Das Land Gigantea
Nachtschwarze Finsternis und unheimliches Schweigen lasteten über dem natürlichen Felsentunnel, in dem der Steuermann August Wend am Abend vorher nach bereits wochenlangem Marsche durch diese unterirdische, einsame Welt mit seinem jungen Gefährten, dem Kajütwärter[1] der von ihm gemieteten Motorjacht Frigga, Rast gemacht hatte. Diese Stille wurde nur durch das feine Plätschern und Gurgeln eines kleinen, an der einen Seite des Felsenganges entlangrinnenden Bächleins und gelegentliche rasselnde Schnarchtöne unterbrochen.
Dann erwachte der Steuermann infolge eines aufregenden Traumes, der ihm die Vorfälle vor Beginn dieser endlosen, erzwungenen Wanderung durch den Tunnel wieder ins Gedächtnis zurückgerufen hatte. Er hatte jene Szene mit aller Deutlichkeit nochmals durchlebt, als die drei Matrosen der Frigga auf der Heard-Insel im südlichsten Teile des Indischen Ozeans gemeutert und ihn und Ernst Pötter, den Kajütjungen der Jacht, in eine Höhle eingesperrt hatten, deren Zugang, der erst durch einen gewaltigen Gletscher in Form eines trichterförmigen Loches führte, sie dann mittels Schießpulver vernichteten und vielleicht für alle Zeit verschlossen. Besondere Umstände waren es gewesen, die die beiden Opfer der Meuterer hiernach veranlaßt hatten, in den im Hintergrunde der Höhle beginnenden Tunnel einzudringen. In der Grotte [2] selbst hätten sie verhungern müssen. Die einzige Hoffnung für sie blieb der Felsengang, der sie vielleicht wieder an die Oberwelt brachte. Vielleicht! Und die Unsicherheit dieser Hoffnung war dem Steuermann mit jedem weiteren Marschtage in dem fortgesetzt in südlicher Richtung verlaufenden Felsengang immer klarer zum Bewußtsein gekommen. Er, der mit der geographischen Lage der Heard-Insel genügend vertraut war, sagte sich, daß diese Richtung direkt auf den Südpol zuführe, also in eines der unwirtlichsten Gebiete der Erde. Sind doch die Südpolarländer im Gegensatz zu den Nordpolargegenden, wo man wenigstens Eisbären, Eisfüchse und anderes Getier sowie als behändige Bewohner der gemäßigten Landstriche die Eskimos antrifft, von einer Armseligkeit an tierischem und pflanzlichem Lebens, die sämtliche Forschungsreisende besonders hervorgehoben haben, wie ja überhaupt die Antarktis, das Südpolargebiet, dem Vordringen kühner Reisender stets sehr bald unüberwindliche Schwierigkeiten in den Weg gelegt hat.
August Wend hatte also geträumt und war darüber erwacht. Noch halb schlaftrunken starrte er vor sich hin in die durch keinerlei Lichtstrahl gemilderte Dunkelheit. Ihm kamen jetzt plötzlich, wie in den letzten Tagen so oft, seltsame Gedanken. Die schuldbeladene Seele dieses riesenstarken, kaltblütigen Mannes wurde durch die aufdämmernde Erkenntnis beunruhigt, daß all seine Verbrechen, die er aus Habgier begangen hatte, so die Beseitigung des größten Teiles der Besatzung des mit Goldbarren beladenen Dampfers Najade und die spätere Aussetzung der drei Überlebenden auf der Heard-Insel, weiter sein geduldiges Warten daheim in der Hafenstadt Heilmünde auf eine günstige und sichere Gelegenheit, die Goldschätze der Najade, die er auf den Kerguelen-Inseln versteckt hatte, zu bergen, – daß all diese mit größter verbrecherischer Schlauheit und kluger Ausdauer durchgeführten Pläne nun doch noch scheitern würden und daß es der rächende Arm der Vorsehung gewesen, der ihn gerade jetzt, wo er mit der Frigga die Goldbarren [3] hatte abholen wollen, hinabstieß in das Dunkel dieses finsteren, schier endlosen Tunnels, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien.
Das waren August Wends Gedanken. Nicht daß etwa das Gewissen in ihm sich gemeldet hätte. Nein, dieser hartgesottene Sünder und heuchlerische Biedermann, der in seiner Vaterstadt den harmlosen Blumenzüchter zuletzt gespielt und doch nur immer an die blinkenden Barren auf den Kerguelen gedacht hatte, begehrte jetzt nur in ohnmächtiger Wut gegen das tückische Schicksal auf, das ihn den nicht minder verbrecherischen Matrosen der Frigga in die Hände gegeben hatte. – Sollte er, August Wend, der sich aus so vielen verhängnisvollen Lagen glücklich herausgewunden hatte, hier in dieser Einsamkeit der Tiefen der Erde wirklich umkommen?! Sollte seine jahrelange Ausdauer, mit der er den Augenblick erwartet hatte, wo er die Freuden des Reichtums voll auskosten konnte, umsonst gewesen sein?! – Nein – niemals! Er durfte so nicht enden! Er würde leben, mußte leben! Noch hatten er und Ernst Pötter ja für einige Zeit Proviant! Und – wenn der Kajütjunge als unnötiger Esser ausfiel, dann – dann kam ihm das zugute. Wenn Ernst Pötter ausfiel, also – hier unten umkam, wo ein Mord nur die stillen Felsen als Zeugen hatte. – Nicht zum ersten Male war der Steuermann von diesen Gedanken beschlichen worden. Nein: die Beseitigung des Jungen war bereits beschlossene Sache. Und heute, jetzt gleich, sollte es geschehen. Nur nicht zaudern!
Der Steuermann war jetzt ganz munter geworden. Er hatte sich zu sitzender Stellung auf seinem Lager aufgerichtet, ließ nun die Augen suchend umhergleiten. Erst jetzt fiel ihm auf, daß die zweite, kleinere und sparsamer brennende Laterne, die nachts stets angezündet worden war, heute ihr trübes Licht nicht wie sonst durch die Dunkelheit schimmern ließ. War sie ausgegangen? – Wahrscheinlich! – August Wend holte sein Feuerzeug leise hervor: ein kleines Flämmchen glomm auf, das gerade genügte, den von so finsteren [4] Plänen Erfüllten erkennen zu lassen, daß der Platz, wo Ernst Pötter sich zum Schlafe niedergelegt hatte, leer war.
Der Steuermann wurde sofort von unbestimmtem Mißtrauen erfaßt. Sollte etwa der Junge sich heimlich mit den ganzen Lebensmitteln auf und davon gemacht haben?! Dann war, wenn er genügend Vorsprung hatte, der Zurückgebliebene verloren.
Ein eisiger Schreck durchzuckte bei diesem Gedanken den Steuermann, der nun mit einem Ruck sich erhob und die Stelle beleuchtete, wo er am Abend vorher die kleine Laterne hingestellt hatte. Nichts da! Die Laterne war verschwunden.
Aber die größere fand er noch vor, zündete sie an, trat zu dem Gepäck, untersuchte den Lebensmittelvorrat.
Das, was noch vorhanden, war nur mehr die Hälfte dessen, was gestern abend dagewesen! – Dem Steuermann dämmerte plötzlich die Wahrheit auf. Kein Zweifel! Ernst Pötter mußte geahnt haben, daß sein Leben durch seinen Begleiter bedroht war; er war dem Verhängnis entflohen, hatte die Hälfte des Proviants mitgenommen, ebenso die kleinere Laterne und genügend Petroleum.
Ein schrecklicher Fluch kam über des Enttäuschten Lippen. Dann aber raffte er schleunigst das Gepäck auf, machte sich marschfertig und eilte weiter in das Dunkel und die schaurige Einsamkeit des Felsenganges hinein.
Tage voller Entbehrungen, voller unerhörter Mühsale warteten des hastig Vorwärtsstürmenden, der immer noch hoffte, seinen entwichenen Gefährten einzuholen. Hätte August Wend nicht einen so widerstandsfähigen Körper besessen, würde er das Licht der Sonne nie mehr geschaut haben. Verdient hatte er es gewiß nicht, daß es ihm glückte, das Ende des Tunnels zu erreichen. Doch – die Vorsehung hatte eben Besonderes mit ihm vor. Der Hungertod im Schoße der Erde schien ihr nicht die genügende Strafe für diesen Bösewicht, der aus Goldgier so viele Menschen [5] hingemordet hatte. Anders sollte er sterben, im leuchtenden Sonnenschein, angesichts einer üppig wuchernden Natur, inmitten einer Landschaft, die alles bot, selbst einen verwöhnten Gaumen zu befriedigen.
