. Indeß können die Hypothesen der Metaphysik doch immer nur unsere Phantasie beschäftigen, wohl auch unsern Geist erheben, aber das Gebiet des Wissens zu erweitern vermögen sie nicht. Daher ziehe ich ein mathematisch erwiesenes Factum vor, und der Attractions-Calcul von Sir Isaac Newton ist mir bedeutend lieber als die erhabensten Muthmaßungen.“

„Die Metaphysik, entgegnete sie, ist nicht weniger consequent und logisch in ihren Folgerungen; so behauptet zum Beispiel die neue Secte der Irviniten, es gäbe drei verschiedene Grade der Seligkeit, was sie mit dem Bibelverse beweisen wollen: Es giebt eine Herrlichkeit der Sonne, eine andere des Mondes und der Sterne. Dem würde der Mangel des Dunstkreises wenigstens nicht im Wege stehen, da ihn die [85] Geister nicht brauchen.[1] Eine andere nicht minder consequente Behauptung ist die, daß die Seelen der Sternbewohner, ehe sie auf unserer Erde einen Körper erhalten, die ewige Ruhe Gottes nach dem Schöpfungswerke und Seelenläuterung darstellen.“

„Muthmaßungen auf andere Muthmaßungen bauen, sagte ich, ist nichts anderes, als Schlösser in die Luft bauen, und der Stifter einer Religion, die solche Gemüthsfaseleien als Dogmen aufstellt, kann nur ein Phantast sein, dessen Tendenz meistens dahin geht, einer speculirenden, herrschsüchtigen Priesterkaste die Mittel ihrer verderblichen Tyrannei in die Hände zu spielen.“

„Was halten Sie aber dann von der Bibel? diese läßt sich doch gar nicht mathematisch beweisen, sondern wird von den Wissenschaften über den Haufen geworfen, ja sie ist eigentlich nichts als ein großer Irrthum aus früheren Jahrtausenden, der nach keiner Richtung die Sonde der freien Kritik verträgt. Irren doch die Apostel, ja Christus selbst in Betreff des sogenannten jüngsten Gerichtes und der Zukunft ihrer neugestifteten Religion, also in den wichtigsten Dingen; die Evangelien wimmeln von Widersprüchen und Lücken, ebenso die Episteln, von denen selbst Ihr Luther den Brief des Jacobus geradezu eine Stroh-Epistel nennt. Die Lehre des alten Testamentes von der Gottheit ist grausam und blutig, Abraham und Jephtha schlachten dem Jehovah ihre eigenen Kinder; die Weissagungen der Propheten von dem ewigen Reiche des Messias sind durch die vollkommenste Vernichtung des jüdischen Staates und Zerstreuung des israelitischen Volkes mehr als widerlegt. Und was nennen wir Religion und Christenthum? Eine künstliche, von den Kirchenversammlungen allmählig aufgebaute Dogmatik, von welcher das neue Testament nichts weiß; vielmehr sagt Christus ausdrücklich, daß die Lehre von der Liebe zu Gott und den Menschen das Hauptstück des alten und neuen Testamentes sei. Die Lehre von dem blutigen Sühnopfer Christi ist offenbar unsittlich.“

„Wir gerathen hier, entgegnete ich nicht ohne Bewegung, auf den Gegenstand meiner tiefsten Verehrung, welche zugleich mein Glück, meine Kraft und meine Seligkeit ausmacht. Ich weiß Alles, was die Rationalisten, Philosophen und Geologen dagegen einwenden, gleichsam dem [86] lieben Gott einen Plan vorschreiben, wie er die Welt hätte schaffen, die Menschheit erlösen und sich seines Herrscheramtes entledigen sollen. Sie fordern, daß Gott ihnen eine buchstäbliche und chronologische Auseinandersetzung seiner unzählichen Wunder, vor denen sich die Cherubim in Ehrfurcht verhüllen, hätte liefern sollen, und weil der Zeitraum, welcher für die Erschaffung der Welt gegeben ist, nicht mit den tausenden von Jahren übereinstimmt, welche sie für die Bildung der verschiedenen Erdkrusten erforderlich halten, so verwerfen sie die Bibel als ein Machwerk der Menschen. Wenn sie aber das alte Testament im Urtext läsen, und diesen mit andern orientalischen Sprachen verglichen, so würden sie finden, daß sie sämmtlich sehr bilderreich und poetisch sind, oft einen Gegenstand für den andern nennen, und daß daher z. B. das Wort Tag oft einen unbestimmten Zeitabschnitt bedeutet, was schon durch den Satz erklärt wird: Tausend Jahre sind vor Gott wie ein Tag. Jede Stelle der Bibel hat zwei Bedeutungen, eine geistige und eine buchstäbliche, welche zu den entgegengesetztesten Folgerungen veranlassen können; die darin enthaltenen Offenbarungen bezwecken keine chronologische Reihenfolge der Dinge in der Vergangenheit, sondern eine der menschlichen Vernunft angemessene Schilderung derselben. Wenn daher die Wissenschaften den historischen Theil der Schrift bekriegen, so erhebt sich der prophetische um so erhabener über die menschliche Kritik, und derjenige, welcher den Schlüssel dazu besitzt, der wird auch für die widersprechendsten Stellen Erklärungen finden. Kurz, ich bin überzeugt, daß der Zweifel an der heiligen Schrift stets aus einer oberflächlichen Kenntniß oder einem mangelhaften Verständniß derselben entsteht. Es ist schön, die Religion mit den Wissenschaften zu vereinigen; wer dieses nicht kann, ist ein sehr beklagenswerther Mensch, verfehlt sein höchstes Vorrecht und wird, wenn die Religion aufgehört hat, die Richtschnur seines Lebens zu sein, bald einem ruderlosen Schiffe gleichen, welches, von den Winden seiner Leidenschaften getrieben, ein Raub der Wellen wird. Und es ist beruhigend, zu wissen, daß die gelehrtesten Menschen stets die frömmsten waren.“

