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und seine Meisterwerke studirt; er gab sich mit Entzücken der Hoffnung hin, ihnen mit Erfolg nachzueifern; der König hatte ihn würdig befunden, ihn im nächsten Winterhalbjahr auf Kosten der Civilliste nach Griechenland zu schicken. Brauchte es mehr, mich mein Schicksal vergessen zu lassen?

Es waren einige Wochen verstrichen, als Fräulein J., die englische Gouvernante, mit den anderen Kindern und dem Dienstpersonal von Brighthon ankam, eine Dame von etwa fünfundzwanzig Jahren, ziemlich schön, von ausgezeichneten Formen. Milady empfing sie freundlich und herzlich, aber in der würdevollen Haltung und kalten Höflichkeit der Ersteren lag so viel imposante Selbstachtung, daß es schien, als dulde sie jene mehr als daß sie sie achte oder gar verehre, und es bedurfte keines besonderen Scharfsinnes, um zu schließen, daß Fräulein J.’s Stellung der Herrin gegenüber vollkommen gesichert sei.

Die Kinder achteten und fürchteten die Gouvernante so sehr, daß sie vor einem strafenden Blicke zitterten, während sie ein freundlicher zu beglücken schien. Anfänglich standen wir uns ziemlich verschlossen gegenüber, später wurden wir Freundinnen.

Jeden Morgen nach dem Frühstück holte Frau M. Georgiana und Charlotte zu ihrer Mama, und es vergingen wenig Tage, an denen sie nicht bis auf’s Blut geschlagen wurden. Miß J. und ich hörten ihr Angstgeschrei, welches uns das Herz zerriß, ohne daß wir ihnen helfen konnten. Auch der zweite Knabe, Georg, ward dieses Vergehens geziehen und mit derselben Grausamkeit behandelt. Nur Lavinia, die Aelteste, ein Mädchen von dreizehn Jahren, wurde nie zu ihrer Mama gerufen und daher nie geschlagen. Als ich gegen diese einst meine Freude äußerte, daß Lavinia von dem Fehler frei sei, sagte sie: „Ach, sie ist so schlimm wie die anderen, aber sie ist zu häßlich, als daß ich mir die Mühe mit ihr nehmen sollte.“ – Lavinia, welche die Schönheit ihrer Schwestern mit derartigen Vortheilen bevorzugt sah, schien eine heile Haut als hinlänglichen Ersatz für dieselbe zu betrachten und tröstete sich vollkommen über die Verbannung aus ihrer Mutter Gegenwart. Sie hatte das beste Herz und den liebenswürdigsten Charakter unter den drei Schwestern. Früher hatten die Kinder im Verhöre vorgegeben, daß sie ihre Unart in Miß J.’s Gegenwart begangen hätten, allein da diese sie nie dabei ertappt hatte, so wurden die armen Geschöpfe noch besonders wegen Lüge bestraft. Jetzt spielte ich in ihren Aussagen die