Ja – August Wend hatte selbst tagelangem Hunger getrotzt. Und seine Widerstandsfähigkeit, sein Trieb zum Leben hatten dann noch einen neuen Ansporn durch eine Holztafel erhalten, die er in dem Felsengange vorfand und deren Inschrift ihm, halb zu seiner maßlosen Freude, halb zu seiner herben Enttäuschung, besagte, daß sein Neffe und dessen Gefährte Peter Strupp diesen selben unterirdischen Weg glücklich zurückgelegt und dann ein Land entdeckt hätten, dem sie den Namen Gigantea gegeben.
Der Tunnel führte also hinaus in die Freiheit, an die Oberwelt! Das war August Wend zunächst das wichtigste gewesen. Neu belebt hatte er den Marsch fortgesetzt, und gerade am Morgen bemerkte er dann vor sich einen breiten, hellen Lichtschimmer: Die Sonne fiel mit gleißenden Strahlen in den breiten Schlund hinein, der den Ausgang des Felsenganges bildete!
Ein triumphierendes Lächeln umspielte den grausamen Mund des Steuermanns, der jetzt draußen im warmen Sonnenlicht stand, mit vollen Zügen die milde Luft einatmete und staunend dabei die Augen über das Tal und die ferne Landschaft hingleiten ließ, wo alles grünte und blühte, wo Bäume und Sträucher von einer nie geschauten Größe gediehen, wo nirgends etwas von den Eis- und Schneemassen zu bemerken war, die doch eigentlich hier hätten alles Leben unter sich begraben müssen! Denn – daß dieses Land Gigantea am Südpol lag, nur liegen konnte, wußte der Steuermann mit aller Bestimmtheit. Über sechs Wochen hatte der Marsch durch die Tiefen der Erde unter dem Südpolarmeer hinweg gedauert! Mithin mußte eine Entfernung zurückgelegt worden sein, die der Strecke bis mitten hinein in die Antarktis, wo noch keines Menschen Fuß je gewandelt, entsprach.
Meine lieben jungen Freunde und Leser! Sucht nicht auf einer Karte der Südpolarländer den Namen Gigantea. Ihr werdet dort viele Namen finden, nur den einen nicht: Gigantea!
Die, denen dieses Land sich zuerst erschloß, Karl Wend und Peter Strupp, hatten es nicht ohne Grund Gigantea genannt. Gigantisch heißt gewaltig, riesengroß: Giganten ist die Bezeichnung für sagenhafte Riesen. Also kann man Gigantea übersetzen: Das Land des Riesenhaften.
Und weshalb verschweigt der Atlas diesen Namen, weshalb habt Ihr auch sonst nie etwas von diesem Lande gehört? – Weil niemand denen, die es entdeckt und längere Zeit bewohnt hatten, nach ihrer Rückkehr in die Heimat die Schilderungen ihrer seltsamen Abenteuer glauben wollte, weil die Gelehrten erklärten, unsere Helden, die wir bald näher kennen lernen werden, hätten nur infolge Überreizung ihres Gehirns all das zu sehen und zu erleben geglaubt! Ob dem so ist, – wer vermag dies zu entscheiden?! Nie wieder wird ja aller Wahrscheinlichkeit nach ein Lebender jene Gebiete, die den eigentlichen Südpol bilden, betreten. Wir wollen es also dahingestellt sein lassen, ob Gigantea nur ein Phantasiegebilde ist. Jedenfalls ist aber das, was die Helden dieser unserer Erzählung dort vorfanden und durchmachten, so voll spannender Einzelheiten, daß wir ihnen ebenso gern in dieses Land in Gedanken folgen wie etwa den kühnen Forschern, die der berühmte Jules Verne nach dem Mittelpunkt der Erde vordringen läßt. –
Gigantea! – Pflanzen- und Tierwelt dort gehörten noch einer Epoche der Erdentwicklung an, von der man sich heute nur noch aus den hie und da ausgegrabenen Überresten von Tieren und Pflanzen ein Bild machen kann. Unsere Phantasie vermag es sich kaum vorzustellen, daß in jenen Zeiten zum Beispiel vierfüßige Pflanzenfresser von dreißig Meter Länge [7] gelebt haben, daß es Vögel und andere Geschöpfe gab, die sowohl durch ihre Größe als durch ihre Gestalt an die Fabelwesen erinnern, die uns in Märchen und Sagen begegnen. Und doch: Es existierten früher einmal all diese seltsamen, abenteuerlichen und riesigen Vertreter der Tierwelt, die zumeist die sogenannten Übergangsformen zu unseren heutigen Tierarten bildeten und deren in Kalkstein oder Morästen eingebettete Knochen nach ungeheuren Zeiträumen von den Gelehrten der Gegenwart mühsam wieder zusammengesetzt worden sind. In den Naturmuseen der Großstädte erlebten diese Ungetüme so ihre Wiederauferstehung. –
Karl Wend und Peter Strupp hatten zuerst zu träumen geglaubt als sich ihnen in diesem fruchtbaren warmem Gebiet am Südpol all dies Wunderbare in so verschiedener Form darbot. Es waren ja nicht die Tiergestalten allein, die hier in abenteuerlicher Größe auftraten. Auch Bäume und Sträucher zeigten eine Höhe und eine Eigenart ihrer Blätter, Blüten und Früchte, wie sie das ausschweifendste Hirn kaum sich auszumalen vermag.
Als die beiden Gefährten, die bereits unendlich viel erduldet und doch den Mut nie verloren hatten, dann aus einer langen, schmalen Insel am rechten Ufer eines mächtigen Stromes sich ansiedelten, aus Bambus ein Wohnhaus und andere Baulichkeiten errichteten und bald ganz heimisch in Gigantea geworden waren, hatten sie eines Tages beschlossen, in dem Tunnel jene Tafel aufzustellen, die später nicht nur Ernst Pötter, der Kajütjunge der Frigga, sondern auch der Steuermann und drei weitere Überwinder des endlosen Felsenganges finden sollten. Da die Inschrift der Tafel auch den Weg zu der Niederlassung angegeben hatte, sehen wir dort zur Zeit, als der Steuermann ebenfalls glücklich das Ende des Tunnels erreicht hatte, im ganzen sechs Deutsche vereint, von denen wir in dieser Erzählung erst drei, – Karl Wend, Peter Strupp und Ernst Pötter, begegnet sind. Die übrigen drei aber sind ein Chemiker namens Werner [8] Seiffert, ferner Heinrich Wend, der Bruder des Schiffsjungen der Najade, und ein Ingenieur Richard Kräwel, die den eifrigen Lesern der Erlebnisse einsamer Menschen kaum mehr fremd sein dürften, da in einem der vorhergehenden Bändchen unter dem Titel „Auf dunklem Pfade“ mit allen Einzelheiten geschildert ist, wie der Chemiker und Heinrich Wend in dem von ersterem erfundenen Unterseeboot Delphin nach der Heard-Insel fuhren, um Karl Wend zu befreien, wie sie unterwegs den Ingenieur an Bord nahmen, dann vereint die Wanderung durch den Tunnel wagten und auch wohlbehalten in der Ansiedlung an dem breiten Strome Giganteas anlangten, wo sehr bald nach ihnen auch Ernst Pötter eintraf, der dann die Kunde mitbrachte, daß man mit dem Erscheinen des Steuermanns hier im unerforschten Lande in kurzem rechnen müsse.
Diese Nachricht, der Verüber so vieler schändlichen Verbrechen sei unterwegs nach Gigantea, rief eine nicht geringe Erregung bei den Bewohnern der Niederlassung hervor. Man kannte ja diesen Elenden genugsam, um sich zu sagen, daß er sich kaum nach der Ansiedlung trauen, vielmehr versuchen würde, allein hier in der Verborgenheit sein Leben zu fristen und nebenbei vielleicht recht gefährliche neue Pläne auszuführen, die aller Wahrscheinlichkeit darauf abzielen würden, die zu beseitigen, von denen er kaum eine milde Behandlung zu erwarten hatte, nachdem sie durch Einsicht in sein geheimes Tagebuch von seinen Verbrechen Kenntnis erhalten hatten. (Vergleiche hierzu die Anfangserzählung dieser fortlaufenden Geschichte, die sich in der Hauptsache um das Gold der Najade dreht: „Das Tagebuch des Steuermanns“).
Man beschloß daher, daß Peter Strupp und Karl Wend, die beiden Gründer der Ansiedlung am Germania-Strome (so war dieser größte Fluß Giganteas getauft worden), sofort nach jenem Tale sich begeben sollten, wo der Tunnel mündete. Die Wahl fiel auf die Genannten, weil sie allein vorläufig imstande waren, die seltsamen geflügelten Reittiere zu benutzen, [9] die sie für diese Zwecke großgezogen und gezähmt hatten.
Es handelt sich hierbei um eine Art von geflügelten Eidechsen, Tiere von sechs Meter Länge etwa, die bequem einen Menschen mit großer Schnelligkeit durch die Luft zu tragen vermochten. Bisher besaß die Niederlassung vier von diesen Flugdrachen, wie die Wissenschaft sie bezeichnet hat.