„Die Heftigkeit, erwiederte die Miß, mit der Sie Ihre Sache verfechten, beweist mir schon, daß Sie sich selbst nicht sicher fühlen, wie denn überhaupt kein Mensch in den göttlichen Dingen sicher ist. Sonst würde ja auch nicht der blinde Glaube als Hauptbedingung an die Spitze des ganzen Religionssystems gestellt; ja, im protestantischen Lehrbegriffe [87] ist er geradezu Eines und Alles – Quelle der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, einzige Bedingung der Seligkeit; ohne ihn ist nur Fluch und Elend, Zorn Gottes und Verdammniß. Ihr Ausfall gegen die Rationalisten ist auch nur gut gemeint, und von den sogenannten Cherubim wissen Sie vollends nichts, obwohl Sie thun, als ob Sie Duzbrüderschaft mit ihnen getrunken hätten. Es wird wohl Niemandem leicht mehr einfallen, die Mosaische Schöpfungsgeschichte für wirkliche Historie zu halten, Sie selbst scheinen keine ernste Neigung dazu zu haben. Daß aber unter den sechs Schöpfungstagen so viele Jahrtausende sollten verstanden sein, geht gar nicht an, denn es sind sogar die Bestandtheile dieser Tage mit den Worten angeführt: da ward aus Morgen und Abend der und der Tag. Weil ferner die Bibel so unbestimmt in den wichtigsten Stellen sich ausdrückt, daß man immer zwei und mehr Bedeutungen hineinlegen kann, sind eben so zahllose Ansichten und Secten entstanden, von denen jede sich für die einzig richtige ausgiebt. Der Vernunft angemessen ist übrigens die biblische Offenbarung gar nicht, denn die Vernunft nimmt ja ewig Anstoß daran, und eben darum sollen wir ja die Vernunft „gefangen nehmen.“ Zum prophetischen Theile der Schrift hat noch Niemand den Schlüssel gefunden, denn es ist noch Keinem gelungen, die Richtigkeit der Weissagungen darzuthun, noch weniger aber ist die Prophetie über die Kritik erhaben, im Gegentheil ist sie ihr in neuerer Zeit erst recht verfallen. Was wäre auch eine Weissagung, die sich dem Urtheile entziehen wollte? Wahr ist es allerdings, daß der Sklave seiner Leidenschaften ihnen zum Raube verfällt, aber ich habe nicht gefunden, daß die Religion, die formelle Religion, von ihnen befreie, im Gegentheile haben sie unter dem Kreuz und der Kutte stets am wildesten gerast. Die bigottesten Menschen sind die leidenschaftlichsten, nur die Philosophie beruhigt das Herz. Aber, meine Gute, im stärksten Irrthume befinden Sie sich, wenn Sie den kritischen Zweifel auf die Quelle oberflächlicher Kenntnisse und mangelhaften Verständnisses zurück leiten wollen; vielmehr ist die kritische Forschung mit dem Wiedererwachen und Fortschreiten der Wissenschaften auf’s innigste verbunden. Wenn schließlich in Ihrer Sprache fromm mit orthodox gleichbedeutend ist, so bleibt auch Ihre letzte Behauptung nicht stichhaltig, denn die gelehrtesten Menschen waren keineswegs immer die frömmsten; aber noch viel weniger waren die frömmsten immer die gelehrtesten.“

[88] Ich wollte eben etwas gereizt antworten, als Miß M. das Gespräch wohlweislich auf naturwissenschaftliche Gegenstände lenkte.

