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entgegnete er nach einer Weile offenbar angestrengten Nachdenkens: „Mir fällt keiner ein.“ Das klang genau so zögernd und unsicher wie alles, was der verschüchterte Junge sagte. Viel sprach er ja überhaupt nicht. Im Hause seines Onkels, wo er nach dem Tode seiner Eltern Aufnahme gefunden hatte, durfte er nur reden, wenn das Wort an ihn gerichtet wurde.

Herr Mulack räusperte sich. „So, so, – nichts über die Ehrlichkeit, – so – so!! Sehr, sehr bezeichnend! – Junge, wenn ich nicht auf Deinen wackeren Oheim, den Herrn Steuermann August Wend, Rücksicht nehmen würde, stände jetzt hier einer unserer Stadtpolizisten, um Dich gleich nach der Wache zu führen.“ Kurze Pause. Dann: „Heinrich, Du hast den Weg betreten, der zur Verdammnis hinabgeht – in den Abgrund des Lasters und Verbrechens! Du hast aus der Kasse gestern sechs Fünfzigmarkscheine entwendet. Du glaubtest allein im Laden zu sein. Aber Willi Polk hat Dich beobachtet, hat auch gesehen, wo Du einen der Scheine verbargst – unter dem einen Sack Salz im Keller! Dort habe ich die Banknote gefunden. Wo – wo sind die anderen? Heraus damit, Junge! Dir soll nichts geschehen, wenn –“

Heinrich war so bleich geworden, daß sein Chef jetzt plötzlich innehielt, da er fürchtete, der Knabe würde ohnmächtig werden. Er täuschte sich jedoch. Heinrich hatte den ersten furchtbaren Schreck schnell überwunden, rief jetzt mit völlig verändertem Gesichtsausdruck und vor Empörung flammenden Augen: „Ich – ich soll gestohlen haben! Und – Willi Polk will gesehen haben, daß – Oh – der – der schlechte, heimtückische Bursche! Alles ist gelogen, Herr Mulack, das schwöre ich beim Andenken meiner geliebten Eltern! Gestern früh bemerkte ich – so verhält sich die Sache! – wie Willi heimlich[1] zwei Tafeln Schokolade zu sich steckte. Ich hielt ihm dies vor, verlangte, er solle sie wieder zurücklegen und erklärte dazu, ich müßte Ihnen, Herr Mulack, davon Meldung erstatten, da zu leicht der Verdacht des Diebstahls auf mich fallen könnte. Willi zog darauf Geld aus der Tasche, bezahlte

  1. Vorlage: heimlach
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W. Belka: Das Tagebuch des Steuermanns. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1919, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Tagebuch_des_Steuermanns.pdf/3&oldid=- (Version vom 31.7.2018)