Peter Strupp und Karl brachen ohne Säumen auf. Die Flugeidechsen waren in einem großen Stall untergebracht. Man wählte die beiden zuverlässigsten aus, und bereits vier Stunden nach dem Eintreffen Ernst Pötters auf der Ansiedlung, erhoben sich die mächtigen Tiere in die Luft, ihre Herren, von denen sie durch Schläge mit langen Bambusstöcken gelenkt wurden, auf dem Rücken mitsichführend.
Die Entfernung bis zu jenem Tale des hohen Gebirgszuges, der die nördliche Grenze des fruchtbaren Teiles des antarktischen Gebietes darstellte, betrug etwa achtzig deutsche Meilen. Da Peter Strupp und Karl diesen Weg bereits früher mehrmals zurückgelegt hatten, wußten sie genau, daß die Flugdrachen dazu knapp zwei Stunden brauchten.
Als das Tal in Sicht kam, zwang Karl sein merkwürdiges Reittier zum Niedergehen. Er war ein Stück vorausgeflogen, wartete nun, bis auch Peter Strupp gelandet war und gleichfalls seine geflügelte Rieseneidechse mit festen Riemen, die die Flughäute der Tiere nicht zum Entfalten kommen ließen, an eine Art von Zeder mit einem Stammdurchmesser von gut fünfzehn Meter festgebunden hatte. Die Flugdrachen begannen sofort das mannshohe Gras nach Nahrung zu durchsuchen, die für sie hauptsächlich in einer Art Riesenameise bestand, deren ausgewachsene Exemplare bis zu dreißig Zentimeter lang wurden.
Die beiden Gefährten selbst machten den Rest des Weges zu Fuß, wobei sie genau auf ihre Umgebung und vielleicht vorhandene menschliche Spuren achtgaben. Sie hatten sich mit zwei Doppelbüchsen bewaffnet, die der Chemiker und seine Begleiter mitgebracht [10] hatten, und waren entschlossen, den Steuermann nötigenfalls mit Gewalt nach der Ansiedlung zu schaffen.
Als sie sich dem Hintergrunde des Tales näherten, wo schon von[2] weitem der Ausgang des Tunnels als schwarzer Schlund zu erkennen war, bemerkte Peter Strupp seitwärts in dem hier sehr dicht, wenn auch nicht allzu hoch stehenden Grase eine deutlich sich abzeichnende, niedergetretene Bahn, in der er sofort die Fährte eines Menschen erkannte, der genau dieselbe Stelle wiederholt als Pfad benutzt hatte. Die Spur war nach Strupps Ansicht etwa einen Tag alt, konnte also nur von dem Steuermann herrühren. Die Freunde folgten ihr unter den größten Vorsichtsmaßregeln und stellten bald fest, daß August Wend in einer höhlenartigen Vertiefung dicht am Eingang des Tales genächtigt haben mußte und daß er dann das Tal verlassen und sich dem Germania-Flusse zugewandt hatte. Die Fährte verlor sich jedoch sehr bald in einem schnellfließenden, flachen Bache, in dem der Steuermann ohne Zweifel nur deshalb entlanggewatet war, um seine Spuren zu verwischen. Dies war ihm auch so vollständig gelungen, daß selbst mehrstündiges Suchen den Freunden keinen Anhaltspunkt dafür gab, wohin der gefährliche neue Bewohner Giganteas weiter seine Schritte gelenkt hatte.
Gerade als Peter Strupp erklärte, man könne das zwecklose Umherlaufen nun wohl aufgeben, deutete Karl mit einem lauten Ausruf der Überraschung in die Höhe. Dort – zog in ruhigem, stetem Fluge eine der geflügelten Rieseneidechsen dahin, und – auf ihrem Rücken konnte man selbst mit bloßem Auge genau einen Mann erkennen, der aus dem Kopfe eine dunkle Schirmmütze trug. Eine solche aber war bei den bisherigen Bewohnern der Niederlassung nicht vertreten. Mithin war es August Wend, der dort hoch im Äther auf einem der gezähmten Flugdrachen, den er von der Zeder losgebunden haben mußte, entfloh.
Peter Strupp stieß bei diesem Anblick eine wilde Verwünschung aus. „Es unterliegt keinem Zweifel,“ [11] meinte er dann, „daß der Steuermann zufällig in der Nähe gewesen ist, als wir landeten. Er hat uns beobachtet und mitangesehen, wie wir mit unseren lebenden Flugmaschinen umgingen, hat sich dann in keckem Selbstvertrauen, das Tier ebenfalls lenken zu können, eines der Flugdrachen bemächtigt und wird sich nun schön ins Fäustchen lachen, daß wir – wir Dummköpfe ihm zu einem so seltenen Roß verholfen haben. Er ist uns jetzt gefährlicher als vordem, da er über das gleiche vortreffliche Fortbewegungsmittel verfügt wie wir. – Uns bleibt jetzt nichts anderes übrig, als zu zweien den noch vorhandenen Flugdrachen zu besteigen, der uns, wenn auch langsamer und mit einigen Ruhepausen, nach unserer Insel zurückbringen wird, wo wir den anderen Gefährten gegenüber nur zugeben können, daß wir uns bei dieser Streife nach dem gefährlichen Menschen recht töricht benommen haben.“
Peter Strupps Vermutung war tatsächlich in allen Punkten richtig. Der Steuermann hatte sogar beim Beobachten der Landung der Flugdrachen sehr genau aufgepaßt, welches der beiden Tiere leichter zu lenken und gehorsamer war. Dieses wählte er nachher aus, als er aus dem Verhalten Strupps und seines älteren Neffen unschwer gemerkt hatte, daß sie hinter ihm drein waren und ihn fangen wollten.
Weiter sagte ihm aber auch die ganze Art und Weise, wie die beiden Reiter der geflügelten Rieseneidechsen seine Fährte verfolgten oder aber nachher wiederzufinden suchten, daß seine erbittertsten Gegner – und als solche betrachtete er den Chemiker und Heinrich Wend – bereits hier im Lande Gigantea vor ihm angelangt sein mußten, sich dann mit Strupp und Karl vereinigt und nachher von dem glücklich dem Tunnel entronnenen Ernst Pötter erfahren hätten, daß mit seinem Eintreffen hier in kurzem zu rechnen sei. [12] Nur so war es ja erklärlich, daß die Flugdrachenreiter, nachdem sie abgestiegen waren und seine Fußspuren gefunden hatten, mit so großer Hartnäckigkeit diesen nachgingen und nichts unterließen, um festzustellen, wo er geblieben.
Das anfängliche Gefühl des Unbehagens bei diesem ersten Luftritt wurde sehr bald schwächer und verschwand schon nach zehn Minuten vollständig, als August Wend erst gemerkt hatte, wie sicher das mächtige, schnelle Tier durch die klare, sonndurchwärmte Luft dahinzog. Mehr noch: Es stellte sich bei dem Steuermann sogar ein Gefühl heller Freude über diese rasche Art der Fortbewegung ein, und mit einem Lächeln voller Hohn entwarf er nun bereits wieder allerlei neue finstere Pläne, die auf nichts anderes abzielten, als den scheinbar schon ganz aussichtslos gewesenen Kampf um die Goldschätze der Najade hartnäckig, verschlagen und rücksichtslos fortzuführen.
Hierzu gehörte in erster Linie, so überlegte der Steuermann sich die Sachlage, daß er sich mit guten Schußwaffen versah. Besaß er diese erst, dann sollte es nicht lange dauern, bis er seine Gegner unschädlich gemacht hätte.
Daß August Wend ein Verbrecher von nicht gerade gewöhnlichen Geistesfähigkeiten war, hatte er schon zur Genüge durch seinen ebenso brutalen wie raffinierten Anschlag auf das Goldschiff bewiesen. Wir wollen unsere lieben Leser, denen auch die dieser Erzählung vorangegangenen Bändchen bekannt sind, daran erinnern, daß er – doch gewiß ein Gedanke von seltener Vertiertheit – die Besatzung der Najade seiner Zeit bis auf drei Leute durch ein künstliches Hervorrufen des gefährlichen gelben Fiebers an Bord beseitigt hatte und dann, wie in den Heften „Das Tagebuch des Steuermanns“ und „Das Gold der Najade“ geschildert ist, auch weiterhin sein Verhalten ganz darauf einrichtete, einen durch Naturgewalten, heftige Stürme verursachten Untergang des wertvollen Schiffes recht glaubwürdig erscheinen zu lassen.