„Was halten Sie für die Ursache der Erscheinung, daß die Sonne ihre Stellung unserer Erde gegenüber fortwährend verändert?“ fragte sie plötzlich mit einer raschen Gedankenwendung, die mich jedoch nicht unvorbereitet fand, denn ich antwortete ebenso rasch zu ihrem sichtlichen Staunen folgendermaßen: „Die Ursache der Veränderung in der Stellung der Sonne zu unserer Erde besteht darin, daß die Sonne zwei Bewegungen hat, und zwar eine um ihre eigene Achse, welche sie in 26 Tagen vollbringt, während ihre zweite innerhalb des Planeten-Systems eine weit kürzere ist als die unserer Erde, weshalb sie immer weiter östlich in die Zeichen des Thierkreises rückt. Das ist die Ursache, warum sie sich zur Zeit der Nachtgleichen nicht mehr im ersten Grade des Widders und der Waage, wie auf der Ptolomäischen Himmelskugel zu Rom angegeben ist, sondern ziemlich weit in den Zeichen des Stieres und Skorpions befindet. Da nun die Bewegung aller Planeten von Westen nach Osten geht und diese nicht gleichzeitig mit der Sonne ihre Bahn vollenden, so haben alle Wendepunkte, wie der Pol, die Tag- und Nachtgleichen, die Sommer- und Winterwenden eine rückgängige Bewegung, weshalb auch die unbeweglichen Sterne immer mehr östlich unserer Erde gegenüber erscheinen. Daher kommt es, daß alle Constellationen ihre Plätze, welche ihnen von den alten Astronomen angewiesen waren, verändert haben; Sirius oder Canicula ist daher nicht mehr der Herold unerträglicher Hitze wie zur Zeit des Hippokrates und Plinius, die uns erzählen, daß zur Zeit seines Erscheinens das Meer siede, sondern kühler Morgen und Abende, und in fünf- oder sechstausend Jahren wird er der Vorbote des Frostes sein. Dieses ist die Ursache der fortwährenden Veränderung der Stellung der Himmelskörper einander gegenüber, was mit Beziehung auf unsere Erde und ihre Stellung zur Sonne speziell in 71 Jahren 19 Tagen und 12 Stunden einen Grad beträgt, und durch den ganzen Thierkreis 25,791 Jahre.“

Am nächsten Morgen reisten wir über Mainz nach Frankfurt a. M. Wir bemühten uns, den Rhein so lange als möglich im Auge zu behalten, und als er endlich doch verschwand, riefen wir ihm einen wehmüthigen Abschiedsgruß zu. Dieser schönste aller Ströme bezaubert das Herz wie das Auge, wir können uns nur mit Wehmuth von ihm trennen, [89] und das Gelüste der Franzen nach diesem deutschen Juwel, dem grünen Diamanten in Germaniens Krone, mußte jeden deutschen Mann zum Kampfe herausfordern. – Von Mainz aus wird die Gegend immer flacher und uninteressanter, jedoch labt sie das Auge durch ihre Fruchtbarkeit und Freundlichkeit, und die unzähligen Wagen voll Reisender, die Alle das herrliche deutsche Rheinland zu sehen kamen, erfüllte mein Herz mit stolzer Freude. – Da Miß M. dem Postillon für jede Station zwei Thaler Trinkgeld geben ließ, so glaubte jeder seinen Eifer durch möglichst schnelles Fahren bethätigen zu müssen, was zu einem lächerlichen Mißverständnisse Veranlassung gab. Einer der Postillone nämlich wendete sich an Frau H. mit der Frage, welche von den beiden Damen eigentlich auskratze? Wir waren darüber sehr belustigt und fragten ihn, was ihn zu seiner Vermuthung Anlaß gegeben habe? worauf er erwiederte, er habe schon mehrere englische Damen gefahren, die ihren Männern entlaufen seien, und erst kürzlich eine, welcher der Mann auf dem Fuße gefolgt sei; da wir nun so honett zahlten, habe er uns auch für „Ausreißer“ gehalten.

Auf allen Feldern längst der Landstraße war man mit der Ernte beschäftigt, und Fräulein M. bemerkte, daß das Volk in Deutschland sich weit fröhlicher als in England zeige, was von allen Reisenden bestätigt wird. Der deutlichste Beweis von der Gemüthlichkeit des deutschen Volkes.



  1. Die neuesten Astronomen schreiben übrigens dem Monde eine Atmosphäre mit eigenthümlich organisirten Bewohnern zu.