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Autor: W. Belka
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Titel: Das Tagebuch des Steuermanns
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Erscheinungsdatum: 1919
Verlag: Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.
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Erscheinungsort: Berlin
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Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung: Ein utopischer Abenteuerromanzyklus, welcher die Bändchen 105–110 umfaßt.
Band 105 der Romanreihe Erlebnisse einsamer Menschen.
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[I]
Band 105 Erlebnisse einsamer Menschen Preis 20 Pf.
Band 105 Erlebnisse einsamer Menschen Preis 20 Pf.


Das Tagebuch des Steuermanns.
„Ich winkte ihnen höhnisch zu …“


[1]
Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26, (1919.)


Das Tagebuch des Steuermanns.
Von
W. Belka.


1. Kapitel.
Fälschlich angeschuldigt.

Herr Ernst Mulack, Inhaber des größten Kolonialwarengeschäftes des Hafenstädtchens, hatte soeben den jüngsten Stift, der erst vor drei Wochen eingetreten war, in sein Privatkontor gerufen.

Heinrich Wend, ein überschlanker, blasser Knabe von etwa fünfzehn Jahren, stand nun vor seinem Chef mit demselben halb ängstlichen, halb verstockten Gesichtsausdruck, der ihm zumeist eigen war und der vielen Menschen von dem Charakter des angehenden Kaufmanns ein ganz falsches Bild gab.

Der dicke Herr Mulack hatte seine Stirn in drohende Falten gelegt und begann jetzt mit erhobener Stimme, deren Klang den angeblichen Missetäter von vornherein einschüchtern sollte:

„Du bist vor vier Wochen eingesegnet worden, Heinrich,“ sagte er und blickte seinen jüngsten Stift durchbohrend an. „Die Bibelsprüche werden Dir also wohl noch geläufig sein. Nenne mir einen, der von der Ehrlichkeit handelt.“

Heinrich Wends große, blaue Germanenaugen, die er von der Mutter geerbt hatte, spiegelten deutlich das Erstaunen über diese Aufforderung wider. Dann [2] entgegnete er nach einer Weile offenbar angestrengten Nachdenkens: „Mir fällt keiner ein.“ Das klang genau so zögernd und unsicher wie alles, was der verschüchterte Junge sagte. Viel sprach er ja überhaupt nicht. Im Hause seines Onkels, wo er nach dem Tode seiner Eltern Aufnahme gefunden hatte, durfte er nur reden, wenn das Wort an ihn gerichtet wurde.

Herr Mulack räusperte sich. „So, so, – nichts über die Ehrlichkeit, – so – so!! Sehr, sehr bezeichnend! – Junge, wenn ich nicht auf Deinen wackeren Oheim, den Herrn Steuermann August Wend, Rücksicht nehmen würde, stände jetzt hier einer unserer Stadtpolizisten, um Dich gleich nach der Wache zu führen.“ Kurze Pause. Dann: „Heinrich, Du hast den Weg betreten, der zur Verdammnis hinabgeht – in den Abgrund des Lasters und Verbrechens! Du hast aus der Kasse gestern sechs Fünfzigmarkscheine entwendet. Du glaubtest allein im Laden zu sein. Aber Willi Polk hat Dich beobachtet, hat auch gesehen, wo Du einen der Scheine verbargst – unter dem einen Sack Salz im Keller! Dort habe ich die Banknote gefunden. Wo – wo sind die anderen? Heraus damit, Junge! Dir soll nichts geschehen, wenn –“

Heinrich war so bleich geworden, daß sein Chef jetzt plötzlich innehielt, da er fürchtete, der Knabe würde ohnmächtig werden. Er täuschte sich jedoch. Heinrich hatte den ersten furchtbaren Schreck schnell überwunden, rief jetzt mit völlig verändertem Gesichtsausdruck und vor Empörung flammenden Augen: „Ich – ich soll gestohlen haben! Und – Willi Polk will gesehen haben, daß – Oh – der – der schlechte, heimtückische Bursche! Alles ist gelogen, Herr Mulack, das schwöre ich beim Andenken meiner geliebten Eltern! Gestern früh bemerkte ich – so verhält sich die Sache! – wie Willi heimlich[1] zwei Tafeln Schokolade zu sich steckte. Ich hielt ihm dies vor, verlangte, er solle sie wieder zurücklegen und erklärte dazu, ich müßte Ihnen, Herr Mulack, davon Meldung erstatten, da zu leicht der Verdacht des Diebstahls auf mich fallen könnte. Willi zog darauf Geld aus der Tasche, bezahlte [3] damit die beiden Tafeln, indem er es in die Kasse tat und fuhr mich grob an, weil ich ihn grundlos verdächtigt hätte. Er hat mich nie leiden mögen, der Willi und jetzt wird er aus Haß und Rachsucht –“

Da hob Herr Ernst Mulack wie beschwörend die Hand und fiel seinem Lehrling ins Wort: „Mißratener Junge, wie darfst Du es wagen, in so raffinierter Weise Deinen Kameraden anzuschwärzen! Ich sehe jetzt, wie verderbt Du bist. Keine Minute länger dulde ich Dich hier in meinem Hause. – Hinaus mit Dir! Das weitere wird sich finden! Ich werde sofort zu Deinem Onkel kommen und ihm mitteilen, weshalb –“

Die Klingel des Tischtelephons rasselte. Herr Mulack schwieg, griff nach dem Hörer, sagte gleich darauf in kühl-höflichem Tone: „Guten Morgen, Herr Seiffert. – Ah – nach dem Knaben wollen Sie sich erkundigen? Wie er sich hier als Lehrling macht? – Ich weiß, Sie haben eine Vorliebe für ihn, ja, ja. Nun, leider muß ich Ihnen erklären, daß –“ Es folgte genau das, was Herr Mulack seinem jüngsten Stift soeben vorgehalten hatte. Dann schien Herr Seiffert am anderen Ende der Leitung allerlei Zweifel an der Wahrheit dieser für Henrich so beschämenden Anklage zu äußern, denn der Chef der Firma rief nun in den Hörer hinein:

„Es ist so – daran läßt sich nichts ändern! Übrigens habe ich gerade viel zu tun. Daher Schluß.“

Als Ernst Mulack jetzt aufschaute, war Heinrich verschwunden. Er hatte lautlos das Gemach verlassen,[2] war auch im Geschäft nicht mehr aufzufinden, also wohl getrieben vom schlechten Gewissen, irgendwohin geeilt, vielleicht nach dem Hafenviertel, das er in jeder freien Stunde aufsuchte, um am Bollwerk zu sitzen und den lebhaften Schiffsverkehr zu beobachten, dieser verstockte Träumer, dieser wortkarge, unfreundliche Nichtsnutz. So dachte Herr Mulack. Und nahm Hut und Stock und machte sich auf den Weg zum Herrn Steuermann August Wend, der draußen in der Vorstadt [4] dicht am Hafenkanal ein kleines Häuschen zusammen mit einer mürrischen, halbtauben, alten Wirtschafterin bewohnte und nur eine Leidenschaft außer seiner Tabakpfeife kannte: seine Rosenzucht.

Der Steuermann war nicht gerade beliebt in der Stadt, obwohl er hier aufgewachsen und auch viele Bekannte von früher her hatte, denen er aber stets aus dem Wege ging. Er wollte offenbar einsam bleiben. Das hatte jeder gemerkt, als August Wend vor fünf Jahren seinen Seemannsberuf aufgab und den kleinen Rentner zu spielen begann. Damals hatten Heinrichs Eltern noch gelebt, waren jedoch bereits ein halbes Jahr später einer schweren Epidemie zum Opfer gefallen, ohne ihrem zweiten Sohne – der um sechs Jahre ältere war als Schiffsjunge verschollen – so viel zu hinterlassen, daß er das Gymnasium weiterbesuchen konnte. So war Heinrich denn in das Haus seines einzigen Oheims väterlicherseits gekommen. Und von da an begann jene Leidenszeit für den früher so heiteren und sorglosen Knaben, die in ihrer ganzen Schwere den meisten Bürgern der Stadt verborgen blieb, weil August Wend es nur zu gut verstand, stets den fürsorglichen, liebenden Onkel herauszukehren, wobei ihn die alte Kathrin, seine Haushälterin, recht geschickt trotz ihrer Schwerhörigkeit zu unterstützen wußte.

Nein – der Steuermann erfreute sich keiner großen Beliebtheit bei den Heilmündern. – Wir wollen die kleine, lebhafte Hafenstadt hier Heilmünde nennen und an die Ostsee verlegen. – Man munkelte im Städtchen sogar allerlei über August Wend, hütete sich aber, diese Gerüchte an sein Ohr gelangen zu lassen, da er schon seinem Äußeren nach ein Mann war, dem man besser aus dem Wege ging: groß, breitschultrig, Hände wie Bärenpranken, Augen, die unter dicken Brauen tief im Kopfe lagen und stets einen halb forschenden, halb katzenfreundlichen Blick hatten, während die Mund- und Kinnpartie dieses Menschen wieder von brutaler Selbstsucht, Grausamkeit und eisernem Willen sprachen.