Kein Wunder mithin, daß dieser geistig gut veranlagte [13] Mann auch jetzt sich folgendes überlegte, worauf ein anderer vielleicht nicht so leicht gekommen wäre: Der Flugdrache, der doch fraglos gezähmt und daher zu derartigen Luftreisen schon häufig benutzt ist, wird Dich am schnellsten und sichersten in die Nähe der Ansiedlung führen, da er den Weg dorthin durch seinem hochentwickelten Tierinstinkt, auch ohne irgendwie gelenkt zu werden, finden wird. Bist Du aber erst einmal in der Umgegend der Ansiedlung angelangt, wo jetzt doch nur die neuen, mit den ganzen Verhältnissen dieses Landes erst wenig vertrauten Ankömmlinge anzutreffen sind, da ja die eigentlichen Entdecker Giganteas noch in der Nähe des Gebirges und jenes Tales weilen, so wird es mir schon auf diese oder jene Art glücken, zunächst einmal zu einer Schußwaffe zu gelangen. –
Das waren also August Wends Gedanken.
Um nun die Niederlassung rechtzeitig zu Gesicht zu bekommen und nicht allzu weit davon nieder zu gehen, zwang er nach Ablauf der ersten Stunde den Flugdrachen durch leichte Stockschläge, sich der Erde bis auf etwa fünfzig Meter zu nähern.
Die Rieseneidechse hatte auch wirklich den kürzesten Weg nach jener Insel im Germania-Flusse genommen, wo Strupp und Karl Wend ihre netten Bambushäuschen errichtet hatten, weil gerade dieses langgestreckte Eiland infolge seiner Lage und Beschaffenheit den besten Schutz gegen die Angriffe der Ungeheuer dieses weiten Gebietes gewährte. Waren doch diese riesigen Flugeidechsen unter den Tieren Giganteas verhältnismäßig harmlose oder kleine Geschöpfe. Besonders zahlreich fand sich in Gigantea jene geradezu unwahrscheinlich große Art von Vierfüßern vor, der die heutigen Gelehrten den Namen Atlantosaurus gegeben haben, Tiere von etwa 30 Meter Länge und 10 Meter Höhe mit sehr dicken, plumpen Beinen und gepanzertem Leibe, die die Wissenschaft als die Ahnen der später Lindwürmer genannten Tiergattung bezeichnet hat. Gerade eines dieser Reptile, das zu der jetzt längst ausgestorbenen Familie der Dinosaurier [14] gehört, einer Übergangsform von Kriechtier zum Vogel, war es auch, dem der Steuermann bei seinem windschnellen Fluge nach der Ansiedlung inmitten einer Lichtung eines unabsehbaren Waldgebietes begegnete. Nun – August Wend war in der Geschichte der Entwicklungsstadien unserer Erde wenigstens so weit bewandert, daß er sofort wußte, hier ein Untier aus einer Zeit vor sich zu haben, die ungemessene Jahre zurücklag. Hatte ihn schon die Größe und Eigenart des Flugdrachen, auf dessen Rücken er jetzt saß, darauf vorbereitet, hier allerhand Tierformen zu begegnen, die man jetzt nur durch die Überreste ihrer Knochengerüste sich bildlich vorstellen kann, so war er nunmehr mit Recht überzeugt, daß Gigantea ein Gebiet unserer Erde war, das in seiner Tier- und auch Pflanzenwelt Millionen von Jahren unverändert überdauert hatte – als einziges Land dieses Art! – Mit größerem Interesse als bisher achtete er daher nach der Begegnung mit dem Ungetüm von Atlantosaurus auf alles, was sich seinen scharfen Augen an Merkwürdigem darbot. Und – zu sehen gab es wirklich übergenug. Da gab es Wälder und einzelne Gehölze von Bäumen, die er bisher nie geschaut hatte. Manche davon ähnelten unseren heutigen Kiefern, waren aber bis zu 100 Meter hoch mit entsprechendem Stammdurchmesser[3]; da gab es ferner geradezu wundervolle farbenprächtige Sträucher, fast sämtlich höher als unsere ältesten Buchen; weiter Blumen mit Blüten, deren leuchtende Farben kein noch so berühmter Landschaftsmaler hätte wiedergeben können. Und so ging es fort. Überall Seltsames, Staunenswertes, überall Eindrücke für Auge und Geist, die schier überwältigend waren.
Dann fiel sein Blick, als der Flugdrache soeben wieder, bedeutend höher steigend, einer der Riesenwaldungen ausgewichen war, auf das im Sonnenschein gleißende Silberband des breiten Stromes, den er bisher stets zur Linken gehabt hatte. Sein Reittier strebte jetzt dem Flusse näher zu, und bald konnte er unter sich eine Insel erkennen, deren Länge er auf [15] gut drei Meilen schätzte. Er ahnte, daß dies das Eiland sei, von dem auf jener letzten Tafel in dem endlosen Tunnel die Rede gewesen war. Deshalb ließ er die Riesenflugeidechse nunmehr noch tiefer fliegen, nötigte sie, stellenweise sogar ganz dicht über dem Wipfelmeer weiter Haine dahinzustreichen. Er wollte von der Ansiedlung aus nicht bemerkt werden, was ihm auch völlig gelang. Als er nämlich, nachdem der Flugdrache auf einer von mannshohem Grase bestandenen Wiese niedergegangen und mit den Riemen an eine Art turmähnlicher Pyramidenpappel befestigt war, zu Fuß weiter vordrang und nach halbstündigem Marsch auf Spuren stieß, die auf die unmittelbare Nähe der Niederlassung hindeuteten, fand er auf der nach dem Flusse hinausgebauten Veranda des Wohngebäudes die sämtlichen Gäste der ersten beiden Entdecker dieses Landes versammelt. Geschützt durch die grünen Wände der Riesenblumen, war er an das Bambushaus ohne Schwierigkeiten bis auf zehn Meter Entfernung herangeschlichen. In lebhafter Unterhaltung saßen da der Chemiker Seiffert, sein Neffe Heinrich, Ernst Pötter und noch ein vierter Mann, den August Wend nicht kannte. Es war dies kein anderer als jener Ingenieur Richard Kräwel, ein Jugendfreund des Chemikers und Erfinders, den man während der Fahrt durch das Rote Meer von einer Insel mitgenommen hatte, wo er als erfolgreicher Diamantensucher lange Zeit in völliger Abgeschiedenheit unter recht schwierigen Lebensbedingungen als eine Art freiwilliger Robinson ansässig gewesen war.
Der Steuermann hatte sich kaum davon überzeugt, daß die vier auf der Veranda von ihrem Gespräch genügend in Anspruch genommen zu sein schienen, und daß sie ihre Plätze vorläufig nicht verlassen würden, als er auch schon von der Rückseite in aller Stille in das Haus eindrang und dann auch zu seiner Genugtuung sehr bald den Raum fand, wo die von Seiffert und seinen Begleitern mitgebrachten Waffen aufbewahrt wurden. Zwei von den drei Doppelbüchsen hatten Strupp und Karl Wend mitgenommen. So [16] konnte der Steuermann sich nur noch das dritte Gewehr sowie drei Pistolen modernster Konstruktion und sämtliche vorhandenen Patronen, auch ein Handbeil, ein Dolchmesser und einen der langen Speere mit Bambusschaft und Eisenspitze mitnehmen, die Peter Strupps geschickten Händen ihre Herstellung verdankten.
Diesen Raub auch glücklich in Sicherheit zu bringen, gelang dem kühnen Verbrecher nur zu gut. Jeder weniger Waghalsige wäre nun wohl sofort zu dem Flugdrachen zurückgekehrt und hätte alle weiteren Unternehmungen gegen die Bewohner dieser einzigen menschlichen Ansiedlung auf später verschoben. Nicht so August Wend! Er war tollkühn genug, sich hinter dem größten der Stallgebäude zu verbergen und die Heimkehr der geflügelten Eidechse, die seinen Neffen Karl nach dem Gebirge und dem Tale getragen hatte, zu erwarten. Glaubte er doch, Karl würde allein das schnelle Reittier benutzen, um schleunigst die Nachricht von der Entführung des anderen Flugdrachens den Gefährten zu überbringen.
Seine Geduld wurde aus eine harte Probe gestellt. Fast anderthalb Stunden vergingen, bis endlich am Himmel ein schnell sich vergrößernder Punkt auftauchte: Die näherkommende Rieseneidechse.
Der Steuermann hatte inzwischen die Doppelbüchse geladen, auch verschiedene Zielübungen gemacht, um seines Schusses nachher sicher zu sein. Er war ein guter Schütze. Wenn das Gewehr zuverlässig schoß, mußte es ihm gelingen, den Flugdrachen so zu treffen, daß dieser beim Landen schwer verwundet abstürzte, anstatt sanft niederzugehen.
Noch ein paar Minuten. Jetzt war es so weit. Deutlich ließ sich mit bloßem Auge der helle Unterleib der geflügelten Eidechse unterscheiden. Nun sah August Wend auch die doppelte Last auf dem Rücken des Drachen. Und er frohlockte: Vielleicht brachen sich gleich beide Reiter bei dem Sturze das Genick!
