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Als Herr Ernst Mulack, schwitzend in der warmen Maisonne wie im Dampfbade, das Häuschen am Hafenkanal erreichte, kam ihm die alte Kathrin im Vorgarten entgegengelaufen. Sie war ganz verstört und berichtete, ihr Herr sei soeben von der Leiter gestürzt beim Beschneiden eines Obstbaumes. Da erbot der Besucher sich sofort, einen Arzt zu holen. Dieser stellte dann eine schwere Gehirnerschütterung fest und wiegte sehr bedenklich den Kopf hin und her, zumal der Verunglückte durch keinerlei Mittel ins Bewußtsein zurückzurufen war.

Der Chef der Firma Mulack mußte sich also damit begnügen, die Wirtschafterin von der schweren Verfehlung Heinrichs zu unterrichten. Katharina Moltz schlug entsetzt die Hände zusammen und kreischte: „Er wird am Galgen enden, der böse Bube!“

Dies rief sie im Hausflur bei halb offener Tür, durch die vom Vorgarten her die freundliche, weiße Sonne einen breiten Schein in das Halbdunkel warf, in dem Ernst Mulack und die Kathrin standen. Und durch diese selbe Tür trat in demselben Augenblick Herr Werner Seiffert ein, gefolgt von Heinrich Wend, dem angeblichen Diebe.

Nach kurzer Begrüßung sagte Herr Seiffert, ein magerer, mittelgroßer Mann mit bartlosem, kühn geschnittenem Gesicht, in dem ein Paar stahlgraue Augen mit sehr langen Wimpern und eine schmale, große Hakennase besonders auffielen: „Es freut mich, daß ich Sie hier noch[1] antreffe, Herr Mulack. Heinrich war nach der Unterredung mit Ihnen sofort zu mir geeilt. Sie wissen, daß er mein kleiner Freund ist, dem ich stets beistehen werde. Willi Polk ist der Dieb, hat auch bereits alles eingestanden, sogar die Banknoten herausgegeben. Ich komme nämlich gerade aus Ihrem Geschäft, wo ich in fünf Minuten den wahren Spitzbuben überführt habe. Sie sind ein schlechter Menschenkenner, verehrter Herr Mulack. Sie urteilen lediglich nach dem Schein. Weil dieser arme Junge hier in diesem Hause des Unheils durch falsche Behandlung, durch Lieblosigkeit, Härte und Ungerechtigkeit

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W. Belka: Das Tagebuch des Steuermanns. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1919, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Tagebuch_des_Steuermanns.pdf/6&oldid=- (Version vom 31.7.2018)