[5] Als Herr Ernst Mulack, schwitzend in der warmen Maisonne wie im Dampfbade, das Häuschen am Hafenkanal erreichte, kam ihm die alte Kathrin im Vorgarten entgegengelaufen. Sie war ganz verstört und berichtete, ihr Herr sei soeben von der Leiter gestürzt beim Beschneiden eines Obstbaumes. Da erbot der Besucher sich sofort, einen Arzt zu holen. Dieser stellte dann eine schwere Gehirnerschütterung fest und wiegte sehr bedenklich den Kopf hin und her, zumal der Verunglückte durch keinerlei Mittel ins Bewußtsein zurückzurufen war.

Der Chef der Firma Mulack mußte sich also damit begnügen, die Wirtschafterin von der schweren Verfehlung Heinrichs zu unterrichten. Katharina Moltz schlug entsetzt die Hände zusammen und kreischte: „Er wird am Galgen enden, der böse Bube!“

Dies rief sie im Hausflur bei halb offener Tür, durch die vom Vorgarten her die freundliche, weiße Sonne einen breiten Schein in das Halbdunkel warf, in dem Ernst Mulack und die Kathrin standen. Und durch diese selbe Tür trat in demselben Augenblick Herr Werner Seiffert ein, gefolgt von Heinrich Wend, dem angeblichen Diebe.

Nach kurzer Begrüßung sagte Herr Seiffert, ein magerer, mittelgroßer Mann mit bartlosem, kühn geschnittenem Gesicht, in dem ein Paar stahlgraue Augen mit sehr langen Wimpern und eine schmale, große Hakennase besonders auffielen: „Es freut mich, daß ich Sie hier noch[3] antreffe, Herr Mulack. Heinrich war nach der Unterredung mit Ihnen sofort zu mir geeilt. Sie wissen, daß er mein kleiner Freund ist, dem ich stets beistehen werde. Willi Polk ist der Dieb, hat auch bereits alles eingestanden, sogar die Banknoten herausgegeben. Ich komme nämlich gerade aus Ihrem Geschäft, wo ich in fünf Minuten den wahren Spitzbuben überführt habe. Sie sind ein schlechter Menschenkenner, verehrter Herr Mulack. Sie urteilen lediglich nach dem Schein. Weil dieser arme Junge hier in diesem Hause des Unheils durch falsche Behandlung, durch Lieblosigkeit, Härte und Ungerechtigkeit [6] verbittert worden ist, hielten Sie ihn für unaufrichtig, undankbar und verstockt, während Sie den aalglatten, zungengewandten Willi Polk als ein Muster eines braven Kaufmannslehrlings stets hinstellten. Es ist Zeit, daß hier in diesem Hause, was meinen kleinen Freund betrifft, einmal Wandel geschaffen wird. Leider muß ich ja nun die große Aussprache mit Herrn August Wend auf eine gelegenere Stunde verschieben, werde aber Heinrich jedenfalls fürs erste mit zu mir nehmen, da er hier jetzt doch nur im Wege sein dürfte.“ Er hatte absichtlich so laut gesprochen, daß auch die alte Kathrin jedes Wort verstehen konnte, um deren dünne Lippen jetzt ein böses Lächeln spielte, als sie schrill und überhastet hervorstieß: „Heinrich bleibt hier! Bei Ihnen, dem der Herr Steuermann das Haus verboten hat, würde der Tunichtgut nur noch mehr Unfug hinzulernen, Sie – Sie – Schnüffler, Sie – Sie –“

Unter Werner Seifferts zwingendem Blick begann das keifende, erboste Weib zu stottern und schwieg dann vollständig.

Da mischte sich Herr Mulack mit der ironischen Bemerkung ein: „Was Sie sagen! Sie haben den Willi überführt?! Da bin ich wirklich gespannt, wie Sie dieses Kunststück –“

„Herr, lassen Sie diesen Ton gefälligst,“ fiel ihm Seiffert schneidend ins Wort. „Willi Polk hat mir angeben müssen, von wo er beobachtet haben wollte, wie Heinrich den einen Schein unter dem Salzsack versteckte. Er zögerte mit der Antwort, nannte dann einen Standort, den er sehr unglücklich in der Hast der von mir verlangten Aufklärung gewählt hatte. Ich konnte ihm nämlich nachweisen, daß er von da aus gar nicht hätte sehen können, was Heinrich bei dem Salzsack tat. Er wurde daraufhin verwirrt, verwickelte sich noch in andere Widersprüche und legte schließlich ein Geständnis ab. Sie dürften wohl schon davon gehört haben, Herr Mulack, daß ich über viele Menschen eine Macht besitze, die schlechten Charakteren unheimlich ist. Auch Willi Polk konnte sich dem Einfluß [7] meiner strengen Augen, meiner Menschenkenntnis und meiner ihn bloßstellenden Fragen nicht entziehen.“ Nach kurzer Pause fuhr Werner Seiffert sich nun an die giftige Kathrin wendend fort: „Heinrich wird so lange mein Gast sein, bis sein Onkel wiederhergestellt ist. Dabei bleibt’s.“

Dann reichte Seiffert dem Knaben die Hand. „Auf Wiedersehen, mein Junge! Packe schnell Deine Sachen und finde Dich dann bei mir ein.“ Er beugte sich nun ganz tief zu Heinrich herab, flüsterte ihm zu: „Und vergiß nicht das Geheimfach –!“

Darauf ging er von dannen, ohne Mulack oder die Kathrin noch eines Blickes zu würdigen.




2. Kapitel.
Die Insel im Hafen.

Die Wirtschafterin hatte alle Hände voll zu tun, so daß sie sich um Heinrich nicht weiter kümmern konnte. Er hatte seine wenigen Bücher, Kleidungsstücke und Andenken an seine Eltern bald in einen alten Lederkoffer seines Vaters hineingetan überzeugte sich jetzt, daß die Kathrin zusammen mit der inzwischen vom Arzt geschickten Pflegerin um den Schwerkranken beschäftigt war und eilte nun in das Arbeitszimmer seines Onkels, wie dieser das größte Gemach des Häuschens stets bezeichnete, weil hier ein uralter, reichgeschnitzter Schreibtisch, ein Bücherregal und auf Wandbrettern auch all die Andenken standen, die der Steuermann aus fremden Ländern mitheimgebracht hatte.

Heinrich schloß sich in diesem Zimmer vorsichtshalber ein und öffnete dann ein in dem Schreibtisch vorhandenes Geheimfach, dem er ein mit Bindfaden verschnürtes Päckchen entnahm.

Morgens gegen neun Uhr hatte Herr Ernst Mulack seinen jüngsten Stift ohne nähere Nachprüfung der Sachlage des Diebstahls beschuldigt, und mittags gegen zwölf Uhr ließ Heinrich sich durch ein Ruderboot [8] nach der kleinen Insel übersetzen, die mitten in einer seeartigen Ausbuchtung des Hafens lag und die Werner Seiffert von der Stadt als der Eigentümerin seit Jahren gepachtet hatte. Das kleine Eiland, allgemein Eicheninsel genannt, da dieser echt deutsche Baum einen dichten Ring um das Innere des Inselchens bildete, war am Ufer durch einen sehr hohen und sehr engen Stacheldrahtzaun gegen jedermann abgesperrt. Nur eine einzige Anlegestelle gabs, die aber gleichfalls in ähnlicher Weise gegen unberufene Besucher geschützt war. Hier hauste also Werner Seiffert, seines Zeichens Chemiker, seit etwa zehn Jahren in völliger Einsamkeit und Abgeschlossenheit. Ein Blockhaus und einige Nebengebäude erhoben sich an einer schmalen Wasserzunge, die sich fast bis zum Mittelpunkt des Eilandes hineinerstreckte. Das bescheidene, aber geräumige Heim des Einsiedlers der Eicheninsel war in Zeit, als man sich in der Stadt noch lebhaft mit dem von Berlin aus zugezogenen Chemiker beschäftigt und über den Grund dieser seiner selbstgewollten Weltabgeschiedenheit die abenteuerlichsten Vermutungen ausgestellt hatte, der Gegenstand neugierigen Interesses der halben Einwohnerschaft gewesen. Mit der Zeit gewöhnte man sich aber daran, in dem Chemiker lediglich einen harmlosen Sonderling zu sehen, der auf der Insel ungestört seine Studien betreiben und nebenbei sich als Landwirt in bescheidenstem Maße betätigen wollte. Werner Seiffert hatte zudem die braven Heilmünder dadurch für sich einzunehmen gewußt, daß er der Stadt eine beträchtliche Summe für wohltätige Zwecke stiftete. Gelegentlich trat er auch bei diesem oder jenem Anlaß als Helfer aller Bedrängten in die Öffentlichkeit, so daß er sich in der Bevölkerung allgemeiner Achtung erfreute, obwohl ihn sonst niemand genauer kannte. Er lebte eben ganz still für sich auf seinem kleinen Eiland, besorgte sämtliche Hausarbeiten selbst und ließ nur an jedem Sonnabend durch eine einfache, ehrliche Frau seine Zimmer gründlich säubern.