Ahnungslos schwebte das mächtige Tier mit seinen [17] beiden Herren in einer Art Gleitflug dem Platze vor dem großen Stalle zu.
Plötzlich zerrissen zwei scharfe Detonationen die Luft, gerade als die Rieseneidechse noch zwanzig Meter über der Erde sich befand. Und – August Wend hatte nur zu gut getroffen! Beide Kugeln saßen in dem hellen, fast weißen Kehlfleck, durchschlugen die Weichteile und drangen in den obersten Wirbelknochen ein. Nicht daß diese Verletzungen tödlich waren! Nein, dazu gehörte bei einem solchen Ungetüm doch mehr. Aber infolge der Erschütterung des einen Wirbels durch die Kugelaufschläge wurde das Rückgrat und damit auch das Hirn des Tieres so stark in Mitleidenschaft gezogen, daß eine Art von kurzer Betäubung entstand und das riesige Reptil mit einem Male die mit dem Körper durch Flughäute verbundenen Beine krampfhaft anzog, worauf es wie eine leblose Masse in die Tiefe stürzte.
Immerhin hatten Peter Strupp und Karl die Geistesgegenwart besessen, sich sofort an den knorpeligen Hornplatten des Rückenpanzers der Eidechse festzuhalten, so daß, als ihr betäubtes Reittier nun wie ein Klotz herabsauste und auf die linke Seite fiel, nur ein nicht allzu starker Anprall gegen den Boden ihnen die Bewegungsfreiheit ihrer Glieder für einige Sekunden raubte.
Gewiß: sie waren mit dem Leben davongekommen! Aber die nun folgende Szene bewies ihnen, wie ungemein gefährlich ihr Feind war und wie man diesen einzelnen Mann mehr als ein halbes Dutzend Widersacher zu fürchten hatte.
Kaum waren die Schüsse gefallen, kaum war zum Entsetzen der vier Gefährten der Heimkehrenden, die dieser Szene als ebenso ahnungslose Zuschauer beigewohnt hatten, der Flugdrache abgestürzt, als Wend auch schon aus seinem Versteck hervorsprang und mit [18] vorgehaltener Pistole die unbewaffneten oder halb betäubten sechs Leute zum Hochheben der Arme und zum bewegungslosen Stillstehen zwang.
Dann befahl er mit geradezu hohngesättigtem Lächeln dem Kajütjungen Ernst Pötter, den anderen die Hände auf dem Rücken zu binden, wodurch er jeden weiteren Widerstand unmöglich machte.
„Ich freue mich außerordentlich,“ sagte er mit ironischer Höflichkeit, „mich den hier Versammelten als der neue Herr und Gebieter von Gigantea vorstellen zu können. Wer ich bin, wissen sie ja wohl! Ganz besonders freue ich mich aber über das Wiedersehen mit meinen lieben Neffen –“ Der bisher so hohnvolle Ton wurde ganz plötzlich jedoch drohend und rachelüstern, als des Steuermanns Blick jetzt auf den Chemiker Seifert fiel. „Ah – da sind Sie ja auch, Sie scheinheiliger Halunke der Sie doch fraglos den blöden Burschen, den Heinrich, dazu verführt haben, mir mein Tagebuch für kurze Zeit zu entwenden. Nun – das soll Ihnen teuer zu stehen kommen! Mitwisser meiner Geheimnisse zu sein, ist eine gefährliche Sache, – das werdet Ihr Alle bald merken!“ In seinen Augen funkelte Triumph und jene kaltherzige Entschlossenheit, die August Wends Verbrechen einzig und allein bisher hatte gelingen lassen.
Jetzt war Ernst Pötter gerade bei dem jüngeren der Brüder Wend angelangt, schlang ihm den Riemen um die Handgelenke und mußte ihn dann auf einen drohenden Zuruf des Steuermanns hin noch schärfer anziehen. Er tat’s jedoch nur scheinbar, wie sich bald zeigen sollte.
Die bisherigen Insassen der Ansiedlung waren nun tatsächlich wehrlos, denn auch Ernst Pötter mußte es ruhig hinnehmen, daß er genau so wie die übrigen von August Wend selbst gefesselt wurde. Dieser, die schußfertige Waffe stets in der halb erhobenen Hand, schien jetzt zu überlegen, was er mit seinen Gefangenen zunächst beginnen solle. Am liebsten hätte er sie sofort beseitigt, das heißt einen nach dem andern niedergeschossen. Aber ein solcher Massenmord war [19] sogar für seine, weicheren Regungen kaum mehr zugängliche Seele ein allzu blutiges Beginnen. – Ja – wenn er Gift besessen hätte! Dann wäre es ihm leicht geworden, seine Feinde ins Jenseits zu befördern, ohne geradezu Auge in Auge mit seinen Opfern ihnen das Lebenslicht auszublasen. Es wäre so bequem gewesen, ihnen das Gift ins Essen zu mischen! Als August Wend diese abscheulichen Pläne in seinem verbrecherischen Hirn kaltblütig erwog, fiel ihm unwillkürlich jener Tag ein, als er aus der Najade das große Sterben unter der Besatzung dadurch hervorgerufen hatte, daß er die Bazillen des gelben Fiebers heimlich in die Speisen tat. – Schade, dachte er weiter, daß ich hier keine solchen Bazillen habe, Doch – vielleicht finde ich etwas anderes, das den gleichen Erfolg hat!
Während er sich mit so verruchten Gedanken abgab, standen seine Gefangenen regungslos in einer Reihe da. Auch das Hirn dieser sechs arbeitete mit unheimlicher Schnelligkeit. Nur waren es hier andere Pläne, die erwogen, wieder verworfen, umgeändert und hastig auf ihre Durchführbarkeit hin geprüft wurden. Pläne, die auf eine schleunige Befreiung aus dieser schlimmen Lage abzielten. Daß dieses Denken bei allen sechs Gefährten das gleiche war, lag ja so sehr nahe. Sie wußten ja nur zu gut, mit wem sie es hier zu tun hatten und wie einzig und allein nur eine sofortige Wendung der Dinge sie noch vor dem Äußersten bewahren konnte.
Der Steuermann schaute sich jetzt suchend um. Ganz in der Nähe stand eine Buche mit einem Stammdurchmesser von gut fünf Meter. An diesen Baumriesen mußten die Gefangenen sich nun mit dem Rücken anlehnen, und wieder war es Ernst Pötter, dem die Aufgabe zufiel, seine Gefährten durch mehrere lange Riemen ganz fest an die Buche zu binden. Wend hatte ihm die Fesseln abgenommen, überwachte wieder sehr scharf jede Bewegung des Kajütjungen der Frigga und tat mit ihm nachher ein gleiches, als die übrigen nunmehr, ohne infolge der Dicke des Stammes [20] einander sehen zu können, wie am Marterpfahle dastanden.
Bisher hatte Peter Strupp als einziger den Verbrecher eines Wortes gewürdigt, indem er ihm sagte, es sei noch lange nicht aller Tage Abend, und unverhofft käme oft, – worauf August Wend hart aufgelacht und erwidert hatte: „Maul halten, sonst gibt’s eins drauf! Im übrigen ist’s auch sehr zweifelhaft, ob Ihr diesen Abend noch erleben werdet!“
Peter Strupp hatte durch diese zuversichtliche Bemerkung den Steuermann nur zu einer unvorsichtigen Äußerung darüber reizen wollen, was jener wohl mit ihnen anfangen werde. Doch August Wend fiel auf diesen Trick nicht hinein, machte jetzt kurz kehrt und betrat das Wohnhaus. Bald hatte er hier gefunden, was er suchte. In dem sauberen, durch gespaltenes Bambusrohr gebildeten Fußboden der Küche war eine kleine Falltür eingefügt, die in einen aus Feldsteinen gemauerten Keller hinabführte.
Wend beschloß, die fünf hier einzusperren, nachdem er sich erst einmal die Farm genauer angesehen hatte. Dazu ließ er sich vollauf Zeit. So gelangte er denn auch, als er am Ufer der Insel ein Stück nach Norden zu weiterging, an eine sumpfige Stelle, die sich sehr tief in das Land hineinzog. Es war ein Morast mit zahllosen winzigen Inselchen, auf denen stets ein paar seltsame Riesenpflanzen, schon mehr Bäume zu nennen, wuchsen und dem feuchten Erdreich durch ihr Wurzelwerk festeren Halt gaben.