Des Chemikers Bekanntschaft mit Heinrich Wend [9] hatte ein Zufall vermittelt. Rohe Burschen hatten an einer entlegenen Stelle des Hafens einen jungen, kranken, herrenlosen Hund ins Wasser geworfen und suchten ihn durch Steinwürfe zu töten. Da war Heinrich gerade des Weges gekommen, hatte den herzlosen Tierquälern in höchster Empörung das Schändliche ihres Tuns vorgehalten und wäre darauf von der Horde beinahe jämmerlich verprügelt worden, wenn nicht Werner Seiffert noch zur rechten Zeit, von ungefähr in seinem winzigen Motorboot sich jener Uferstelle nähernd, sich eingemischt und Knaben und Hund in seinem Fahrzeug geborgen hätte. Der Hund, den der Chemiker Montag taufte, da er an diesem Tage in seinen Besitz gelangt war, hing mit rührender Treue an seinem Herrn, hatte sich inzwischen zu einem prächtigen, starkknochigen Dobermann entwickelt und teilte die Einsamkeit seines Gebieters zusammen mit einem Dutzend Hühner, einer Ziege, einem fetten Borstentier und mehreren Enten und Gänsen. – Der Knabe aber, der Montag mit das Leben gerettet hatte, wurde bald des Einsiedlers einziger Freund und häufiger Gast. Diese Freundschaft hatte der Steuermann, kaum daß er davon erfahren, dem Knaben sofort aufs strengste untersagt. Weshalb, wußte Heinrich nicht, merkte nur, daß sein Onkel den Einsamen von der Eicheninsel mit heimlichem Hasse verfolgte. Trotz des ausdrücklichen Befehls seines Oheims und Vormundes hatte der Knabe jedoch jede Gelegenheit wahrgenommen, Seiffert zu besuchen, der den Jungen herzlich liebte und so gut es ging, ihn gegen die brutale Willkür August Wends schützte. Gerade hierdurch mußte der unbegreifliche Haß des Steuermanns notwendig immer neue Nahrung erhalten.

Die Freundschaft zwischen Seiffert und Heinrich währte etwa zwei Jahre, als die Ereignisse eintraten, die vorstehend geschildert sind. –

Das von einem alten Matrosen geruderte Boot legte an einer durch eine Stacheldrahttür versperrten Steintreppe an, neben der sich ein Klingelzug befand. Heinrich setzte diesen in Bewegung. Es vergingen jedoch [10] noch einige Minuten, bevor von dem Blockhause her sich der Chemiker näherte und dann seinen Gast nach herzlicher Begrüßung in das für Heinrich bestimmte Zimmer führte. Während der Junge hier seine wenigen Habseligkeiten in einen großen Schrank aus Fichtenholz einräumte, tat Seiffert mit einer gewissen Spannung, die er durchaus nicht zu verhehlen suchte, jene Frage, deren Beantwortung für ihn von so besonderer Wichtigkeit war. – „Hast Du die Papiere mitgebracht, kleiner Freund?“ sagte er, indem er das „die“ stärker betonte.

Heinrich nickte eifrig. „Gewiß, Herr Seiffert, gewiß. Ich vergaß es nur zu erwähnen.“

Der Chemiker wog das Päckchen nachdenklich in der Hand. „Wir wollen uns nochmals klar machen,“ meinte er langsam, „daß wir mit der Durchsicht dieser Schriftstücke, die wir uns heimlich verschafft haben, etwas tun, das gegen die gute Sitte und die Moral verstößt. Wenn ich nicht so überaus schwerwiegende Gründe für diesen Eingriff in fremdes Eigentum gehabt hätte, wäre ich niemals auf den Gedanken gekommen, Dich zur zeitweiligen Entwendung dieses Päckchens zu bestimmen, nachdem Du mir bereits vor einem Jahre anvertraut hattest, daß Dein Onkel sehr häufig in stillen Nachtstunden gerade diese Aufzeichnungen immer wieder aus ihrem Versteck hervorholte und durchsah, wobei er leise Selbstgespräche führte, von denen Du immerhin einiges verstehen konntest. Und gerade diese halblauten Reden des Steuermanns enthielten so seltsame Andeutungen, daß ich aufmerksam wurde, als Du mir gelegentlich davon erzähltest. – Ja – so war’s, und so ist es gekommen, daß wir beide, die wir doch sonst kaum Unrechtes begehen würden, etwas getan haben, das nur deshalb zu entschuldigen sein dürfte, weil wir dadurch ein paar Unglückliche zu retten hoffen. – Setz’ Dich dort in die Sofaecke, kleiner Freund, derweil ich hier am Tische das Päckchen näher untersuche. Ich werde Dir das Wichtigste aus dem Inhalte der Aufzeichnungen und sonstigen Papiere bei jedem einzelnen Stück gleich mitteilen[4].“




[11]
3. Kapitel.
Das Tagebuch.

Der Chemiker löste den starken, aber bereits recht abgegriffenen Bindfaden, und die bis dahin eng zusammengepreßten Blätter dehnten sich und glitten flach nach einer Seite hin.

„Hier sind zunächst drei blaugraue Briefumschläge,“ begann er den Inhalt des Päckchens nach kurzer Einsichtnahme zu erläutern. „Sie enthalten die Personalpapiere: 1. eines Matrosen namens Jakob Jakobsen aus Flensburg, 2. eines zweiten Matrosen Georg Schulk aus Bremen, und 3. – ja – was sehe ich! Heinrich, Heinrich, denk’ Dir, diese Papiere hier in dem dritten Umschlage sind die Deines verschollenen Bruders –“

Der Knabe war aus seiner Sofaecke förmlich hochgefahren. „Karls Papiere?! Unmöglich!“ rief er. „Mein Bruder ist ja mit der Najade im Golf von Sumbawa untergegangen, wo man als letztes Lebenszeichen dieses neuen, schnellen Frachtdampfers eines seiner Rettungsboote halb zertrümmert am Strande aufgefunden hat. Wie also sollten meines älteren und einzigen Bruders –“

„Und doch ist es so.“ unterbrach ihn Werner Seiffert mit Nachdruck. „Die Erklärung aber, wie Dein Oheim in den Besitz dieser Heuerbücher, Geburtsurkunden und so weiter gelangt ist, dürfte uns diese anscheinend tagebuchartige Niederschrift geben, die den Steuermann zum Verfasser hat, was ich an der Handschrift erkenne. – Ich werde vorlesen, unwichtiges aber nur überfliegen! –“


„An Bord der Najade. 2. Juli 1895.     

Obwohl es stets eine mißliche Sache ist, so etwas wie ein Tagebuch zu führen, treibt mich doch ein unbezwinglicher Wunsch dazu, meine Gedanken und Pläne zu Papier zu bringen. Schließlich brauche ich die beschriebenen Blätter ja auch nur in dem Geheimfach meiner Schiffskiste zu verbergen! Dort entdeckt [12] sie niemand, denn das Geheimfach habe ich selbst angelegt und dazu so geschickt, daß niemand es auffinden wird – höchstens durch einen Zufall. Und derlei Zufälle sind selten. Mit ihnen braucht man nicht zu rechnen. –

Es war nicht ganz leicht, auf der im Hafen von Valparaiso liegenden Najade noch unterzukommen. Die Besatzung des schönen Dampfers war vollzählig, bis – ja bis eines Abends der zweite Steuermann nach einer langen Kneiperei im Hafenviertel genau am Abend vor der Ausreise verschwand. Ich habe diese Geschichte sehr fein eingefädelt. Es hat sicher eine halbe Woche gedauert, ehe der Trunkene in jener Spelunke richtig wieder zur Besinnung kam. Inzwischen hatte ich seinen Posten eingenommen, und jetzt – jetzt schwimmt die Najade mit ihrer kostbaren Ladung längst auf hoher See!