Diese Riesenpflanzen, sämtlich Vorfahren unserer heutigen, am häufigsten austretenden Sumpfgewächse, waren in den verschiedensten Arten hier heimisch, sämtlich aber von einer Höhe, Farbenpracht der Blüten und einem Riesenumfang der Blätter, daß ein Naturfreund sich kaum daran hätte sattsehen können. Besonders zahlreich waren die sogenannten Krugpflanzen hier in Exemplaren bis zu acht Meter Höhe vorhanden. Ihre Eigentümlichkeit besteht darin, daß sie an ihren kletternden Blattstielranken krugförmige Erweiterungen besitzen, an deren ringförmigem Rand ein [21] richtiger Deckel sich befindet, und daß sie in diesem Kruge Insekten fangen, die an der glatten Innenfläche hinabgleiten und so in eine Flüssigkeit fallen, deren Zusammensetzung in nicht allzu langer Zeit eine völlige Auflösung und Verdauung der Tiere bewirkt. Es handelte sich also mit einem Wort um enorm großem Angehörige jener Gruppe von Pflanzen, die man als „insektenfressende“ bezeichnet und die heute noch in vielen sehr verschiedenen Arten, natürlichen normalen Größenverhältnissen, auf unserer Erde gedeihen, auch in Deutschland. Wir wollen nur den rundblätterigen Sonnentau, den Wasserhelm und das Fettkraut nennen, alles Pflanzen, die man leicht an feuchten Stellen findet und an denen man bequem beobachten kann, wie diese Fleischfresser unter unserer einheimischen Flora ihre Beute einfangen, zumeist kleinere Insekten, aber auch Bienen, Wespen und andere. Die „Insektenfänger“ haben nun sämtlich, wie dies schon oben von den Krugpflanzen erwähnt ist, am Grunde ihrer Fangvorrichtungen eine scharfe Flüssigkeit, die man geradezu als Verdauungssaft bezeichnen kann. Der Saft tötet die Opfer, löst sie auf und führt der Pflanze dann die ihr zum Gedeihen nützlichen Stoffe zu. Versuche haben ergeben, daß die Pflanzen, die recht reichlich mit Käfern und so weiter „gefüttert“ wurden, bedeutend kräftiger wurden als andere, nicht so gut ernährte. –
Der Steuermann fand nun – zu seinem Unheil, wie wir bald sehen werden – dicht am Rande des Morastes ein geradezu riesenhaftes Exemplar einer Krugpflanze, deren Kannen gut sieben Meter lang waren und oben einen Durchmesser von fast vier Meter hatten. Er wäre auf dieses ungeheure Gewächs, das recht abenteuerlich mit seinem Kannenschmuck wirkte, vielleicht nie aufmerksam geworden, wenn nicht aus einer der größten Kannen ein durchdringendes, angstvolles Quieken hervorgedrungen wäre, das nur von einem Tiere herrühren konnte. Der Steuermann wußte nichts von der Eigenart der Krugpflanzen und der anderen Insektenfänger. Neugier war es, die ihn [22] dazu verlockte, die gigantische Erle zu erklimmen, um deren unterste Äste die Blattstielranken der Sumpfblume sich geschlungen hatten. Er wollte sehen, welch ein Tier es war, das aus dem merkwürdigen Behälter doch offenbar nicht mehr herauskonnte.
Kaum befand er sich dann aber gerade über der Öffnung der grünen, mit rotweißen Längsstreifen geschmückten Kanne, als der morsche Ast, auf dem er stand, ganz plötzlich abbrach. August Wend stürzte kopfüber in das runde Loch hinein, fiel auf etwas Hartes, faßte mit den Händen in einen wolligen Pelz und fühlte sofort auch an seinem linken Unterarm die Zähne eines kräftigen Tiergebisses. Er war auf einen jungen Mandrill gefallen, also einen Vertreter jener Affenart, die sich auch jetzt noch durch ihre Wildheit und Bösartigkeit auszeichnet. Dieser junge Mandrill maß gut anderthalb Meter, war, angelockt durch den süßen Saft der Honigdrüsen des ringförmigen Randes, in die Kanne hineingeraten und hier von dem klebrigen Saft dann festgehalten worden.
Auf dem Grunde der Fangvorrichtung dieser Krugpflanze begann nun zunächst ein kurzer Kampf zwischen den beiden Opfern des enormen Gewächses. Der Steuermann wurde dabei noch verschiedentlich gebissen, ehe es ihm gelang, den starken Mandrill mit Hilfe seines Dolchmessers abzutun. Nun – die Bisse hätten einem Manne von der Widerstandsfähigkeit August Wends nichts weiter ausgemacht. Aber der Kampf, so schnell er auch beendet war, sollte ihm doch verhängnisvoll werden. Die dicke, klebrige Flüssigkeit am Grunde der Kanne, gut ein Meter tief, hatte den ganzen Körper des Steuermanns überzogen und behinderte ihn so sehr an der freien Bewegung seiner Gliedmaßen, daß es ihm nicht glückte, die Wandung des Pflanzenkruges zu durchschneiden, um sich einen Ausweg aus der Falle zu schaffen, an der ein Hochklettern gänzlich ausgeschlossen war. So sehr er auch mit dem Dolchmesser arbeitete, sein Arm erlahmte stets nur zu schnell. Der dicke Saft, in dem er stand, wirkte wie bester Fischleim. Je mehr er sich bewegte, [23] desto zäher wurde die Flüssigkeit, desto schwerer jede Armbewegung.
Ganz erschöpft hielt der Steuermann jetzt inne, da ihm bereits der Schweiß vor Anstrengung beizend in die Augen lief. Und wie er nun regungslos, keuchend und klopfenden Herzens dastand, überkam ihn plötzlich die Furcht, daß er vielleicht ebensowenig wie der junge Mandrill die Kraft besitzen würde, aus dieser grünen Zelle sich herauszuarbeiten.
Die Furcht wuchs mit jeder Sekunde. Und abermals machte der Gefangene der Riesenkrugpflanze sich in angstvollem Eifer ans Werk. Er mußte heraus aus diesem verd… Behälter, mußte! Wild gebrauchte er sein Dolchmesser, schnitt, stieß zu, nahm noch die linke Hand zu Hilfe.
Kaum eine Minute lang genügten seine Muskelkräfte! Dann überkam ihn geradezu ein Schwindel vor Anstrengung. Schlaff sanken ihm langsam die Arme herab, und – unwillkürlich entrang sich seiner Kehle jetzt ein furchtbarer Schrei der Todesangst, klang aus in den schrillen Ruf: „Hilfe, Hilfe!“
Die Gefangenen des Steuermanns hatten zunächst nicht gewagt, sich untereinander zu verständigen. Als nun aber nach Peter Strupps Schätzung ohne Zweifel mehrere Stunden vergangen waren, ohne daß August Wend sich wieder blicken ließ, wandte Strupp den Kopf nach links und konnte so gerade noch das Profil des Chemikers sehen, der nun gleichfalls zur Seite schaute und dem Leidensgefährten ernst zunickte.
„Wo der Kerl nur stecken mag?!“ sagte Strupp jetzt. „Ob er uns hier etwa verhungern lassen will?! Zutrauen kann man’s ihm schon! – Schmerzen Ihnen die Gelenke auch bereits sehr, Herr Seiffert? Dieses Stillstehen in so engen Fesseln ist eine Folterqual!“
[24] „Leider,“ meinte der Chemiker leise. Man merkte, wie trübe seine Stimmung war. Seine Augen zeigten bereits vor Erschöpfung bläuliche Schatten.
Dann meldete sich auch Strupps rechter Nebenmann, der Ingenieur Kräwel.
„Da sitzen wir ja wirklich fein in der Patsche,“ rief er. „Dieser Schuft scheint sich um uns nicht weiter kümmern zu wollen. Wir müssen versuchen, uns zu befreien.“
„Gut gesagt – befreien,“ stöhnte Strupp. „Wie sollen wir das wohl anfangen?! Die Riemen halten ja besser wie Ketten.“
Auf der anderen Seite des mächtigen Stammes meldete sich jetzt ein vierter: Heinrich Wend!
„Gewiß – besser wie Ketten. Nur hat mein elender Oheim doch nicht scharf genug unseren braven Ernst Pötter beobachtet, als dieser mir die Hände fesselte. Ernst hat es verstanden, nur eine sogenannte blinde Doppelschleife um meine Gelenke zu legen. Die rechte Hand habe ich bereits frei!“
„Hurra!“ schrie Peter Strupp da neu belebt. „Fix, Heinrich, – nur fix! Wenn ich nur erst von dem Baume los bin, mag der Steuermann ruhig wieder auftauchen!“
Heinrich Wend gelang es sehr schnell, auch die Linke aus den Schlingen zu ziehen, Alles weitere war dann ein Kinderspiel. Und kaum fünf Minuten später sehen wir die Gefährten bereits sämtlich in dem kleineren Stallgebäude vereint, wo sie in der hier befindlichen Werkstatt der Ansiedlung sich schleunigst mit allem nur leidlich als Waffe Geeigneten versahen. Gleichzeitig wurde Kriegsrat gehalten. Man beschloß, sich im Gebüsch zunächst zu verbergen und abzuwarten, ob[4] der Steuermann nach der Niederlassung zurückkehren würde. Dann wollte man ihn nötigenfalls durch eine Kugel aus der einzigen Büchse, die er im Wohnhause zurückgelassen, kampfunfähig machen.
Aber Wend kam und kam nicht. Die Nacht war längst da, das heißt, die Nachtzeit, denn dunkel wurde [25] es ja nicht, weil die Sonne nicht unter dem Horizont verschwand.
Da schlug Kräwel vor, die Umgebung der Farm abzusuchen. „Er muß in der Nähe den entführten Flugdrachen festgebunden haben. Ist dieser nicht mehr da, dann hat Wend fraglos die Absicht, sich hier fürs erste nicht wieder einzufinden, bis er annehmen kann, wir seien verhungert. Wahrscheinlich dürfte er uns diese Todesqual zugedacht haben.“
So begann denn die Suche nach dem Flugdrachen, und so brachte es ein Zufall mit sich, daß die Gefährten gegen Mitternacht dann auch an das Ufer des Morastes gelangten. Sie waren zusammengeblieben, um auf alle Fälle stets gemeinsam handeln zu können.
Da vernahm Ernst Pötter als erster plötzlich einen schwachen Hilferuf, lauschte, hörte abermals das dumpfe: „Hilfe – Hilfe!“ machte die Gefährten aufmerksam und erklärte gleichzeitig, man solle ja vorsichtig sein, da es sich vielleicht nur um eine Teufelei des Steuermanns handeln könne.
Alle traten daher hinter einen Erlenstamm und versuchten mit dem Gehör festzustellen, aus welcher Richtung die Hilferufe eigentlich kämen, Doch – so sehr sie auch aufpaßten, es war ganz unmöglich herauszubringen, wo August Wend – nur er konnte ja scheinbar der Angstgefolterte sein! – sich befand.
So verging eine gute halbe Stunde. Die sechs hinter der Erle waren jetzt überzeugt, der Steuermann halte sich nur verborgen, um die seinem Versteck sich Nähernden bequem durch Schüsse niederstrecken zu können.
Dann wurde Peter Strupp die Sache doch zu langweilig. „Ewig werden wir doch nicht hinter der Erle hocken,“ meinte er. „Ich wage es! Ich werde mal um jenes Gestrüpp herumgehen, das da zwanzig Meter vor uns die Aussicht auf den Sumpf versperrt. Vielleicht ist Wend in ein Morastloch hineingeraten.“
Er verschwand dann auch hinter der grünen Wand, blieb lange aus. Inzwischen ließen sich die Hilferufe in immer größeren Pausen und immer schwächer vernehmen. [26] Dann kehrte Strupp zurück – im Laufschritt, schrie schon von weitem: „Er ist in einen Krug einer Nepenthes (lateinische Bezeichnung der Krugpflanze) geraten! Ich hätte dies wohl kaum gemerkt, wenn die riesige Pflanzenkanne sich nicht etwas bewegt haben würde!“
Alle eilten nun zu der hinter dem Gestrüpp stehenden Erle hin, in deren Ästen etwa zehn Meter über dem Boden die grüne riesige Falle hing: alle lauschten, starrten nach oben. Dann – kein Hilferuf, – nein, ein wahnwitziges Gelächter erklang aus der Höhe herab, ein Lachen, wie es nur ein Irrer ausstößt.
„Er – er hat vor Angst den Verstand verloren!“ flüsterte der Chemiker ganz blaß. „Dieses Lachen kann nur –“ Er schwieg. Oben im Innern des Pflanzenkruges war ein Schuß gefallen. –
Drei Stunden später hatten die Gefährten die Leiche des im Wahnsinn zum Selbstmörder Gewordenen nach großen Anstrengungen aus der grünen Riesenfalle herausgeholt und auch sofort in der Nähe begraben.
Der Feind der Ansiedler Giganteas hatte sich selbst gerichtet! Von dem gleißenden Golde, für das er Verbrechen um Verbrechen auf seine Seele geladen, trennte er sich freiwillig, wenn auch in geistiger Umnachtung, für immer. –
Der Chemiker hatte, als das Grab zugeschaufelt war, ein kurzes Gebet gesprochen. In ernster, nachdenklicher Stimmung kehrten die Gefährten dann nach der Niederlassung zurück, wo alsbald das geregelte Leben, das Peter Strupp und Karl Wend bisher hier geführt hatten, wieder begann. Nur der Chemiker Seiffert und der Ingenieur Kräwel wurden zu den auf der Farm notwendigen Arbeiten nicht zugezogen, da sie das unbekannte Land in allen Teilen möglichst genau erforschen wollten. Sehr oft unternahmen sie Ausflüge auf mehrere Tage, und die Flugdrachen, die sie schnell zu lenken gelernt hatten, waren ihnen hierbei ebenso schnelle, wie zuverlässige Beförderungsmittel. Häufig wurden die beiden auch von einem der [27] jüngeren Mitglieder der kleinen Ansiedlung begleitet. Besonders Henrich Wend, der ja ohnehin mit zärtlicher Liebe an dem Erfinder hing, bat immer wieder mitkommen zu dürfen, was ihm auch nie abgeschlagen wurde.
Bei diesen Expeditionen nach den fernen Teilen dieses Märchenlandes am Südpol erlebten die Forscher nicht selten allerlei nicht ganz ungefährliche Abenteuer mit den riesigen Vertretern der Tierwelt, die hier heimisch waren, deren größte Arten jedoch, wie zum Beispiel der Atlantosaurus, zumeist inmitten der ungeheuren Sumpfgebiete hausten, die fast die ganze Mitte von Gigantea bedeckten. Auch hatten sie wiederholt bei ihren Luftreisen recht unangenehme Begegnungen mit jenen Riesenvögeln, von denen Kräwel gleich zu Anfang ihres Aufenthaltes hier ein besonders starkes Exemplar erlegt hatte, dessen mit langen, spitzen Zähnen ausgestatteter Raubtierschnabel eine nicht minder furchtbare Waffe als die kolossalen Krallen war. Zum Glück konnte man diesen geflügelten Ungeheuern leicht mit der Büchse beikommen, und schon eine leichte Verwundung genügte stets, sie zu verscheuchen. Einmal wurden die Forscher auch Zeugen eines Kampfes zwischen einem Brontosaurus-Weibchen und einem dieser mächtigen Raubvögel. Dieser schien es auf das Junge des Brontosaurus abgesehen zu haben, das neben der Mutter auf einer Sumpfwiese gelegen hatte. Der Riesenvogel zog bei diesem Angriff jedoch den kürzeren und blieb schließlich tot auf dem Kampfplatz zurück.
Seiffert und Kräwel stellten durch diese häufigen Ausflüge dann auch fest, daß die Angabe Peter Strupps und Karl Wends, das Land Gigantea sei von ungefähr kreisförmiger Gestalt und rings von Gebirgen begrenzt, deren Höhe die des Himalaya noch übertreffe, durchaus richtig war. Nach einigen Vorbereitungen rüsteten sie sich dann auch eines Tages zu einem Fluge nach jenem Grenzgebirge, das der Niederlassung am nächsten lag und zu dem auch das Tal gehörte, wo der endlose Tunnel mündete. Ihre Absicht [28] war, womöglich eine der bereits unter ewigem Schnee begrabenen Bergspitzen zu erreichen, um von da aus einen Blick auf das Land jenseits des Gebirges zu werfen. Es gelang dann jedoch nur Kräwel allein, den von den Forschern als Ziel ihres Fluges vorgesehenen Gipfel mit Hilfe der zahmen geflügelten Eidechse zu gewinnen. Seifferts Reittier versagte, als man sich in einer Höhe von etwa 3000 Meter befand, wahrscheinlich infolge der immer dünner und kälter werdenden Luft, während des Ingenieurs weit kräftigerer Flugdrache ihn bis auf ein Schneefeld dicht unterhalb der höchsten Erhebung des Bergmassivs beförderte. Hier stieg Kräwel ab und erklomm den Rest des Weges zu Fuß. Hinter ihm lag nun sonnenüberstrahlt das wunderbare Land, in das ihn ein seltsames Zusammentreffen von Umständen geleitet hatte: vor ihm aber jener unermeßliche Eis- und Schneegürtel, die eigentliche Antarktis, überall weißglänzend, überall tot und starr unter dem Eiseshauch einer nie geringer werdenden Kälte. Kräwel stand, geradezu überwältigt von diesem Anblick der weißen, stillen Unendlichkeit, eine ganze Weile regungslos da. Das, was ihm hier zu schauen vergönnt war, hatte noch keines Sterblichen Auge genossen. Dann merkte er jedoch sehr bald, wie die Kälte seine für eine so niedrige Temperatur nicht geeignete Kleidung durchdrang, wie auch die Folgen der dünnen Luft hier oben sich durch Ohrensausen, Herzklopfen und Nasenbluten recht unangenehm bemerkbar machten. Er mußte zurück, mußte umkehren. Seinen braven Flugdrachen fand er auf dem Schneefelde halb erstarrt vor. Nur recht schwerfällig erhob das mächtige Tier sich in die Lüfte, und der Gleitflug abwärts in die wärmeren Regionen des Gebirges hätte fast mit einem jähen Sturz geendet, da der Rieseneidechse mit einem Male die Kräfte zu versagen drohten. Kräwel ließ das Riesenreptil daher schnell auf einem breiten, grasbewachsenen Felsplateau landen, wo er eine Herde von etwa dreißig Stück unserem heutigen Lama ähnlichen Tieren aufscheuchte. Wie so oft, hatte auch dieses halbe Mißgeschick [29] eine gute Seite: Beim Anblick der Lamas kam dem Ingenieur ganz plötzlich der Gedanke, wie man die Schwierigkeiten eines Rückmarsches durch den Tunnel, die hauptsächlich in der Mitnahme der notwendigen Proviantmengen bestanden, bequem beseitigen könne. Man brauchte ja nur eine genügende Anzahl dieser kräftigen, ziegenähnlichen Tiere zu zähmen und dann als Lastträger zu verwenden!