Ja – es glückte mir tadellos, auf diese Weise auch mit meinem Herrn Neffen auf demselben Schiff – und gerade auf diesem Dampfer – zusammen zu treffen. Karl machte ein sehr erstauntes, aber nicht gerade erfreutes Gesicht, als ich auf ihn zutrat. Er weiß ja, wie wenig herzlich die Beziehungen zwischen mir und seinen Eltern, insbesondere seinem Vater sind. Dieser verknöcherte Beamte, dieses wandelnde Pflichtgefühl und diese lächerliche Arbeitsbiene, hatte ja stets an mir etwas auszusetzen. Seiner Meinung nach besitze ich – „wenig gefestigte Moralbegriffe“! Lächerlich! Es gibt nur eine Richtschnur des Handelns für einen vernünftigen Menschen: den eigenen Vorteil wahrzunehmen! – Geld ist Macht! Diesen Götzen beten alle an – alle! Auch ich will reich werden – so reich, daß man mich beneidet, daß ich mir alle Wünsche erfüllen und Einfluß gewinnen kann. – Geldgier und Ehrgeiz! – Wozu soll ich’s leugnen, daß diese beiden Charaktereigenschaften mich ganz beherrschen und daß mir jedes Mittel recht dünkt, zu Geld und Ansehen zu gelangen. Auf dem gewöhnlichen Wege erwirbt man keine Reichtümer. Ich habe jahrelang gespart, gedarbt und kleine Geschäfte gemacht, [13] zwar gewinnbringend, aber doch zu winzig für den Grundstock zu Millionen. Stets habe ich auf die Gelegenheit gelauert, einmal eine ganz große Sache – ins Trockendock bringen zu können. Nun endlich – endlich die Najade. Ich preise den Zufall, der mich gerade in Valparaiso anwesend sein ließ, als der prächtige Seedampfer am Kai lag. Und: gleich zwei Fliegen mit einer Klappe! Karl, mein Herr Neffe, an Bord! Das hieß wirklich einmal Glück haben! Die Ersparnisse meines so überaus tüchtigen, ebenso geizigen und einseitigen Herrn Bruders werden mir zufallen! – Nachher bleibt ja nur noch der jüngste oder besser jüngere Nichtsnutz übrig, der Heinrich, dem ich auch gern eine Leiter zum Himmel hinauf bauen will! –

Die Najade hat als Ladung Felle, indianische Webereien und – Gold in Barren an Bord, das wie man sich erzählt, gegen vier Millionen wert sein soll. Unser Kapitän schweigt sich über dieses Gold aus, behauptet auch mir gegenüber, die Kisten enthielten Kupfer in Barren. Ich weiß es besser! Das Gold geht nach Sydney an die Australische Bank. – Soll gehen, soll! Es wird mein werden. Über das „Wie“ bin ich mir schon im klaren. Aber: ich muß vorsichtig sein! Es ist doch ein sehr gewagtes Spiel, das ich vorhabe!

Gestern mittag, als wir die einsamen Juan-Fernandez-Inseln passierten, auf deren einer der berühmte Robinson gehaust haben soll, kam mir der Gedanke, wie ich die Besatzung der Najade, besser den Rest davon später sicher unterbringen kann. – Die Gläschen mit den Reinkulturen des Gelbfieberbazillus liegen in meinem Geheimfach. Ich werde sie benutzen, sobald der richtige Zeitpunkt[5] da ist. Mir selbst wird das tödliche Fieber nichts anhaben. Ich bin dagegen gefeit, da ich erst vor einem halben Jahr einen schweren Anfall glücklich überstanden habe. –

Acht Tage später. Die Samoa-Gruppe liegt hinter uns. Jetzt laufen wir nur noch den Hafen von Levuka auf den Fidschi-Inseln an und nehmen dann [14] direkten Kurs auf Sydney. –

Ich habe wirklich Glück. Drei Tage lang hat uns ein Taifun böse zugesetzt und vier Mann über die Reling gespült. Schade – es hätten auch mehr sein können! Dann hätte ich das Gelbfieber weniger heftig auftreten lassen können. Fürwahr: es liegt doch ein eigentümlicher Reiz in dem Gedanken, den Tod mit sich in der Schiffskiste im Geheimfach zu führen wie ein mordgieriges Raubtier im Käfig, das man jeden Augenblick freilassen kann, damit es – Nein – dies mag ich nicht bis zum letzten Ende ausspinnen. –

Ich habe die Seekarten in den letzten Tagen sehr eingehend studiert und mir überlegt, wohin ich die Najade mit Hilfe der drei Mann, die das Fieber aus demselben Grunde wie mich verschonen wird, steuern und wo ich sie vorläufig verbergen soll. Ich muß sicher gehen. Es kann hier nur eine Insel in Betracht kommen, die fernab von jedem Verkehr liegt, die unbewohnt ist und nur zufällig einmal von einem Schiffe besucht wird. Ganz einig bin ich mir doch noch nicht über diesen Hafen, den ich der Najade anweisen will. Wenn die Zeit da ist, werde ich mich schon entschließen. Am besten wäre eine der kleineren Kerguelen-Inseln. Sie liegen nicht allzuweit von der gewöhnlichen Dampferlinie Kapstadt-Australien ab, anderseits aber auch sind sie genügend ihres rauhen Klimas und ihrer Unfruchtbarkeit wegen verrufen, um Handelsfahrzeuge fern zu halten.

2. September. – Wir haben einen Maschinenschaden gehabt und fast drei Wochen unter Notsegeln uns mühsam vom Fleck gequält. Jetzt läuft die Maschine wieder leidlich. Heute sah ich in der Ferne die französische Insel und bekannte Verbrecherkolonie Neu-Kaledonien im Morgennebel wie eine stille Warnung liegen. Dort auf Kaledonien mag so mancher Sträfling für Vergehen büßen, die er auch aus Ehrgeiz und Geldgier geplant hat – wie ich jetzt, nur mit dem Unterschied, daß ich vorsichtiger und klüger sein werde. Mich soll man nicht abfassen. Dafür werde ich sorgen. Ich werde geduldig warten, bis Gras über das Verschwinden [15] der Najade gewachsen ist und dann erst – zu leben beginnen in Reichtum und Macht.

3. September. – Gestern abend habe ich die Gläschen hervorgeholt und – benutzt! Ob der Erfolg auch nicht ausbleibt?! Wenn die Bazillen nicht mehr lebensfähig sind, dann – ja, dann muß ich eben –

5. September. – Heute haben wir drei Mann dem Meere übergeben, die die plötzlich an Bord ausgebrochene Gelbfieber-Seuche dahingerafft hat. Die Bazillen wirken. Der Apotheker in Valparaiso, dem ich für die Gläschen ein nettes Sümmchen zahlen mußte, hat mich nicht betrogen.

12. September. – Ich bin jetzt Kapitän der Najade. Das große Sterben an Bord hat außer mir nur noch sechs Leute bisher verschont. Sechs! Das ist zu viel! Und mein Herr Neffe lebt auch noch.

19. September. – Die sechs haben sich um drei verringert. Leider gerade um die falschen. Ich habe mich verrechnet. Die drei Leute, die ich gern bis zuletzt als Verbündete gehabt hätte, sind westlich von Tasmania in dem großen Friedhof der Seeleute, dem Meere, beigesetzt worden. Die nunmehr noch Überlebenden, darunter auch Karl, sind unerfahrene Leute: Dieser ist noch Schiffsjunge, die beiden anderen Leichtmatrosen. Es ist mir nicht sonderlich schwer gefallen, ihnen ein glaubwürdiges Märchen aufzubinden, weshalb wir plötzlich über Sydney hinausgedampft sind und anderen Kurs genommen haben. Wir laufen jetzt mit voller Maschinenkraft parallel zur Südküste Australiens auf die Kerguelen-Inseln zu, angeblich, um in diesen kälteren Breiten die Seuche erst zum Erlöschen zu bringen.

5. Oktober. – Karl wird mir immer unbequemer. Der Junge ist mir zu „helle“. Ich fürchte, er ahnt, was ich mit der Najade vorhabe. Trotz seiner erst fünfzehn Jahre ist er geistig und körperlich nur zu gut entwickelt. Gestern machte er mir gegenüber Andeutungen, daß er sich mit Jakob Jakobsen und Georg Schulk zusammentun und mich zwingen würde, wieder Kurs auf Sydney zu nehmen, falls ich ihm [16] nicht ehrlich sagen wollte, was diese Fahrt so weit südwestwärts bedeute. Zum Glück fiel mir etwas ein, das ihn beruhigte. Ich erklärte ihm im Vertrauen, die Najade sei von vornherein nach den Kerguelen bestimmt gewesen, um dort eine Ladung Tran abzuholen, die einer französischen Gesellschaft gehöre, die die Berechtigung zum Walfischfang in den Gewässern um die Kerguelen erworben habe und der daran liege, ihre Regierung über die Größe der Ausbeute des Unternehmens zu täuschen. Dies hätte mir der Kapitän der Najade kurz vor seinem Tode mitgeteilt und mir befohlen, zunächst ohne Aufsehen die Kerguelen anzulaufen und dann erst nach Sydney zu gehen. – Karl scheint – scheint – diesen Angaben Glauben geschenkt zu haben. Immerhin ist es Zeit, daß ich Jakobsen und Schulk für meine Pläne gewinne. Ohne sie kann ich den Dampfer nicht dorthin führen, wo ich ihn gern haben möchte.

8. Oktober. – Mein Herr Neffe liegt in Eisen in einer sicheren Kammer des Vorschiffes. Er hat mir nicht geglaubt – sehr zu seinem Schaden, – wie ich bereits am Tage nach unserer Unterredung merkte. Da habe ich denn Jakobsen und Schulk einzeln vorgenommen und ihnen die Zukunft in lockendsten, goldenen Farben gemalt, falls sie mit mir gemeinsame Sache machen wollten. Es sind junge Menschen, in denen sich leicht die Geldgier entfachen ließ. Jetzt sind sie mein mit Leib und Seele – des Goldes wegen, das unten im Laderaume der Najade ruht.

9. Oktober. – Die Kerguelen kamen morgens in Sicht. Ausnahmsweise lagerte kein Nebel über den Inseln, wie dies zumeist der Fall zu sein pflegt. Die Gletscherspitzen des Roß- und Richard-Berges leuchteten im Sonnenglanz. Ungeheure Vogelschwärme kreisten in der Luft. Ich suchte das Meer sehr sorgfältig mit dem Glase ab. Nirgends ein Schiff. – Nicht weniger als 130 kleine Inseln umgeben die Hauptinsel Kerguelenland, sämtlich düster, felsig, mit steilen Ufern, tiefen Buchten und abenteuerlichen Hügelketten.

[17] 11. Oktober. – Wir haben die Najade, nachdem wir gestern den ganzen Tag über im Boot zwischen den Inselchen nach einem passenden Versteck gesucht hatten, in eine enge Bucht eines Eilandes hineingelotst, die in eine ungeheure, hochgewölbte Grotte ausläuft, deren Hintergrund selbst am Tage in Dunkelheit gehüllt daliegt. Dieses Eiland, zu dem ein wahrer Irrgarten von Kanälen führt, ist für meine Zwecke wie geschaffen. – Als wir den Dampfer in der Riesengrotte glücklich verankert hatten, ging ich mit Jakobsen und Schulk in den Raum hinab, öffnete eine der Kisten und zeigte ihnen die Goldbarren. Die beiden Maate waren wie versteinert. Dann flammten ihre Gesichter in Habgier auf. Ich freute mich! So wollte ich sie haben, um ihnen klar zu machen, daß wir meinen Neffen notwendig irgendwo aussetzen müßten, um in Sicherheit die Früchte unseres Unternehmens genießen zu können. Sie waren sofort einverstanden. Was doch die Goldgier aus den Menschen macht! Karl war mit den beiden sehr gut Freund. Und nun?!

14. Oktober. – Morgen werden wir Karl mit der Motorpinasse der Najade nach der Heard-Insel bringen, die südöstlich der Kerguelen liegt. Diese Insel ist ebenso wie die südlichere Macdonald-Insel bereits den Südpolargegenden so nahe, daß beide nur bergige Gletscherwüsten selbst im Hochsommer bilden. Hiervon werde ich jedoch meinen beiden Verbündeten nichts sagen, die überhaupt recht bald unangenehme Überraschungen erleben sollen! – Ich werde so großmütig sein, den neuen Bewohnern der Heard-Insel allerlei dazulassen, was ihnen ihr Einsiedlerleben erleichtern soll. Trotzdem werden sie es nicht lange inmitten der eisstarrenden Einöde aushalten, davon bin ich überzeugt.




[18]
4. Kapitel.
Was das Tagebuch weiter berichtet.

6. November. – Die langen Gesichter meiner beiden Verbündeten und ihre Wutausbrüche, als sie mich durchschaut hatten, machten sich recht komisch. – Doch ich will kurz alles Wichtige über diesen Abstecher nach der Heard-Insel erzählen. Die Abfahrt verschoben wir um vier Tage, da wir uns erst aus den Fellen, die die Najade gleichfalls im Raume hatte, dem kalten Klima entsprechende Kleidung nähen mußten. Die Pelze gelangen Jakobsen recht gut. Sein Vater ist daheim in Flensburg Schneider. – Auch für Karl wurden ein Paar Pelzhosen, ein Rock, eine Mütze und Handschuhe gefertigt.

Bei windstillem Wetter ging’s dann nach Südost zu. Die Motorpinasse läuft gut ihre 12 Knoten. So waren wir denn bereits trotz einer Panne am dritten Tage morgens dicht unterhalb der vereisten Steilufer der Insel. Jakobsen schüttelte zu deren Aussehen den Kopf. – „Das ist ja wie ’n Stück Grönland im Winter,“ meinte er. „Da können wir doch als Christenmenschen den Jungen nicht sich selbst überlassen. Das wäre Mord!“

Ich log frech, die Insel sei im Innern ganz anders geartet, habe dort Baum- und Pflanzenwuchs und sogar warme Quellen. – Er glaubte mir. Wir nahmen, nachdem wir gelandet waren, Karl die Eisenfesseln ab, und ich erklärte ihm, daß er als – Meuterer zur Strafe hier weiterhin leben müsse. Er – er spie vor mir aus, wandte sich um und schritt zwischen den Eishügeln dem Innern zu, entschwand bald unseren Blicken. Nachdem wir die für ihn bestimmten Sachen aus dem Boot an Land gebracht hatten, wollte ich mich nun auch meiner Verbündeten entledigen.

Ich schickte sie hinter Karl drein, ihn zurückzuholen, tat so, als habe mich plötzlich das Mitleid gepackt und als wollte ich ihn wieder mit zurücknehmen. Sie gingen eilends davon, die Ahnungslosen! Ich aber [19] stieg in die Pinasse, warf den Motor an und – in diesem Moment kehrten sie in langen Sprüngen zurück. Was sie mir zubrüllten, verstand ich nicht. Als sie erkannten, daß auch sie von mir zum gleichen Schicksal wie Karl verdammt waren, erstarrten sie zunächst vor Entsetzen, um dann jedoch in ohnmächtigem Grimm mich zu beschimpfen, wie dies nur ein Seemann kann.

Ich winkte ihnen höhnisch so lange zu, bis sie meinen Blicken entschwanden. Und heute bin ich vor Morgengrauen wieder an Bord des in der Felsengrotte verankerten Dampfers angelangt, werde nun selbst ein paar Monate freiwillig den Robinson spielen, bis es mir richtig erscheint, wieder in die kultivierte Welt zurückzukehren.“


Hier machte der Chemiker eine längere Pause, die er dazu benutzte, die Aufzeichnungen des verbrecherischen Steuermanns über dessen Einsiedlerleben auf dem kleinen Eiland zu überfliegen. Dieser Inhalt des Tagebuches August Wends (vergl. das folgende Bändchen: „Das Gold der Najade“) hatte für den Augenblick, so spannend und abenteuerlich es sich auch las, kein größeres Interesse für den Chemiker, dem lediglich daran lag, festzustellen, ob etwa die drei Unglücklichen auf der Heard-Insel noch immer schmachteten.

Über diese Frage äußerte er sich dann, von den eng beschriebenen Blättern aufschauend, zu seinem jungen Freunde folgendermaßen:

„Allem Anschein nach hat der Unmensch Deinen Bruder und die beiden Matrosen tatsächlich auf jener unwirtlichen Insel[6] zurückgelassen. Ich finde hier in seinen Auszeichnungen nur höhnische Bemerkungen über diese Opfer seiner verbrecherischen Habgier, jedoch keinerlei Andeutung, daß sich jemals in den zehn Monaten, die er noch aus freien Stücken auf den Kerguelen verblieb, bei ihm das Gewissen geregt und der Gedanke in seinem verhärteten Herzen Raum gewonnen hätte, die drei aus ihrer sicher überaus trostlosen Lage zu befreien. – Doch jetzt will ich Dir noch einige [20] Stellen seines Tagebuchs vorlesen, die von Wichtigkeit sowohl für die Beurteilung seines Charakters, als auch für uns recht unterrichtend sind, was die Weiterentwicklung dieses Schurkenstreiches anbetrifft.“


20. September 1896. – Die Motorpinasse ist fertig zur Abreise. Morgen bei Tagesanbruch gedenke ich das Eiland und die Najade zu verlassen. Ich werde wieder in der Welt, in der Heimat auftauchen, die mich ohne Zweifel längst für tot und die Najade für verschollen hält. Ich habe mir ein langes rührendes Märchen zurechtgelegt, das ich den Leutchen über meinen Verbleib auftischen werde. Sie werden mir alles glauben, werden es mir auch glauben müssen, da eine Nachprüfung meiner Erzählung unmöglich sein dürfte.

Vielleicht ist es gut, daß ich die nachstehende freierfundene Schilderung meiner Abenteuer hier schriftlich festhalte, damit ich nachher bei meinem mündlichen Bericht keinen Fehler begehe: Infolge des Verschwindens des zweiten Steuermanns des Dampfers in Valparaiso nahm ich dessen Stelle ein. (Besser wäre es ja, ich könnte meine Anwesenheit auf der Najade überhaupt verschweigen. Aber das geht aus verschiedenen Gründen nicht an. So haben Karl, mein Herr Neffe, und ich von den Häfen, die wir anliefen, gemeinsam Karten nach Hause geschickt, auch einen Brief. Karl hatte dies angeregt. Ich konnte mich hierzu nicht gut ablehnend verhalten. Das wäre ihm sonst vielleicht aufgefallen. Die daheim wissen also, daß wir die Reise Valparaiso-Sydney auf demselben Schiff angetreten haben.) Südlich Neu-Kaledonien – so werde ich weiter berichten – brach dann an Bord das Gelbfieber aus, das in kurzem die ganze Besatzung bis auf mich allein hinwegraffte. Der Dampfer, den ich nicht mehr als einzelner Mann bedienen konnte, trieb mit einer Strömung zunächst südlich, dann nach Westen zu – wochenlang, ohne daß er je einem anderen Fahrzeuge begegnete, das ich hätte um Hilfe anrufen können und ohne je Land in Sicht zu bekommen. [21] Ein Sturm schlug dann das führerlose Schiff durch haushohe Seen leck und trieb es in sinkendem Zustand auf die einer kleinen Inselgruppe vorgelagerten Klippen, wo es zerschellte. Nur die Pinasse wurde wie durch ein Wunder unversehrt auf das flache Gestade der nächsten Insel geworfen, auf die[7] ich mich auch selbst zu retten vermochte und wo ich dann viele Monate – wie lange, vermag ich (angeblich!) nicht zu sagen – einsam zubrachte, mich von Früchten und Fischen nährend bis ich schließlich in der Verzweiflung über meine trostlose Weltabgeschiedenheit das Wagnis unternahm, auf der Pinasse, die noch einen großen Vorrat Benzin besaß, auf gut Glück nordwärts in See zu stechen, hoffend, entweder einem Schiffe zu begegnen oder auf bewohntes Land zu stoßen. – Das soll in Kürze meine Erzählung werden. Die Inselgruppe, an der die Najade (angeblich!) scheiterte, werde ich nach ihrer Fauna und Flora (Tier- und Pflanzenwelt) so beschreiben, daß sie zu den zwischen Australien und der Insel Java verstreut liegenden Archipeln gehören kann. (Von den Kerguelen-Inseln natürlich kein Wort!) Ich werde, um diese Angaben wahrscheinlicher zu machen, auf dem Schiffe, dem ich zu begegnen hoffe, die Dauer meiner einsamen Fahrt auf der Pinasse so bemessen, daß meine Schilderung auch den Entfernungen nach durchaus glaubwürdig erscheint. –

Das gute Wetter verspricht der Windrichtung nach beständig zu bleiben. Also morgen früh geht es fort von hier. Fast wird mir der Abschied schwer. Ich lasse das Gold so ungern zurück, das ich ja vorsichtshalber aus dem Laderaum an Land in ein Versteck geschafft habe. Das Gold! Jeden Tag habe ich mich an dem matten Glanz der schweren Goldbarren erfreut. Das hört nun auf – für Jahre! Denn ich werde nicht so unklug sein und etwa sehr bald nach meiner Heimkehr auf irgend eine Weise meine Reichtümer von hier abholen. Nein – ich werde daheim in Heilmünde bescheiden mehrere Jahre leben und dann erst, wenn die Najade ganz vergessen ist, hierher [22] zurückkehren, vielleicht mit einer Segeljacht, die ich chartere und deren Besatzung ich schon über meine wahren Absichten täuschen werde. Doch – all das bleibt der Zukunft überlassen.

Nicht allein das Gold der Najade macht mir das Scheiden von hier nicht ganz leicht. Auch die seltsamen Dinge, die ich hier erlebt habe und für die ich gern eine Erklärung gefunden hätte, fesseln mich an diesen felsigen, unfruchtbaren Boden der Kerguelen-Inseln, die ich jetzt nach diesem monatelangen Robinsonleben am besten von allen Menschen kennen dürfte, – am besten, und doch nicht so gut, um mir zusammenreimen zu können, was jene Vorgänge bedeuten, die ich hier miterlebt habe und die in ihrer Gesamtheit auf irgend ein Geheimnis hinweisen, daß es hier zu enträtseln gibt. Nun – wenn die Jahre, die ich daheim zubringen will, verstrichen sind, kann ich mich ja auch dieser merkwürdigen Angelegenheit wieder widmen, von der ich in diesen meinen Aufzeichnungen eingehend gesprochen habe.

30. September 1896, an Bord des Australienfahrers City of London.

Es ist gelungen! Alles verlief programmäßig. Der Dampfer, dem ich vor fünf Tagen begegnete, bringt Gefrierfleisch nach England und wird mit Maschinen und landwirtschaftlichen Geräten dann wieder die Rückreise antreten. Der Kapitän hegt keinerlei Zweifel an der Wahrheit meiner Erzählung, die in einem feierlichen Protokoll festgelegt worden ist. Ich werde hier an Bord „als armer Schiffbrüchiger“ geradezu verhätschelt.

Nein – ganz habe ich mich von meinem Golde doch nicht trennen können. Sechs Barren habe ich unbemerkt mit auf die City of London geschmuggelt. Schließlich will ich doch in der Heimat einigermaßen behaglich in diesen Jahren leben, die vergehen sollen, bis ich mir den Schatz hole.

22. Oktober. – Daheim! Manches fand ich hier doch verändert. Mein Bruder hat den größten Teil seines Vermögens bei einem Bankkrach verloren. Zu [23] erben gibt es also nichts mehr! Ich werde ein kleines Häuschen ankaufen und – von meinen Ersparnissen bescheiden als Rentner leben.

2. April 1897. – Ich habe diese Aufzeichnungen seit Monaten nicht mehr in Händen gehabt. Heute packte mich das Verlangen, sie wieder einmal zu lesen. In der Tat: Mein Tagebuch über mein freiwilliges Einsiedlerleben auf den Kerguelen ist wie ein spannender Abenteurerroman, dem jedoch noch die Schlußkapitel fehlen.

Inzwischen hat sich hier in Heilmünde vieles ereignet, das auch meine Daseinsführung beeinflußt hat. Eine Typhusepidemie forderte zahlreiche Opfer, darunter auch meinen Bruder und seine Frau. Nun fällt der Junge, der Heinrich, mir zur Last. Nur der Menschen wegen habe ich ihn bei mir aufgenommen. Ich könnte als hartherzig verschrieen werden, wenn ich mich seiner nicht annähme. Nun – viel Freude wird ihm der Aufenthalt in meinem Hause nicht bereiten. Er ist mir unbequem, dieser junge, heranwachsende Mensch, der eine so große Ähnlichkeit mit seinem Bruder Karl hat.

Ja – der Bruder, der Karl! Oft schleicht er sich in meine Träume ein. Ich sehe ihn dann, abgemagert zum Gerippe, über die Schneefelder der Heard-Insel hinwanken – wie ein Gespenst, das mein Gewissen wachrufen will.

Gewissen?! Lächerlich! – Fort mit den Gedanken!

2. September 1897. – Heute vor zwei Jahren habe ich den Inhalt der bewußten Gläschen an Bord der Najade in das Essen der Mannschaft geschüttet, damit das Gelbfieber mir half, – reich zu werden.

Und heute habe ich wieder einmal diese Niederschrift überflogen. In meiner Seele ist jetzt seit kurzem eine gewisse Unruhe. Ich will es nicht Angst nennen. Aber – vielleicht ist’s etwas sehr nahe Verwandtes.

Der Grund dieser peinvollen Unruhe? – Oh – ich weiß, daß man hier in der Stadt über mich so allerlei redet, daß irgend ein Schlauer den wahren Zusammenhang [24] hinsichtlich des Schicksals der Najade und ihrer Besatzung zu ahnen scheint – wenigstens ungefähr! Ich mußte ja einen der Goldbarren veräußern, und obwohl ich dies in St., der Großstadt tat, wird doch etwas davon bekannt geworden sein. Wie – ist mir allerdings unerklärlich. Jedenfalls: Gerüchte wenig angenehmer Art laufen über mich um. Man zweifelt an meinen Ersparnissen, flüstert sich zu, ich hätte mir einen Teil der Ladung des gescheiterten Goldschiffes angeeignet.

Was den Untergang der Najade angeht – auch dies mag hier erwähnt sein! – so bin ich darüber noch dreimal zu Protokoll vernommen worden. Die Reederei, der der Dampfer gehörte, will durchaus herausbekommen, an welcher Inselgruppe das versunkene Wrack (ich lache: natürlich das angeblich!) zu suchen sein dürfte, da sie durch Taucher die Goldkisten herausholen lassen möchte. Ich bin bei meiner ersten Behauptung geblieben, daß ich nicht wüßte, welcher kleine Archipel es sei, an dessen äußeren Klippenreihen das Schiff zerschellte. – Jetzt werden sie mich wohl mit ihren Vernehmungen verschonen, nachdem ich jedesmal dasselbe ausgesagt habe.

Mein Herr Neffe Heinrich hat da übrigens eine Freundschaft geschlossen, der ich ein Ende bereiten muß. Dieser Chemiker Werner Seiffert, der dort auf der Eicheninsel in der Hafenbucht einsam haust, scheint mir ein allzu heller Kopf zu sein. Ich – ich fürchte ihn! Er ist schlau und jeder Verstellung fähig. Ich vermute in ihm den Urheber all jener Gerüchte über mich.

Eine interessante Persönlichkeit, dieser Seiffert, ohne Frage! Was treibt er eigentlich auf seinem Inselchen, das er durch Stacheldrähte abgesperrt hat, als hätte er dort die wertvollsten Geheimnisse zu hüten?! Man sagt, er beschäftige sich mit chemischen Experimenten; arbeite an einer Erfindung. Ich – ich traue dem Burschen nicht! Zu gern würde ich herausbekommen, weshalb er sich dergestalt in die Einsamkeit verkrochen hat.

[25] 2. September 1898. – Wieder ist ein Jahr um. Ich nähere mich langsam dem Zeitpunkt, wo ich daran denken darf, meinen Schatz zu holen. Ich habe Geduld. Wem Millionen winken, der darf nicht die Hauptsache bei den letzten Teil eines jahrelangen Planes außer acht lassen: die ständige Vorsicht!

Nur nichts tun, das auffallen könnte! – Ich bin Blumenfreund geworden. Das wirft ein so gutes Licht auf meinen Charakter! Dabei sind mir Rosen und all das andere Grünzeug in Wahrheit so herzlich gleichgültig.

Vor einem Jahr schrieb ich in diesen Blättern einiges über Werner Seiffert. Inzwischen habe ich mir die größte Mühe gegeben, dem Mann so etwas hinter seine Schliche zu kommen. Ich habe viele Nächte geopfert und in einem Boot seine Insel umrudert, habe mich vor der Einfahrt zu seinem kleinen Bootshafen auf die Lauer gelegt und bin auch zweimal auf dem Eiland gewesen wo mich aber stets der verd… Köter sehr bald witterte und verjagte.

Ja, – was treibt dieser Chemiker dort? Was nur? Ich vermag mir darüber nicht klar zu werden. Einmal, als ich wieder in einem Kahne bei strömendem Regen nachts die kleine Insel umruderte, erlebte ich etwas recht Seltsames. Der Regen ließ plötzlich nach und der Vollmond trat hinter den Wolken hervor. – Da wurde ohne jede erkennbare Ursache das Wasser des Hafens, das spiegelglatt bei der völligen Windstille dalag, in einer Weise aufgerührt, als ob in meiner Nähe ein riesiger Fisch pfeilschnell unter der Oberfläche dahinschoß. Ich glaubte dann auch in weiter Entfernung etwas Dunkles für kurze Zeit auftauchen zu sehen, mag mich aber vielleicht getäuscht haben. – Noch dreimal machte ich ungefähr die gleiche Beobachtung.

Heute nun – wie seltsam! – kommt mir ganz unvermittelt ein Gedanke: Sollte etwa jener Seiffert ein Unterseeboot konstruiert haben und damit nachts Probefahrten im Hafen unternehmen?! Die Ingenieure aller Länder widmen ja jetzt mit allem Eifer [26] dem Problem der Unterwasserfahrzeuge aufs neue ihr lebhaftes Interesse. Kann nicht jener Fisch, der die Wasseroberfläche so stark beunruhigte, ein solches neuartiges Fahrzeug gewesen sein?

Ich werde doch noch ein paar Nächte opfern! Ich muß wissen, was dieser Mann auf seinem Inselchen tut, der mit meinem Neffen Heinrich so eng befreundet ist und der ihn vielleicht nur über mich aushorcht. Ich werde ja den Verdacht nicht los, daß der Chemiker mehr über die Najade ahnt, als mir lieb sein kann. Daß ich Heinrich diesen Verkehr untersage, fruchtet nichts! Heimlich besucht er trotzdem diesen Menschen, der mir mehr als verhaßt ist.

3. März 1899. – Abermals gehört ein halbem Jahr der Vergangenheit an. – Die Gerüchte über mich kommen nicht zum Schweigen. Ich lebe in steter Angst. Aus Vorsicht habe ich zwei weitere Barren in Berlin verkauft. Und – jetzt weiß ich es! – jener Seiffert ist mir nachgereist, als ich Heilmünde verließ, um angeblich in der Reichshauptstadt einen berühmten Arzt zu konsultieren. Also spioniert der Chemiker mir nach! Dies steht außer Zweifel! Wenn ich nur an ihn heran könnte, wenn ich ihn nur beseitigen könnte! Aber wie nur, wie?! Dieser Mann ist nicht so leicht auszulöschen wie ein Durchschnittsmensch. Er ist klug, verschlagen, energisch und sicher auch rücksichtslos, wenn es seine eigene Sicherheit gilt. – Doch – kommt Zeit, kommt Rat!“




5. Kapitel.
Das Geheimnis des Chemikers.

Seiffert legte die zahlreichen Blätter auf den Tisch sagte:

„Kleiner Freund, so schließt dieses Tagebuch eines Menschen, den ich beinahe für geistig nicht ganz normal halten möchte. Verfügt er wirklich über gesunde Sinne, so ist er ein wahres Ungeheuer in Menschengestalt, ein Verbrecher, wie man ihn scheußlicher sich kaum denken kann. Ich nehme an, die Geldgier [27] hat sein Hirn verwirrt. Solche Fälle sind nicht selten. Trotzdem bleibt er auch als Geisteskranker ein höchst gefährliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft, das unschädlich gemacht werden müßte.“

Heinrich Wend saß stumm mit seltsam versteinertem Gesicht in seiner Sofaecke. Das, was der Chemiker soeben vorgelesen hatte, wirkte auf ihn wie ein furchtbarer Traum, über den man nach dem Erwachen regungslos nachsinnt, sich immer wieder fragend: „Ist all dies etwa Wirklichkeit?“

Seiffert blickte Heinrich prüfend an, als dieser nichts erwiderte und nur mit weiten, entsetzten Augen vor sich hin stierte. Dann trat er neben ihn, strich ihm über das Haar, sagte herzlich:

„Dein armer Bruder! Wir werden ihn zu befreien, zu retten versuchen, falls – er noch lebt.“

Da wurde Heinrich plötzlich lebendig, haschte nach der liebkosenden Hand seines Wohltäters und Beschützers und rief:

„Mein Bruder! Oh – helfen Sie, Herr Seiffert, – er darf dort nicht umkommen, darf nicht! Vielleicht ist er noch am Leben, vielleicht –“ Ein Schluchzen erstickte seine Worte.

Der Chemiker sprach ihm beruhigend zu. Als Heinrich sich wieder gefaßt hatte, ging Seiffert erst eine geraume Weile tiefes Nachdenken versunken, in dem stillen Gemach auf und ab, blieb dann vor dem Knaben stehen und sagte leise:

„Kleiner Freund, da heute ein Tag wichtiger Geschehnisse ist, will ich auch meinerseits Dir Eröffnungen machen, die Dir vieles erklären werden, was bisher von mir absichtlich verheimlicht wurde. – Höre denn: Ich bin nicht allein Chemiker, sondern auch Schiffsingenieur. – Diese Insel pachtete ich als für meine Zwecke ganz besonders geeignet. Als ich dann in den Zeitungen, die ja nach der Heimkehr des Steuermanns spaltenlange Berichte über seine Abenteuer brachten, so viel über ihn las, wurde ich auf ihn aufmerksam, prüfte als Mann, der jeder Sache auf den Grund geht, seine Schilderung über das Schicksal der [28] Najade genau nach, wobei mir sowohl meine Kenntnis überseeischer Länder als auch meine Vertrautheit mit allem, was die Seefahrt angeht, sehr zu statten kam, und fand dabei zunächst einen sehr zweifelhaften Punkt: die Behauptung Deines Onkels, das Gelbfieber sei erst vierzehn Tage nach der Abreise aus dem damals verseuchten Hafen von Valparaiso an Bord ausgebrochen. – Nach allem, was man bisher über das Gelbfieber weiß, tritt diese Seuche an Bord eines Schiffes, das aus einem pestverdächtigen Hafen den Ansteckungsstoff mit auf die hohe See genommen hat, stets innerhalb 3 bis 6 Tagen auf, nie später! Deshalb müssen ja auch pestverdächtige Schiffe stets nur eine Quarantäne von höchstens zehn Tagen durchmachen, das heißt, sie und ihre Besatzung werden für diese Zeit von jedem Verkehr mit der Außenwelt abgesperrt, damit nicht der Ansteckungsstoff weiter verbreitet wird. – August Wend hatte nun angegeben, erst südlich Neu-Kaledoniens habe das Gelbfieber auf der Najade zu wüten begonnen, zwei Wochen nach dem Verlassen Valparaisos! Das stieß mir auf. – Ich prüfte dann weiter. Er hatte ferner zu Protokoll berichtet, die Eilande, an deren Klippen die Najade scheiterte, müßten zu den Inseln südlich von Java gehört oder doch ganz in der Nähe gelegen haben. – Der Dampfer müßte mithin – und dies ist Punkt 2 meiner Zweifel! – den Weg von der Ostküste Australiens bis zu den Kokos-Inseln etwa steuerlos gemacht haben. – Hier hast Du nun eine Karte der Meeresströmungen jener Gegenden. Beachte, kleiner Freund, daß diese Strömungen so verlaufen – und nur sie können ja ein führerloses Fahrzeug, abgesehen von Stürmen, die jedoch den Weg eines solchen Schiffes nur kurze Zeit beeinflussen, weite Strecken fortbringen, daß die Najade niemals nach dem Durchqueren der südaustralischen Gewässer nach Norden beziehungsweise Nordosten abgeschwenkt sein kann. Und dies wäre nötig gewesen, um in die Gegend der Kokos-Inseln zu gelangen. – Ich will Dir hier nicht noch meine weiteren Zweifel vortragen, mein Junge. Jedenfalls [29] hielt ich sehr bald nach dem Auftauchen Deines Onkels hier seinen Bericht für erlogen, beobachtete diesen Mann, der schon äußerlich so wenig sympathisch wirkt, heimlich weiter, folgte ihm, als er nach der Provinzialhauptstadt reiste, um die erste Goldbarre zu verkaufen, stellte diesen Zweck seines Besuches dort einwandfrei fest und – besaß nunmehr den Beweis, daß er gelogen und nicht lediglich bei dem Untergang der Najade das nackte Leben gerettet hatte! – Um es nun gleich zu erwähnen: Der Urheber all jener Gerüchte über August Wend bin ich – kein anderer! Hier hat er also mit seiner Vermutung recht. Absichtlich habe ich diese Gerüchte zu verbreiten verstanden. Ich wollte sehen, wie er sich dazu stellte. Er war schlau, – tat so, als ginge ihn all das nichts an. Daß ich ihm auch in Berlin beim Verkauf weiterer Barren auf den Fersen war, weißt Du aus seinen Aufzeichnungen. Hätte ich ihn jetzt noch ein drittes Mal bei einem Geschäft dieser Art betroffen, so würde ich ihn der Polizei übergeben haben. Das war meine feste Absicht. Die Behörden hätten dann die ganze Najade-Angelegenheit untersucht, und ohne Zweifel hätte man die Überzeugung gewonnen, daß der Steuermann den größten Teil seiner Erzählung erfunden oder besser die Hauptsachen verschwiegen hat. – Unsere Freundschaft gab nun dieser Sache eine neue Wendung. Du vertrautest mir an, daß Dein Onkel in einem Geheimfach Papiere aufbewahre, die er eines Nachts heimlich bei verschlossener Tür durchsah, was Du durch das Schlüsselloch beobachtetest. Ich ahnte die Wichtigkeit dieser Papiere und legte Dir nahe, sie mir für kurze Zeit einmal zu verschaffen. Ich hatte recht: Wir haben jetzt Kenntnis von ihrem Inhalt, wissen, welch ungeheuerliches Verbrechen begangen worden ist!“

Der Chemiker schwieg ein paar Sekunden, um dann mit erhobener Stimme fortzufahren: „Mein kleiner Freund, begleite mich jetzt! Ich will Dich in das Geheimnis dieser Insel einweihen, Dich als den einzigen Menschen vorläufig!“

[30] Seiffert schritt zur Tür. Heinrich erhob sich, ging hinter ihm drein wie im Traum, noch ganz benommen von all diesen Erörterungen und traurigen und erschütternden Neuigkeiten. Sie verließen das Blockhaus, und der Chemiker schlug die Richtung nach dem kleinen Stallgebäude ein, das dicht am Ufer der in das Eiland sich hineinerstreckenden Bucht auf einem Hügel lag. Seiffert schloß die gut verwahrte Tür auf, führte den Knaben dann in einen Verschlag, in dessen Fußboden eine Falltür so vortrefflich eingefügt war, daß niemand ihr Vorhandensein bemerken konnte. Diese Falltür verdeckte einen engen Schacht, in dem man auf einer eisernen Leiter abwärts in ein ausgemauertes Gewölbe gelangte, das mit Wasser angefüllt war.

Mehrere elektrische Lampen flammten auf. Und Heinrich sah auf der Oberfläche des Wassers ein seltsames Fahrzeug liegen von der Form einer kurzen, dicken Spindel, etwa zwölf Meter lang und vier Meter breit. Da rang sich ein Wort über des Knaben Lippen – ein einzelnes Wort:

„– Unterseeboot!“

Der Chemiker nickte. „Ja, mein Junge. – Dein Oheim hat also auch hierin richtig gemutmaßt! Es ist der große Fisch, der die Wasser des Hafens aufrührte. Es ist meine Erfindung, ein Boot, zunächst von mir hier in der Einsamkeit in ganz kleinem Maßstab erbaut, wie es vollkommener kaum sein kann. Von diesem Gewölbe, das ich ebenfalls angelegt habe, führt ein kurzer Kanal in die Bucht, so daß mein „Delphin“ diesen seinen Ankerplatz unter Wasser verlassen kann.“

Werner Seiffert hob jetzt die Rechte und deutete auf sein Werk, das regungslos hier in seinem Versteck ruhte.

„Kleiner Freund,“ sagte er voller Stolz und Zuversicht, „dieses so winzig erscheinende Boot da wird uns beide in der kommenden Nacht hinausführen auf das Meer, nein, in die Tiefen des Meeres, wird uns dank seiner ungeheuren Geschwindigkeit in kurzem an [31] jenes Gestade bringen, das ein Schurke oder ein Geisteskranker dreien seiner Mitmenschen als Aufenthalt aufzwang! Mein „Delphin“ ist mit allem versehen, was eine monatelange Reise erfordert. Nichts kann uns hindern, noch heute unsere Fahrt anzutreten.“

Heinrich blickte voller Ehrfurcht zu dem Erfinder auf. Dann fragte er zögernd:

„Und – und mein Onkel?“

„Ich verstehe, mein Junge! Du meinst: Soll er etwa frei ausgehen? Wäre es nicht unsere Pflicht, sein Tagebuch der Polizei zu übergeben, damit, falls er geistig normal ist, seine Missetaten ihren Richter finden? – Gewiß: Ihm wird nichts geschenkt bleiben, nichts! Würden wir aber jetzt der Behörde Mitteilung von diesem furchtbaren Verbrechen machen, dann würde man uns beide hier vielleicht als Zeugen wochenlang festhalten! – Das darf nicht sein. Jeder Tag ist kostbar! Dort an der Grenze der Südpolargegenden schmachten vielleicht noch jetzt drei Unglückliche inmitten einer eisstarrenden Einöde, drei Menschen, denen schleunigst die Erlösung werden soll. Deshalb: Erst die retten, die hoffentlich noch am Leben sind, dann das Gericht über den Steuermann der Najade!“

Des Knaben etwas bedenkliche Miene veranlaßte Seiffert zu der Frage: „Fürchtest Du, daß Dein Onkel durch unser Verschwinden – denn wir werden unbemerkt die hohe See gewinnen! – mißtrauisch werden und vielleicht flüchten könnte?“

„So ist’s, Herr Seiffert,“ erwiderte der aufgeweckte Junge eifrig. „Er weiß doch bereits, daß Sie ihm nachspionieren. Wenn gerade wir beide nun –“

„Schon gut,“ unterbrach der Chemiker ihn ruhigen Tones. „Sei ganz außer Sorge. Er wird nichts argwöhnen können! Das Tagebuch trägst Du nachmittags, nachdem ich die Hauptsachen für mich daraus abgeschrieben habe, in August Wends Häuschen in das Geheimfach zurück. Wo wir geblieben sind – das sollen die Heilmünder sich leicht, aber unrichtig zusammenreimen [32] können.“ –

In der folgenden Nacht wurde die Hafenstadt durch einen starken Knall in Schrecken gesetzt, dessen Ursache dann in einer schweren Explosion festgestellt wurde, durch die die Baulichkeiten auf der Eicheninsel dem Erdboden völlig gleich gemacht worden waren.

Alles sprach dafür, daß der Chemiker Seiffert und sein Gast, der Knabe Heinrich Wend, bei dieser Katastrophe den Tod gefunden hatten.

Als August Wend, dessen Zustand sich plötzlich wesentlich gebessert hatte, hiervon durch seine Wirtschafterin Mitteilung gemacht wurde, verließ er für kurze Zeit sein Bett, ging an seinen Schreibtisch und öffnete das Geheimfach. Prüfend hielt er dann das Päckchen Papiere in der Hand. Sehr bald ein grimmes Auflachen.

„Der Knoten des Bindfadens ist anders geschlungen!“ flüsterte er heiser.

„Ich kenne meine Art, einen Knoten zu machen. In diesen Papieren hat ein Unberechtigter herumgeschnüffelt! – Ah – alles begreife ich nun, alles! Tot sollen diese beiden sein, die sich gegen mich längst verbündet hatten! Tot?! Andere mögen das glauben! Ich denke, ich tue am besten, schleunigst abzureisen – nach den Kerguelen-Inseln!“

Und wieder lachte er voller Wut und Rachegedanken drohend auf. –

Für heute müssen wir uns von unseren lieben jungen Lesern verabschieden, obwohl sie gewiß recht begierig darauf sind zu wissen, wie das Rettungswerk des Delphins ausging und was sonst noch der Chemiker und Heinrich Wend erlebten. Nun: Es mag die Andeutung genügen, daß die Hand der Vorsehung über alle Menschen schützend sich ausbreitet, besonders über die, die unverschuldet bittere Leiden zu erdulden haben.


     Der nächste Band enthält:



Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.



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