Als der Ingenieur nachher den Gefährten diese Idee unterbreitete, fanden alle sie außerordentlich praktisch und leicht durchführbar. Im Verlaufe des nächsten halben Jahres wurden daher im ganzen 32 junge Lamas eingefangen und allmählich zum Lastentragen abgerichtet. Ein Probemarsch von vier Tagen Dauer in dem Tunnel ergab die uneingeschränkte Verwendbarkeit dieser Tiere für den ins Auge gefaßten Zweck. Dann ließ man noch ein weiteres Vierteljahr verstreichen, bevor man Gigantea endgültig Lebewohl[5] sagte. Leicht wurde den Gefährten der Abschied keineswegs! Die schmucke, freundliche Ansiedlung war allen lieb und teuer geworden, und der letzte Blick, den die Reisenden von der Mündung des Tunnels auf das Wunderland zurückwarfen, war von recht wehmütigen Gefühlen begleitet.
Die Wanderung durch den endlosen, erst auf der Heard-Insel wieder die Oberwelt berührenden Felsengang erforderte volle sechs Wochen. Sobald eins der Lamas als Lasttier nicht mehr gebraucht wurde, schlachtete man es, erhielt also auf diese Weise immer wieder frisches Fleisch. Als die Riesenhöhle auf der Heard-Insel, das Ende des Tunnels, endlich erreicht war, stand man vor einer recht beschwerlichen, wenn auch von vornherein mitberücksichtigten Aufgabe. Man mußte den Zugang zu der Höhle, der durch Felsgeröll verstopft war, freilegen. Dies beanspruchte eine weitere Woche, da es notwendig war, zwei der größten Felsstücke, die im Wege waren, durch Pulver zu sprengen.
Gerade an einem Sonntag – es war der 4. März 1901 – erblickten die Gefährten nach diesem langen [30] Aufenthalt in beständiger Finsternis, die nur durch die Öllaternen gemildert worden war, die Sonne und den blauen Himmel wieder. Der Ausgang der Höhle, der durch einen Gletschertrichter nach oben führte, war kaum von dem letzten der sechs Reisenden verlassen, als der Chemiker Seiffert mit hochgereckten Armen auch schon ausrief:
„Freunde, die Welt hat uns wieder! Unser erster Gedanke hier soll der gütigen Vorsehung gehören, die uns so wunderbar geleitet hat!“
In stummer Ergriffenheit blieben alle eine ganze Weile stumm. Ihre des Tageslichts entwöhnten Augen schmerzten fast, und warme Tropfen perlten daraus hervor, rannen über bleiche Wangen, die durch die sieben Wochen in den Tiefen der Erde die gesunde Farbe ganz eingebüßt hatten.
Dann – so plötzlich und so laut, daß die anderen erschrocken zusammenfuhren, ein Ausruf Karl Wends:
„Dort – dort drüben neben dem Eishügel, – zwei Männer!“
Tatsächlich: Dort standen zwei in Pelze gehüllte Leute, hatten Gewehre im Arm und äugten in einer Weise zu den bisherigen Bewohnern Giganteas herüber, als ob sie kein ganz reines Gewissen hätten. Kräwel ging dann langsam auf sie zu und rief sie an. Doch seltsam: Die beiden verschwanden jetzt eiligst hinter dem Schneehügel und kamen dann erst weit entfernt in einem zum Meeresstrande hinabführenden Tale wieder in Sicht, wo sie jedoch abermals sehr bald hinter dem Steilufer der Küste untertauchten.
Ernst Pötter war’s, der jetzt die wahrscheinlich richtige Erklärung für das auffällige Benehmen jener Männer fand. Er meinte, es seien vielleicht zwei von den Matrosen der Frigga, die ihn und den Steuermann seiner Zeit hier nach den Gestaden der Heard-Insel gebracht hätte, wo dann ja die drei Leute der Motorjacht gemeutert und Wend und ihn in der Höhle, die man soeben verlassen, eingesperrt hätten. „Freilich,“ fügte er hinzu, „die Meuterer wollten ja damals [31] sofort mit der Jacht die Goldschätze der Najade von den Kerguelen abholen und ihr Leben dann irgendwo in vollen Zügen genießen. Irgend etwas stimmt hier also nicht ganz.“
Der Chemiker erklärte darauf, man könne sich später mit diesen Leuten beschäftigen. Wichtiger sei jetzt festzustellen, ob das kleine Unterseeboot noch an jener Stelle liege, wo man es vor etwa anderthalb Jahren verankert habe.
Dieser Vorschlag Seifferts wurde auch befolgt. Als die Gefährten sich dann jener geschützten Bucht näherten, stieß der Chemiker mit einem Mal einen überlauten Freudenschrei aus:
„Dort – mein Boot, meine Erfindung – mein Delphin!“
Doch dieser Jubel sollte sofort einen Dämpfer erhalten. Kaum waren die Freunde dem Ankerplatz bis auf fünfzig Meter nahegekommen, da – erschien an Deck des Tauchbootes durch die Turmluke ein Mann, der sein Gewehr drohend anlegte und gleichzeitig hinüberbrüllte:
„Macht kehrt oder – Ihr habt hier nichts zu suchen!“
Ernst Pötter flüsterte jetzt dem Chemiker zu, jener Mensch sei einer der Meuterer, er erkenne ihn nunmehr genau wieder.
Kräwel hatte die Sachlage schnell erfaßt. Ihm als sicherem Schützen fiel es nicht schwer, die Drohung jenes Fremden durch einen schnellen Schuß zu beantworten, der den linken Unterarm traf und den Mann kampfunfähig machte. Der zweite Bewohner des Unterseebootes ergab sich dann ohne weitere Gegenwehr. Man erfuhr jetzt, daß diese beiden Matrosen von ihrem dritten Kameraden schmählich betrogen worden waren, der mit der Frigga und den Diamanten Kräwels davongefahren und ohne Zweifel auch die Goldbarren der Najade für sich allein in Sicherheit zu bringen entschlossen war. Die Zurückgelassenen hatten dann auf dem Tauchboot, das sie nicht zu lenken verstanden, ein recht jämmerliches Dasein geführt.
[32] Seiffert fand seinen Delphin, besonders dessen komplizierte Maschinen, unversehrt vor. Drei Tage darauf ging das Tauchboot in See nach den Kerguelen. Doch – das Versteck, in dem die Barren gelegen hatten, war leer. – Und später, als die Gelehrten längst in der deutschen Heimat wieder angelangt waren, hörten sie einmal zufällig, daß im Indischen Ozean Teile eines Wracks aufgefischt worden waren, die zweifellos zur Frigga gehörten. Mithin war als sicher anzunehmen, daß die Motorjacht in einem Orkan vernichtet und ihr einzelner Führer sowie alle ihre Gold- und Diamantenschätze auf dem Grunde des Meeres ruhten. –
Unsere Erzählung ist zu Ende. Erwähnt sei nur noch, daß in der Nähe der Hafenstadt Heilmünde an einer einsamen Stelle des Meeresstrandes ein freundliches Gehöft liegt, dessen Wohnhaus am Giebel den Namen „Gigantea“ trägt. Hier leben unsere sechs Abenteurer in friedlicher Arbeit heiter und glücklich fern dem Getriebe der großen Welt. Wenn einer von Euch, Ihr lieben jungen Leser der Erlebnisse einsamer Menschen einmal zufällig das Haus Giagantea finden sollte, dann kann er ja Peter Strupp, den Chemiker Seiffert oder einen der anderen Bewohner fragen, ob das Märchenland am Südpol wirklich nur – ein Phantasiegebilde ist. – Und jetzt nehmen wir endgültig Abschied von unseren wackeren Helden!
Der nächste Band enthält: