Johannisabend (1824) Aus alten Zeiten
von Paul Seeberg
Durch Dunkelheit zum Licht
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7. Eine Jagd.




Liegst du da noch, du guter, alter Stein, hart an der Einfahrt zum Pastorate Wahnen? Wie still und freund­lich sahst du zu meiner Zeit dir die Welt an mit deinem runden, rötlichen Angesicht! Einen „erratischen Block“ nannten dich die blinden Gelehrten. Als ob du so ein fahrender Tourist gewesen wärst, der sich aus langer Weile in allen Herrgottsländern umhertreibt und nicht weiß, wo er sich niederlassen soll. Nein, das warst du dein Leben lang nicht! Nur ein armer geplagter Dulder, ein lehr­reicher Vorgänger späterer Geschlechter, unter Qual und Glut geboren, unter Gletschereis begraben, gestoßen, ge­drängt, geschoben, gescheuert und geschliffen, bis eine gütige Sintflut dich hier absetzte, die Stürme schwiegen, die Sonne siegte, die Wasser zur Tiefe rannen und du Ruhe fandest hier vor unsrer Thür. Und was hast du nicht alles ge­sehen seit jener Zeit! Wie das Land auftauchte aus dem Wassergrabe, wie die Wildnis emporsproßte, wie allerlei Ungetüm sich fand und mit einander kämpfte, bis endlich das arme, schwache Gebild entstand, das mit seinem Geist und seinem Arm diese Wildnis lichten, die reißenden Tiere niederwerfen sollte. Ein langer, schwerer Kampf für die mit Stein und Knochen kümmerlich bewehrte Hand! — Und weiter sahst du, wie Völker auf Völker stießen, kamen und schwanden, bis endlich jene Fremdlinge in der Kutte [132] das Evangelium und des Papstes Satzung brachten, bis endlich das alte Pastorat gebaut wurde und die Kirche mit dem Hahn auf dem Turm, die man von hier aus so treff­lich sehen kann. Du sahst auch diese Boten verschwinden und die Männer der reinen Lehre hier ein und ausgehen, mit ihren stattlichen Schnurr- und Knebelbärten, wie jener alte Möllenbrock, dessen Bild noch heute in der Kirche hängt. Du erlebtest die Zeit, wo das „große Sterben“ ins Land kam und die kaum gebahnten Wege, die sich hier um das grüne Dreieck zur Pastoratsgasse vereinigen, stiller und stiller wurden, bis das Kirchenbuch aufhörte. Doch all­mählich sahst du wieder Menschen vorüberwandeln, hörtest du nach dem vielen Sterbegeläute Hochzeitglocken fröhlich den Weg herauf klingen, bis unser Großvater seinen Ein­zug hielt, unbeirrt durch der alten Pastorin Rohde warnende Rede, — und sein Weib heimholte, und froh und glücklich war mit ihr trotzdem, daß wie man bei uns sagt, zuweilen „Schmalhals Küchenmeister war.“ So sahst du ein Ge­schlecht nach dem andern dahingehen, bis endlich unsere Reihe kam, und wir auf dir saßen oder um dich her sprangen, oder an dir vorüberzogen zu Kurzweil oder mancherlei Unternehmung, wie sie eines Knaben Leben mit sich bringt. Und wir saßen gern um dich herum oder auf dir und sahen die Straße hinauf nach dem Fuhrwerk, das von links oder rechts des Weges kam.

So auch an jenem Tage, als das Schellengeläute von Klein-Wahnen näher und näher kam, bis die alte hellgelbe Kalesche sichtbar ward, mit zwei Füchsen und einem Schim­mel bespannt. Welche Knabenwonne, als sie an uns vor­über in den Hof fuhr, den blanken Messingzierat, die roten Frieslappen an dem Geschirr und die Pferde selbst zu mustern und, als die Insassen ausgestiegen waren, mit des Kutschers gnädiger Erlaubnis uns in den alten rasseln­den [133] Kasten zu setzen! Der ältliche, etwas korpulente Herr, der aus dem Wagen stieg, war der Major von Herbertson und die beiden Knaben seine Söhne, die er zu uns in Pension brachte. Es war ein schnurriger alter Kauz, dieser Major a. D. Er trug einen blauen Frack mit blan­ken Knöpfen, eine weiße Weste und sandgelbe Beinkleider, die in stattlichen blanken Stiefeln staken, deren herzförmig ausgeschnittene Stulpen oben einen Seidenbüschel als Zierat trugen. Man erzählte sich, er sei eigentlich nur Fähnrich und habe sich selbst zum Major avanciert. Aber was kümmerte das die Leute! Wer frug ihn nach seinem Patent! Und vollends, was kümmerte das uns? Wir waren froh, neue Kameraden gekriegt zu haben und hatten ihn, den Alten, gern. Er brachte uns frisches und getrocknetes Obst, wenn er seine Söhne besuchte, auch selbstgebackenes Konfekt aus Syrup und Erbsenmehl; denn er hatte eine sparsame Ader, der alte Herr. Hatte es auch einen kleinen Bei­geschmack von Rauch, weil es in einem Riegenofen[1] das Licht dieser Welt erblickt hatte, so verachteten wir es doch nicht zu sehr. — Auf dem Gute des alten Majors sah es ziemlich trostlos aus. Er that wenig für das Äußere, war auch im übrigen kein großer Landwirt, aber er verstand die Kunst, überall etwas abzusparen oder herauszuquetschen und still den Rubel zum Rubel zu legen. Mit den Nach­barn hatte er wenig Verkehr, nur v. Kagel, der nächste unter ihnen, überfiel ihn zuzeiten mit einem oder dem an­dern, um den Alten zu einer Partie zu nötigen, oder wenn die Jagd im Winter ihn in seine Nähe brachte. Gar un­wirtlich sah es allerdings bei ihm aus; die Zimmer waren meist ungeheizt, ja es fand sich nicht einmal brauchbares Brennholz, um die große Maschine von Ofen einigermaßen [134] zu erwärmen. Der Alte war zugeknöpft, verlegen, bat um Entschuldigung wegen mangelnder Vorrichtungen zur Be­wirtung der lieben Nachbarn. Es sei ihnen aber bekannt, daß er leider Witwer sei und für seine Person nur die Ansprüche eines alten Soldaten habe. Aber Kagel ließ sich dadurch nicht irre machen. Mit einigem Humor wußte er den nötigen Kaffee, ja selbst ein Pfund versteckter Chokolade und eine Flasche feinen Cognac in dem Schlafzimmer des Alten herauszuschnüffeln, ja im Keller fanden sich so­gar einige vergessene Flaschen Wein oder ein kleines Tönn­chen mit holländischen Heringen. Die Kutscher bekamen Ordre, in Ermanglung von Brennholz die Zäune zu plün­dern, und bald prasselte das Feuer munter im Ofen. Der Kartentisch wurde in die Mitte des Zimmers gerückt, ein guter Punsch fabriziert und der Alte nolens volens in Mitleidenschaft gezogen. Wenn sie dann wegfuhren, die wenig willkommenen Gäste, seufzte der Major wohl erleichtert auf; im Grunde hatte er aber meist nicht viel zu beklagen; denn, ein feiner Spieler, der er war, kaltblütig und vor­sichtig, hatte er am Bostontisch fast immer entschiedenes Glück gehabt.

Und wieder sitzen wir auf unserm Stein. Ein Gefährt kommt des Weges, mit einem wohlgepflegten Braunen be­spannt. Der Müller Zülp sitzt darin, lang, steif, wie ein Talglicht, von seinem Sohne Otto gekutscht. Daß wir un­sern Sitz alsbald verließen, als er in den Hof gefahren war, und die verschiedenen Tugenden des Wagens und des Pferdes näher untersuchten, versteht sich von selbst. Der steife Müller war unterdessen, ehrerbietigst von seinem Sohne gefolgt, ins Haus getreten, wo er dann erst mit dem Vater ein Gespräch über dieses und jenes begann, bis er zu dem eigentlichen Zweck seines Besuches kam, welcher kein anderer war, als seine beiden hochaufgeschossenen Söhne [135] an einigem Unterricht participieren zu lassen, — nur ohne Latein.

„Otto, geh hinaus und sieh, ob das Pferd ruhig steht,“ rief er seinem Sprößling zu, der an der Thür stehen ge­blieben war. Dieser that, wie befohlen, und kehrte nach einigen Augenblicken mit der Nachricht zurück: „Es steht ganz ruhig.“ – „Schafskopf!“ sagte der Vater mit be­lehrendem Nachdruck, „wenn man dich hinausschickt, so mußt du begreifen, daß du wegzubleiben hast, bis man dich wieder ruft!“ — Der Wink war deutlich genug, und Otto folgte ihm mit gesenktem Haupt. Das Gespräch des Vaters ward nicht weiter gestört und erreichte den gewünschten Zweck. Müllermeister Zülp war auch sonst ein Original. Von Kopf bis zu Fuß ein richtiger „Teutscher,“ alles „Unteutsche“ tief verachtend, hatte er sich bei den Bauern, die er übri­gens ehrlich und anständig behandelte, keiner besondern Gunst zu erfreuen. Ein Zeichen davon war’s auch vielleicht, daß sie ihm in Anbetracht seiner grimmig langen Zähne den Spitznamen „Tannenzahn“ gegeben hatten. Bei uns Kindern hieß er „der Charaktermann.“ Das hing so zusammen. Er war nicht ganz ohne Bildung, gab mir auch einmal ein Werk über Mühlenbau, mit dem ich als Knabe freilich wenig aufstellen konnte, — und hielt etwas auf seinen Stand. Abends ging er lustwandeln, auch wohl ab und zu in den nahen Krug, weniger um zu trinken, als um mit dem Krüger und andern „Teutschen“ zu rauchen, zu schwatzen und vor allem seine Weisheit leuchten zu lassen. Nun arbeitete bei ihm einmal der Schuhmacher Niffert, der die Aufgabe hatte, das ganze Haus zu „beschuhen,“ wie es damals häufig Sitte war, zumal bei größerem Haushalt. Schuster Niffert war ein ganz geschickter Arbeiter, er hatte nur die eine Schwachheit, — er guckte gern ins Glas. Das war auch der Grund, weswegen man ihm [136] keine Arbeit ins Haus geben konnte; man kriegte sie dann selten oder gar nicht. Natürlich war er dabei auf keinen grünen Zweig gekommen. Stellte man ihn dagegen unter Vormundschaft und nahm ihn ins Haus, so konnte man mit seinen Leistungen zufrieden sein; auch fiel dann sichrer etwas für Weib und Kind ab, die sonst Hungers sterben konnten. Eines Nachmittags kommt unser langer Müller steif und würdevoll wie ein Kirchturm vom Kruge nach Hause. Unterwegs begegnet ihm der Schuster, der sonst gewöhnlich erst gegen Abend besonders unruhig zu wer­den pflegte, aber diesmal schon etwas früher von Durst geplagt war. „Wo gehen Sie hin, Niffert?“ redet ihn der Müller von seiner Höhe herab an. Das blasse, gedunsene Schustergesicht läßt die Augen sinken und verstummt. „Wie­der in die Schenke, um Ihr bißchen Verstand zu versaufen? Schämen Sie sich, Sie elender Wicht! Wissen Sie nicht, bei wem Sie arbeiten? Ich bin ein Mann von Cha­rakter!“ Und damit schlug er stolz an seine Brust. Nif­fert aber machte Kehrtum und schlich sich, wie ein ver­regnetes Huhn nach Hause, um erst seinen Gang anzutreten, nachdem der Lange sich zur Ruhe gelegt hatte. Bei andrer Gelegenheit hatten auch wir Knaben den Charaktermann in seiner ganzen Größe kennen zu lernen. Unser Weg zum Badeplatz führte nämlich durch die Mühle, und da war es denn ein ganz reizendes Vergnügen, des Müllers großen Kettenhund, der ohnehin sehr bös war, beim Vorübergehen ein bißchen zu necken. Dauerte nun das Bellen länger als gewöhnlich, und wurde es stärker und stärker, da wachte selbst der Müller von seinem Nachmittagsschlaf auf, riß das Fenster auf und rief uns in den Rücken: „Ihr in­famen Jungen! Daß euch das Donnerwetter sechzigtausend Klafter unter die Erde schlage, u. s. w.“ Ehe er noch mit seinem Fluch zu Ende kam, waren wir natürlich über alle [137] Berge. Aber auch sonst hatte die Mühle und der Mühlen­teich seine Reize. Im Winter zum Schlittschuhlaufen wie geschaffen, im Sommer zum Angeln; jenseits ein wonniger Spaziergang durch das Birkenwäldchen und unter der alten Hängebirke am Uferabhang ein Plätzchen zum Sinnen und Dichten, wie kein zweites. Erschienen abends des Müllers Söhne, um am Ufer zu lustwandeln, so fehlte es an Mut­willen und Neckerei von unsrer Seite nicht. „Otto, kommt das Floh-Exempel aus?“ rief ich wohl boshaft in der Abendluft über das stille Wasser hinüber. Es war dies nämlich des armen Jungen Herzeleid, wenn er berechnen sollte, wieviel ein Floh wegziehen könnte, wenn er das Ge­wicht eines Pferdes hätte, vorausgesetzt, daß ein Floh das Achtzehnfache seines Gewichtes fortschleppen könne. Viel Leiden hast du ausgestanden, armer Otto, um diesen Floh und andere Exempel! Doch nun ist alles überstanden; ihr seid alle hinüber; kein Exempel macht euch mehr Kopf­brechen. Ihr habt längst das Facit aller Fragen gefunden, und kein Mensch denkt mehr in der Gegend oder auch in der Wahnenschen Mühle selbst an den längst verklungenen Müller Zülp.

Und wieder kommen wir durch die Gasse heraus, an dem alten Stein vorüber, nicht um uns bei ihm nieder­zulassen, auch nicht um an den Birken, ihm gegenüber, unsere Turn- und Kletterkünste zu erproben oder zum Bach hinabzueilen, um zu krebsen, — du herrlichstes aller Ver­gnügen in milder, lauer Sommernacht! Es ist ja Winter, der Mühlenteich blank gefroren, dazu Sonnabend Nach­mittag. Die Schlittschuhe in der Hand, eilen wir munter die Straße hinab. Heute soll es ’mal weit gehen! Schlitt­schuhlaufen, wie es die Städter treiben, auf gefegter Bahn, ist ja nur ein Manegenritt, ein dürftiges Vergnügen. Aber frei über die blanken Teiche, die ausgetretenen Bäche [138] schweifen, wersteweit Entdeckungsreisen machen, — das ist Lust! Darum allein hab ich den alten Großonkel aus Franken beneidet, wenn er von seinen Reisen in Holland erzählte und den endlosen gefrornen Kanälen und den Milch­mädchen, auf Schlittschuhen, die ihre Ware auf dem Kopf zur Stadt brächten, von seinen eignen Schlittschuhen mit den großen Schnäbeln und seiner Kunst, mit ihnen rollende Thaler vor sich her zu treiben. „Heute soll’s weit gehen!“ mit diesem Ausruf begrüßen wir das blanke Wasser; schnell waren die Schlittschuhe angeschnallt und fort ging es über den Teich, die Wiesen, dem Flüßchen zu, an welchem Kagels Gut, Pluhmingen, lag. Wenn das Glück gut war, ge­dachten wir bis dorthin zu gelangen und die erste Nach­richt von der großen Jagd nach Hause zu bringen, die heute dort abgehalten wurde, und zu welcher wir schon am Morgen die Wahnenschen Schlitten hatten fahren sehen.

Somit sind wir auch in unsrer Erzählung in die Nähe des Mannes gekommen, dessen flüchtige Bekanntschaft wir schon früher gemacht hatten, und von dem wir heute noch weiter zu berichten haben. Herr von Kagel war keine unangenehme Erscheinung. In der Mitte der Vierziger, „noch in den besten Jahren,“ wie er gern sagen hörte, kleidete ihn das feingelockte Haar gar wohl, und selbst die kleine appetitliche Glatze paßte zum Ganzen. Er gab sich Mühe, jung auszusehen, wo möglich jünger, als er war. Dieser Schwachheit entsprach es, daß er verboten hatte, seinen Geburtstag zu feiern; er wollte weder sich selbst noch andere daran erinnert sehen, daß er ein Jahr älter geworden war. — Frivol bis zur Haarspitze, meinte er, man habe nur deswegen von Jesu soviel Wesens gemacht, weil er soviel aufgeklärter gewesen sei, als seine Zeit­genossen; ja es schämte sich der lasterreiche Herr nicht, blas­phemisch hinzuzufügen, es würde ihm dasselbe passiert sein, [139] wenn er zu jener Zeit gelebt hätte. Halb mozartisch halb bourbonisch im Profil trug er den Stempel des raffinier­ten Lebemannes in seinem Angesicht. Sorgen fanden auf der ewig heitern Stirn des ehemaligen Göttinger Studenten selten einen Platz. Als Erinnerung an jene Zeit war ihm eine Schmarre in der Wange geblieben, die ihn nicht ent­stellte, vielmehr dem sonst etwas weichlichen Gesicht etwas Pikantes gab. Von der Medizin dagegen, die er hatte studieren sollen, hatte er nur eine verschwommene Ahnung behalten. — Er wußte, daß er ein hübscher Junge gewesen war; aber mehr als auf sein Angesicht that er sich doch auf seinen aristokratischen Fuß zu gute und hielt darum auch immer auf feines Schuhwerk. Und in der That, wenn er, trotz seines bemerklichen Embonpoints leicht wie eine Feder zum Walzer auftrat, so war es ein Vergnügen ihn zu sehen. Maestro Belluzzi, damals erster Tanzlehrer Kur­lands, hätte es nicht graziöser machen können. Daß er mit den 60 000 Rubeln, die er von seiner Mutter geerbt hatte, früh fertig geworden war, wird man erklärlich fin­den, wenn man sich vergegenwärtigt, daß ihm jeder Tag ohne Gesellschaft als verloren erschien. Hatte er sie nicht im Hause, so mußte er sie außer demselben haben. Stets zu allerlei Thorheit und Karnevalsstreichen aufgelegt, hatte er den Spitznamen „des Frohen“ erhalten. Man war darum auch wenig erstaunt, von ihm, als er schon längst Familienvater war und die Vierzig hinter sich hatte, heute dies und morgen jenes zu hören, worin sich sein unver­besserlicher studentischer Leichtsinn kundgab. Da er jetzt mit dem mütterlichen Erbteil zu Ende war, ging’s an das Ver­mögen der Frau und ans Gut. Letzteres war freilich nicht allzugroß, aber es hätte bei einigermaßen geordneter Wirt­schaft einen ganz angenehmen Ertrag abwerfen können. Doch wo war daran zu denken! Alle Details der Landwirtschaft, [140] jede ernste Beschäftigung waren ihm ein Greuel. Natürlich geriet er auf diesem Wege immer tiefer in Schul­den; das mochte andern Sorge bereiten; ihn focht es wenig an. Stellten sich Verlegenheiten ein, die selbstverständlich nicht ausbleiben konnten, so beschäftigte ihn einzig die Frage: „Wie und wo ließe sich was flüssig machen?“ Das geschah auch in der Woche, die der erwähnten Jagd vorausging. An seinen Nachbar Herbertson durfte er sich am wenigsten wenden. „Nur dieses nicht, lieber Kagel, nur dieses nicht!“ war dessen stereotype Antwort, und dabei wurde sein S so scharf, — er war Ehstländer — und sein Diskant so schneidend hoch, daß alle Hoffnung aufgegeben werden mußte. Und zugleich wußte der Alte eine Miene anzunehmen, als sei kein roter Groschen bei ihm aufzutreiben. An seine größern Nachbarn wagte Kagel sich nicht mehr. Jeder von ihnen wußte, wieviel auf sein Wort zu geben war, und ging natürlich Unannehmlichkeiten möglichst aus dem Wege. Seine gutmütige Frau hatte ihm bereits alles, was sie ihr eigen nennen konnte, in die Hände gegeben und hatte mit ihrer kleinen Wirtschaft in Haus und Küche soviel zu schaf­fen, daß sie sich kaum um den Kassenbestand ihres Mannes kümmerte. Schwägerin Alma bewachte ihren kleinen Rest mit Zähigkeit. Kurz, der alte Göttinger war für den Augenblick entschieden „in Schwulibus.“ Sein Getreide war bis auf einen unbedeutenden Rest schon verkauft und ab­geliefert; der Erlös reichte eben hin, alte angelaufene Schulden zu decken und die ärgsten Schreier zum Schwei­gen zu bringen, seine Mastochsen waren eingestellt, aber noch nicht fertig. Wo Geld hernehmen? Die Einladungen zur Jagd waren schon ergangen, die Elenne, deren es da­mals noch ziemlich viele gab, eingekreist, zwanzig bis fünf­undzwanzig Herren sollten nach vier Tagen in Pluhmingen sich versammeln, — und kein Geld!

[141] Aber wann wäre Kagel je lange ohne Ausweg gewesen! – Er ließ den Brannntweinsbrenner rufen. – Nach einer Weile erschien Joseph, der Kammerdiener, und meldete: „Gnädiger Herr! der Jud ist da.“

„Laß ihn eintreten!“

Der Sohn Israels öffnete langsam die Thür, blieb an ihr stehen und machte einen tiefen Bückling vor dem gnä­digen Herrn. Dieser ging auf und ab, ließ den Juden einige Minuten stehen, darauf wandte er sich plötzlich um, warf seinen Glatzkopf in die Höhe und begann: „Jossel, ich brauch Geld; dreihundert Rubel brauch ich.“

„Gnädiger Herr! Ich – und Geld! wie sollen die kommen zusammen? Wo soll’n mer Geld hernehmen?“ ant­wortete der Jud mit Achselzucken; und zerlumpt genug sah er aus in seinem schmierigen Schlafrock und seinen unförm­lichen „Schochtstiefeln.“[2]

„Larifari! Jossel ich brauch Geld und du hast immer Geld. Ich sag dir, wenn du heute nicht 300 Rubel schaffst, so hast du morgen die Brennerei nicht mehr. Ich kenn euch, Leute, du infamer Jüd, du! Ich krieg zehn für einen!“

„Was können mer mache, wenn der gnädige Herr wird wollen werfen arme Judens auf die Straße bei diesen har­ten Winter mit Gewalt! Erbarmen sich doch, gnädiger Herr! Wo soll’n mer bleiben mit die Frau und die kleine Kinderkens! – Und seinten mer nicht ein guter Brenner gewesen? Haben mer nicht mehr Branntwein geschafft aus dem schlechten Roggen und die Kartoffels, als alle andern Brenners? Oi, die halbverfrorne Kartoffels! Aber wo soll’n mer herkriegen dreihundert silberne Rubels? Onmeglich! Ganz gorre onmeglich, gnädiger Herr!“

„Dumm Zeug! Ein guter Brenner bist du, Jossel; [142] das hab ich immer gesagt; aber ein Jüd, ein Erzschelm, ein Spitzbub bist du doch, – und Geld hast du!“

„Aber wenn wir auch nicht selbst habb’n Geld, können mer doch vielleicht sehn zuzusehn, ob mer nicht können krie­gen Geld bei andere Lait vor Prozenters.“

„Seht doch den verfluchten Juden! Heraus, heraus sollst du mir morgen am Tage, – oder schaff Geld!“

„Au wai! Ein Jüd bin ich schon. Aber wird es denn sein grauße Ehre vor solch einen graußen Baron, einen armen Juden herauszuschmeißen oder mir abzuziehn das Fell über die Ohren, zu verlangen, was ganz gorre onmeglich ist? – Ja, wenn ich doch einen Krug hätte, oder sonst etwas, womit man kann verdienen Geld, man nur so ’nen kleinen, nichtsnutzigen Krug, wie der Pfefferkrug am Walde, so wollt’ ich schaffen Geld für den gnä­digen Herrn Baron. Geben Sie mir, gnädiger Herr, den kleinen Krug.“

„Was willst du denn bieten, Jossel?“

„Oi, was der alte Kruger gegeben hat, – hundert Rubel. Ist ja ein ganz kleiner Krug.“

„Ne, Freund, dafür wirst du ihn nicht kriegen.“

„So woll’n mer zehn zugeben; aber, gnädiger Herr, ich schwöre Ihnen zu, mehr kann man nicht geben.“

„Ja, wenn du nicht der Jud Jossel wärst,“ erwiderte Kagel mit bedeutungsvollem Lächeln. „Zweihundert mußt du geben.“

„Gewalt! Gewalt! Wie soll’n mer das eintreiben. Hundertzwanzig kann kein Mensch geben, und wenn ich sie gebe, komm ich zu kurz. – Was lohnt sich zu dingen, gnädiger Herr. Geb’ Gott Ihnen Glück, so gewinnen Sie hundert Rubel an einem Abend. Sie sind doch nicht wie andere Herrschaften, die nicht zu leben haben.“

„Also für 120 denkst du den Krug zu kriegen? Ne, [143] Jossel; war ja von mir nur ein Spaß. Weißt du denn nicht, daß das Gesetz überhaupt verbietet, Krüge an Juden zu verarrendieren?“

„Laß ihm freien,[3] dem Gesetz! Wird er uns baißen, der Gesetz? – Wird der Joseph, der Kammerdiener, geben den Namen, wird er haben den Krug, werd ich zahlen die Arrende, werd ich zahlen 125 Rubel.“

„Hab ich nicht recht, Jossel, wenn ich sage, daß du ein pfiffiger Kerl bist. Und nun hör, Jüd, zahlst du mir 130 Rubel für den Krug und schaffst du mir dreihundert heute auf der Stelle, – Rückgabe nächsten Martini, – so sollst du leben und bleiben.“

„Was soll’n mer machen!“ sagte der Jud mit Achsel­zucken. „Für den gnädigen Herrn müssen wir schon sehn, alles zu schaffen. – Aber was soll’n mer mit dem Geld? Nach der Stadt fahren?“

„Ja, nach der Stadt fahren. Die gnädige Frau wird dir aufschreiben, was du alles von Schönmann holen sollst. Aber morgen abend bist du zurück, – hörst du; denn Sonnabend ist Jagd.“

„Adje! gnädiger Herr. Wird alles werden besorgt, und werden sein zufrieden, gnädiger Herr!“

Damit verließ der Jude das Zimmer, um sich an das andere Ende des Hauses zu begeben, wo die Zimmer der Frau von Kagel sich befanden. Unterwegs begegnete ihm im Vorzimmer der Kammerdiener Joseph.

„Na, Jud, heute gute Geschäfte gemacht?“ fragte ihn der letztere. „Habt Ihr den Krug gekriegt?“

„Ja, für 130 Rubel. Viel Geld! grausam viel Geld! Sie werden geben den Namen, und ich werd halten den Krug.“

„Und glaubt Ihr, daß das umsonst sein soll?“

[144] „Weiß ich nicht zu leben? Herr Joseph! Werd ich doch die Ehre haben, Sie aufzunehmen, wenn Sie kommen, mit еn Rummchen, wie Sie nicht haben getrunken, – Ihr Lebetag nicht, – etwas Faines, etwas gorre Faines,“ und dabei setzte er die Finger an den Mund und machte eine Miene, als schlürfe er Nektar. „Soll’n auch sein Karten.“

„Gut, so werd ich mich ausbitten zu Sonntag Nach­mittag. Der Herr wird müd sein von der Jagd und Be­such wird keiner sein. Aber wenn kein Tanz ist, so lohnt sich’s nicht, die Füße zu brechen, bis man zu Euch kommt.“

„Soll auch sein Danz, Herr Joseph. Aber ich hätt’ eine kleine Bitte an Sie, Herr Joseph.“

„Na, was denn?“

„Sie wissen, hab ich gebracht voriges Jahr der gnä­digen Frau das perlgraue seidne Kleid aus Memel. Wahr­haftig, war mir schwer, es zu schmuggeln; hätten mir bei­nah die Strandreiters[4] abgerissen den Kopp, – und hab ich selbst bezahlt bare 40 Rubel, – und hab nicht gekriegt nicht einen Kopechen von der gnädigen Frau, hab auch nicht derfen sagen dem Herrn Baron. Soll kriegen das Geld, wenn die Butter verkauft ist. Kann ich doch lange warten auf die Butter; denn die Kühe stehen auf Stroh![5] Wollt’ ich Ihnen bitten, mer zu sagen, wenn die gnädige Frau wieder Geld hat, daß mer können kommen erinnern.“

„Na, das wird wohl nicht eher sein, als bis der Bru­der kommt.“

„Welcher Bruder?“

„Ach, der General! Hat sie ihn doch gut gemelkt, als er hier war vor zwei Jahren, — und wird ihn wieder melken, – wenn er nicht Angst gekriegt hat, überhaupt zu kommen.“

[145] „Vergessen Sie mer nicht, Herr Joseph, werd ich Ihnen auch nicht vergessen.“

Damit verzog sich der Jud, um seine Aufträge zu holen.

Kagel aber ging auf und nieder in seinem Zimmer. Es wurde ihm ganz behaglich bei dem Gedanken, daß wie­der „Blech“ da war. Schon genoß er in Gedanken den guten Kaviar und andere Delikatessen und witterte Cliquot.

Bald darauf trat Joseph ein und meldete den Ver­walter. Herr Müller trat ein.

„Nun, Müller?“ fragte sein Herr.

„Schlechte Nachrichten, Herr Baron. Die lange Liese ist durchgebrochen.“

„Was? War sie denn nicht hinter Schloß und Riegel?“

„Nun, wofür heiß ich denn Müller, und bin doch schon Verwalter seit zwölf Jahren, obgleich bei dem gnädigen Herrn erst im zweiten Jahr. Aber das Mensch hat „Mukeisen“[6] gehabt, aber nicht Mukeisen allein, sondern Helfers­helfer; denn sie konnte das Schloß nicht aufbrechen, auch wenn man ihr den Schlüssel gab; die Latten sind viel zu eng, da geht keine Hand durch. Es muß von außen einer aufgeschlossen haben, und nach der Spur zu urteilen, ist es eine Weibsperson gewesen. – Da ist eine ganze Bande, dort auf der Grenze von Alt-Wermelshof. Man hört dort jetzt von Einbruch und Diebstahl alle Tage. Und Weiber sind es, – die lange Ungar-Lihbe, die Zigeuner-Trine und noch eine. Sie machen ihre Fahrten jetzt in den dunkeln Nächten und brechen ein; aber kein Mensch kann sie fest­kriegen. Auch der Pelnu-Martin[7], der vor zwei Jahren nach Sibirien verschickt wurde, soll wieder zurück sein.“

[146] „Entsetzlich!“

„Haben Sie, gnädiger Herr, schon gehört, was dem Dammerwirt passiert ist?“

„Nein.“

„Es ist doch ein stämmiger, junger Kerl. Der ist vor einigen Tagen im Walde, um Strauch zu hauen. Hört er durch die Strüffeln[8] Weiber kommen. Der Wald ist dort ziemlich dicht. Er duckt sich, um zu hören, was sie vor­haben. Richtig, sie machen ab, die nächste Nacht bei ihm in die Kleete [9] zu steigen; die eine soll das Pferd schaffen, das am Amberg[10] hinter der Kleete warten soll, damit sie nicht weit zu tragen haben. Mein Dammer, nicht faul, sagt zu Hause kein Wort, nicht einmal der Frau, geht abends weg und schließt sich in die Kleete ein, – freut sich die Kanaillen abzufangen. Richtig, es mag kaum zehn Uhr sein, so kommen die Menscher, klettern von der Feld­seite aufs Dach, reißen das Stroh auseinander und wupps! da sind sie! Eben wollen sie die Schinken und Speckseiten und was er von Weizen und Erbsen hat, holen, da kommt er aus der Ecke hervor. Aber – hast du nicht gesehen! Die eine von den Bestien kratzt ihm in die Augen, die andere fährt ihm von hinten mit der Hand unter die Binde, daß er nicht schreien kann; so balgen sie sich herum, bis endlich die Weiber sich losreißen und wie die Katzen wieder hinauf und hinüber sind. Ehe er noch selbst ihnen nach und die Kleete aufschließen kann, sind sie auf und davon. Hol sie einer in der dunkeln, stürmischen Nacht, wo man die Hand nicht vor den Augen sehen kann, und – wer weiß, ob sie nicht Hilfe haben? Es sind „verwogene“ Kerls, die man letzthin bei ihnen im Kruge gesehen hat.“

[147] „Aber das ist ja schrecklich, Müller! Wenn sie nur nicht bei uns einbrechen und Feuer anlegen!“

„Na, bei uns sind viele Hunde auf dem Hof, auch im Stall selbst. Aber ich will doch lieber wachen lassen. Für die lange Liese ist nicht zu stehen. Die hat letzthin ihrem Schwager, der sie eine Diebin genannt hat, den roten Hahn aufs Dach gesetzt. Und nichts zu beweisen! Er möchte sie in Stücke zerreißen; aber nichts herauszu­kriegen. – Gott schütz’ vor Unglück!“

„Aber ist das ein Volk hier, Herr Gott! ein grauen­haftes Volk!“ rief Kagel voll sittlicher Entrüstung.

„Ja, es ist ein böses, dummes, heimtückisches Volk. Was thut der Purring-Wirt? Sein Heu hat er verkauft, so streng es auch verboten ist, — und das Geld versoffen. Das Vieh steht auf Stroh, – schon jetzt, vier Wochen vor Weihnachten! Da wird im Frühjahr wieder was zu heben sein.[11] Von Brot hat er auch nichts mehr und kommt gestern nach dem Hof, um aus dem Magazin Brot zu erbitten. Aber ich hab’s ihm versalzen; ich hab ihm aufdreschen lassen, daß er daran denken wird, – und dar­auf hab ich ihm ein Lof[12] gegeben.“

„A propos, Müller. Wie steht es mit dem Jakob?“

„Er nimmt sie nicht.“

„Warum nicht? Hab ich ihr nicht zwei Kühe gegeben und zehn Lof Roggen? Was will er denn noch?“

„Er spekuliert auf ein Gesinde (Pachthof).“

„Unverschämt!“

[148] „Aber er ist zäh, Herr Baron. Ich glaube nicht, daß man leicht mit ihm fertig werden wird.“

„Machen Sie, daß die Geschichte zu Ende kommt. Ich überlasse das Ihnen. Aber ich hab das Pluhmingen satt. Solche Leute, wie hier, solch verlogenes, faules, versoffenes, verstohlenes Volk, wie hier, giebt’s nirgends.“

„Wo ist’s denn besser, gnädiger Herr? Was ihre Nicken anlangt, so sind die Bauern überall wie bei uns. Der eine ist von Stroh, der andere ebenso. Und ich find sie gar nicht so schlecht. Die Branntweinflasche vorn, die Peitsche hinten, so erobere ich mit den Pluhmingschen Bauern die Welt. Bin ich nicht immer früher fertig mit meinen Feldarbeiten, als alle Nachbarn?“

„Ja, das sind Sie, lieber Müller. Aber, wenn wir nur selbst zu etwas kämen!“

„Aber, gnädiger Herr, das ist nicht meine Schuld; das ist …“

„Ich weiß das schon. Hören Sie, Müller, bestellen Sie die Juchzer[13] zu Sonnabend früh und sorgen Sie dafür, daß die Kerls Kourage haben; nicht wie das letzte Mal, wo die Hälfte alte Krüppel waren, die kaum durch den Schnee konnten.“

„Gut, gnädiger Herr. Ganz, wie Sie befehlen.“




Der Morgen der Jagd war gekommen, von Kagel und seinem Sohn, einem ganz jungen Offizier, der sich entsetzlich auf dem Lande langweilte, sehnlichst erwartet. Frau v. Kagel ging öfter durch den geräumigen Saal und die anstoßenden Zimmer des alten Hauses und half mit geschäftiger Hand der nachlässigen Magd nach, die den Staub [149] nicht sorgsam genug von den Möbeln gewischt hatte. Schon fuhren die ersten Schlitten in den Hof. Laute, herzliche Begrüßung, wie sie des Landes Brauch ist, bewillkommte die Eintretenden. Die Gewehre wurden in die Ecke ge­stellt, die Pelze abgelegt, und bald war das Gespräch im vollsten Gang. Jäger auf Jäger kamen unter Peitschenknall und Glockenklang angefahren, bald schien sie der Saal kaum fassen zu können. Eine Jagdgeschichte nach der andern, mancher nicht üble Witz erheiterte die Gesellschaft. Ein prächtiges Frühstück war bald serviert, und Kagel, der Vater, im besten Zuge, die Rolle des freundlichen Wirts mit der des Gourmands in gelungenster Weise zu vereinigen. Ab und zu wurde er dabei zur Zielscheibe mancher mut­willigen Zunge, wie es deren immer giebt, wo Kurländer zusammenkommen, aber es war seine beste Seite, im Grunde harmlos zu sein, wenn er einen Scherz ausgehen ließ, wie anderseits harmlose Sticheleien mit Humor aufzunehmen. Kagel, der Sohn, hieb tapfer ein, hob aber sein langes, schlaffes Gesicht gähnend und blasiert in die Höhe, sobald man etwas lobte. Nach seiner Meinung gab es „Früh­stücke“ doch nur in der Residenz.

Die Gesellschaft war vollzählig; auch A. v. Hahn fehlte nicht. Da klang plötzlich mitten in das Geklirr der Messer und Gläser der Ton des Waldhorns vom Hofe her. Der alte Jäger Walter im grauen Pelzrock mit Grün besetzt, stieß mächtig ins Horn. Er hatte sich’s nicht nehmen lassen, den Zug anzuführen. Bei dem Ton des Horns heulte und kläffte die Meute vor Jagdbegier. Der Piqueur Fritz konnte die wackern Hunde kaum zurückhalten; mal auf mal zogen sie ihn schief und brachten ihn in Gefahr, aus dem Sattel in den Schnee zu fallen. So brach man denn mit frohem Sinn und in bester Hoffnung unter den Klängen des Waldhorns und vielstimmigem Glockenklang nach dem [150] Walde auf. Der Saal war plötzlich leer geworden; nur die Schritte der gehenden und kommenden Diener und Mägde, welche den Frühstückstisch abräumten und die Zimmer in Ordnung brachten, erschallten hin und her. Mitten in diese Stille und Leere klingt es plötzlich aus einer Ecke mit tiefer Baßstimme: „O ho! Holla ho!“ Es ist der alte Freiherr von Fähringsdorff, dem sie angehört, seiner Zeit ein gewaltiger Nimrod, auch jetzt noch eine stattliche, edle, durch die Achtzig kaum gebeugte Gestalt. Er, der die andern mit diesem Ruf zur Jagd begleitete und aufrief, konnte freilich an ihr keinen Anteil nehmen: er war stock­blind und auch geistig in den letzten Jahren stark zurück­gekommen. Er hörte die Gäste zur Jagd aufbrechen, hörte die Jäger, das Waldhorn, das Wiehern der Pferde, das liebe fröhliche Hundegebell, Walters schmetternden Ruf. Das alte Herz wurde ihm jung. Der Wirklichkeit ganz vergessend, fuhr er in Gedanken mit und spielte Jagd, wie ein Kind, in vollstem Ernst, als wäre er wirklich dabei. „Loringhofen! du stehst hier, – Landsberg dort. Nicht so nah! Weiter nach links! So ist’s recht. – Jetzt werden die Hunde losgelassen. Richtig, die alte Koppel hat die Spur. Hab ich’s nicht gesagt? Triff, triff! durch das Dickicht; sie haben gehoben.“ Nun macht er das durch den Wald klingende Gekläff der Hunde nach, den Ton der Treiber, das Brechen der Zweige, den schweren Tritt des Elenn’s. – Ganz leis, um das nahende Wild nicht zu stören, fährt er fort: „Da kommt er heraus! Ein Boll. Ein Prachtkerl. Loringhofen backt an: bafz! – Pudel! – Er stutzt; er steht. Noch zu zweit. Abwarten. Er kommt näher; bratz! bratz! Jetzt! – taff! taff! – Da liegt er. Ehehe! Zuckt nur zweimal auf. – Wer schoß den Kerl?“ „Baron v. Fähringsdorff,“ antwortete aus der andern Ecke der Diener des Alten, der natürlich nicht [151] zum erstenmal diese Jagd hatte aufführen sehen und wohl wußte, was dem Alten am liebsten zu hören war. „Natürlich Baron v. Fahringsdorff,“ rief dieser mit seligem Lächeln; „wer anders konnte es denn sein?“

So schwärmte er fort, bis endlich Fräulein Alma und ihr Vetter, der einarmige Rittmeister, welcher leider nicht mit zur Jagd konnte, erschienen und sich mitleidig zu ihm setzten, um dem armen Blinden Gesellschaft zu leisten.

Die Jagd hatte unterdessen ihren regelrechten Verlauf genommen, vom schönsten Winterwetter begünstigt. Es war vier Uhr geworden, da hörte man die ersten Glocken, welche die rückkehrenden Schlitten verkündeten. Bald füllte sich das Haus mit heimkehrenden Jägern, fast alle in fröh­lichster Stimmung. Die Jagd war gut gewesen; zwei Elenne, zwölf Hasen und ein Fuchs, die der alte Walter heimbrachte, gaben Zeugnis davon. Aber es hatte doch auch an ein paar recht unangenehmen Zufällen nicht gefehlt. Baron Hahn hatte sich von seiner Hitze verleiten lassen, einem Elenn, auf das man zweimal geschossen und das bereits fast außer Schußweite war, vorkoupieren zu wollen. Leider hatte er dabei die Unebenheiten des Bodens nicht gemerkt und war über einen alten Baumstumpf ge­stürzt. Glücklicherweise hatte sich dabei das Gewehr nicht entladen, aber das Bein hatte er sich beim Fallen doch so arg verletzt, daß er lahmen mußte und nicht unbedeutende Schmerzen empfand. Ein größeres Unglück hatte die Jagd beschlossen. Der junge Kagel war nicht zum Schuß ge­kommen und doch nicht einer der Geduldigsten. Verstimmt, wie er war, hatte er noch bis zum letzten Augenblick ge­hofft, es werde etwas für ihn aus dem Gebüsch heraus­kommen. Schon fing es an dunkler zu werden. Die Treiberlinie kam gerade auf seine Ecke zu. War noch etwas im Walde, so mußte es zu ihm heraus. Sein eigener [152] Denschtschick[14] hatte um die Erlaubnis gebeten, sich den Treibern anschließen zu dürfen, und war, vielleicht aus Unkenntnis, denselben um einige Schritte voraus. Kagel meinte in dem Gebüsch sich etwas bewegen zu sehen und vermutete ein Wild darin. Ehe es noch heraus war, schoß er. Ein lauter Aufschrei, ein paar hastige Schritte vor­wärts, dann der schwere Fall eines hinstürzenden Körpers. Es war kein Zweifel, daß jemand getroffen war. Es war sein eigener Diener. Der ganze Schuß der zur Elennjagd geladenen Flinte war ihm in den rechten Arm und in die Brust gefahren. Blutend, vor Schmerz sich windend, wurde der arme Mensch auf einen Schlitten gelegt und nach Hause gebracht. Doktor Panther, seit vielen Jahren Arzt in jener Gegend, war glücklicherweise auch unter den Jägern und konnte sich gleich des Verwundeten annehmen. Dieser wurde in das Zimmer der Dienstleute gebracht, wo sich der Doktor alle mögliche Mühe mit ihm gab. Kagel, der Urheber seines Unglücks, folgte ihm dorthin nach, ohne aus seiner Stimmung schläfriger Apathie herauszukommen. Den Doktor, der ihn von Kindesbeinen kannte, verdroß diese angenommene, oder – schlimmer noch – natürliche Gleichgültigkeit gegen fremde Leiden, und er ließ ihn dies gründlich fühlen, während seine Augen unter den buschigen schwarzen Brauen vor Zorn funkelten. „Hast dich schänd­lich blamiert, Nolling.[15] Ein Milchjunge bist du. Zu schießen, ehe man sieht! Du verdienst, daß man dir eine Kartoffelflinte giebt, trotz der bunten Narrenjacke, die du trägst.“

„Doktorchen, Doktorchen; wer kann für Unglück!“ be­gütigte Kagel, indem er der Sache eine andere Wendung zu geben suchte. Zugleich zog er ein paar Rubel aus der [153] Tasche und warf sie dem armen todesbleichen Soldaten auf den Tisch.

„Und damit meinst du es gut gemacht zu haben?“ höhnte ihn der Doktor; „nachdem du ihn zum Krüppel gemacht, vielleicht gar, wie ich fürchte, in jene Welt expediert hast. Ist das kein Menschenfleisch wie deins, Junge?“

„Nicht so bös! Nicht so bös, Doktorchen,“ begütigte Kagel aufs neue und verschwand bald; denn man ging zu Tisch. Dort ging es laut und fröhlich her; die Pfropfen sprangen, die Gläser klirrten und mancher trank sich warm. An Scherz und Witz fehlte es jetzt noch weniger als beim Frühstück. Dabei wurde natürlich auch der „der Residenz­jäger“ nicht vergessen. „Sag, Kagel,“ wendete sich ein Nachbar an den Alten, „ist es wahr, daß dein Sohn sich bei den Franzosen hat anwerben lassen?“ „Fällt ihm nicht ein. Wie kommst du darauf?“ „Ach so, es klang mir nur das alte Lied in den Ohren, das wir 1814 sangen: „Franzosen sind ja toll und blind, sie schießen da, wo Menschen sind.“ Schallendes Gelächter. Dergleichen Stichelreden fielen noch manche. Aufrichtig gesprochen, berührten diese den unglücklichen Schützen viel empfindlicher, als die Schmerzen des zum Tode Verwundeten. Er nahm darum auch die Gelegenheit wahr, sich bald nach dem Essen zu entfernen, um nach Friedrichsfelde, einem kleinen Land­städtchen, zu fahren, wo gerade Ball war.

Nach dem Essen wurden die grünen Tische in die Mitte des Zimmers gerückt. Man sah es Kagel sen. an, daß er in seinem Element war. Bald waren alle Herren richtig untergebracht. Selbst Herr Henry, der anfangs die Miene annahm, sich bei den Damen beliebt machen zu wollen, und dann eine Weile seine goldene Tabatiere hatte spielen lassen, wobei er mit diplomatischer Verbindlichkeit und schlauem Lächeln einige Trivialitäten vom Stapel ließ oder [154] über Landwirtschaft orakelte, gab schließlich seine Sprödigkeit auf und fand sein Plätzchen an einem der Tische. Nur v. Hahn nahm an dem Kartenspiel keinen Teil, erstlich weil es überhaupt nicht zu seinen Gewohnheiten gehörte, dann aber auch, weil seinem Fuße die Ruhe wohl that, die er sich auf dem Sofa gönnen konnte.

In der Provinz sind blanke Uniformen immerhin selten und, – wenn der Träger Landeskind ist, im Ballsaal nicht gerade unerwünscht, zumal nicht selten Mangel an Tänzern ist. So war denn Kagel jun. in Friedrichsfelde gerade recht gekommen. Man sah ihn gern; alte Bekanntschaften wurden aufgefrischt. Vielleicht auch mischte sich einige Neugier ein, zu sehen, was aus Töffel geworden war. Leider konnte seine schlanke Gestalt und passable Haltung über das innere Nichts nur auf Augenblicke täuschen. Aber das pflegt auf einem Ball das geringste Hindernis zu sein. Er tanzte viel und mit bemerkbarer Lebhaftigkeit, um nicht zu sagen Ausgelassenheit, die gegen die etwas gemessenen Weisen der Provinz nicht wenig ab­stach. Seiner Unbefangenheit war es sogar gelungen, sich die Königin des Balles, die schöne und stolze Baronesse Emmingthal für die erste Française zu erobern. Die Pause, die dieser voranging, benutzte er, um sich nach Möglichkeit zu poussieren. Die Conversation ward von ihm französisch begonnen; aber von seiner ihm auch hierin hundertfach überlegenen Nachbarin in die Enge getrieben, sah er sich leider, nachdem er sein Kleingeld ausgegeben und Kapital nicht vorhanden, gezwungen, in den Schoß seiner Mutter­sprache zu flüchten. Doch dies war nur ein geringes Malheur. Es sollte bald eine schmerzlichere Niederlage folgen. Seine schöne Nachbarin hatte mit oder ohne Ab­sicht das Gespräch auf Themata gebracht, die sibirisch weit über seinen Horizont hinausgingen und Angstschweiß auf [155] seine kriegerische Stirn brachten. In dieser Verlegenheit benutzte er den ersten Augenblick, um auf die Jagd zu kommen.

„Vor fünf Stunden auf der Jagd, einer großen Jagd, jetzt auf dem Ball, – nicht wahr, gnädiges Fräulein, Sie müssen zugestehen, wir Petersburger verstehen das Leben zu genießen?“

„O daran hab ich nie gezweifelt,“ erwiderte die Ba­ronesse mit malitiöser Betonung. „Aber sagen Sie doch, lieber Herr v. Kagel, was haben Sie denn geschossen, – einen Fuchs, oder Hasen, – oder?“ – – und wieder ruhten ihre schönen großen Augen so eigentümlich auf ihm. Um der unverkennbaren Malice sich zu entwinden, hätte Kagel gern gelogen. Aber so frech er war, diesen schönen und durchdringenden Augen gegenüber war das Lügen schwer, auch fürchtete er, wenn er sich eine Lüge beikommen ließ, bei nächster Gelegenheit, da Emmingthals nicht weit von Pluhmingen wohnten, mit endlosem Spott überschüttet zu werden. In seiner Verzweiflung suchte er aus seinem Unglück einen Scherz zu machen.

„Ja, wenn Sie das erraten könnten, gnädiges Fräu­lein,“ begann er mit lautem Auflachen; „ich hab meinen eignen Menschen[16] geschossen. Vous comprenez, Made­moiselle, j’ai la vue un peu basse; die Juchzer kommen eben aus dem Walde heraus, und da rührt sich was im Busch; ich brenn ab, – und was denken Sie? — es ist mein Denschtschik! Fällt um wie eine Mütze. Er schrie grimmig, – wie eine Katze! Ich fürcht, er kratzt morgen oder übermorgen ab, wie der Doktor sagt, – und nächste Woche muß ich nach St. Petersburg zurück! Wirklich fatal!“

[156] Und Sie fanden die Stimmung, Sie fanden den Mut, auf den Ball zu gehen?“ erwiderte die Baronesse. Diesmal flammten ihre Augen.

„Was ist denn dabei?“ stotterte Kagel, „man muß das doch nicht so nehmen.“

„Sie müssen Kurland sehr bald fremd geworden sein, wenn die Todesqualen Ihres unschuldigen Opfers Sie so gleichgültig lassen. Aber nachdem Sie eben eine solche Probe Ihrer Bildungsstufe gegeben haben, erwarten Sie vergeblich, daß eine der Damen hier im Saal mit Ihnen tanzen wird. Soweit steigt man nicht hinab.“

„Sie werden doch nicht, Baronesse?“ rief der Arme bestürzt.

„Setzen Sie sich in den Schlitten und fahren Sie nach Hause,“ – sagte sie mit einem Blick, in dem Verachtung und Mitleid sich mischten; „beweisen Sie wenigstens Teilnahme dem Unglücklichen, dem Sie das Leben geraubt haben. Zeigen Sie, daß Sie mehr sind, als eine ausgestopfte Uniform.“ Damit wandte sie ihm den Rücken zu.

Kagel hatte alle Haltung verloren. Einen Augenblick stand er, wie vom Donner gerührt; dann eilte er hinweg, vergaß sogar seinen Degen aus der Ecke zu nehmen, und mußte den Diener nach demselben in den Saal schicken. Darauf setzte er sich still in den Schlitten, ließ aber kurz vor Pluhmingen die Glocke abbinden; denn er fürchtete, Panthers und der andern Herren scharfe Zunge, wenn sie erführen, daß er so bald vom Ball zurückgekehrt war. Ganz sacht legte er sich zu Bette, während die Herren drüben in einer blauen Wolke von Tabaksrauch eine Partie Boston nach der andern oder einen Rubber Whist abspielten.

„Misère!“ sagte Kagel senior eben an.

„Da spielt er nun schon heute zum drittenmale Misère,­ [157] der Frohe,“ fiel einer der Herren dazwischen; „er macht uns tot mit Misère.“

„Das scheint Kagels Leibfarbe zu sein,“ rief eine Stimme aus der Ecke, vom Whisttisch herüber. — „Als seine Fuhren vorige Woche nach Riga an meiner Thür vorübergingen, — wahrhaftig! sie sahen wie die leibhaftige Misere aus; die Pferde Haut und Knochen.“

„Ja, Kagel, ich hab dich auch bewundert,“ rief Hahn vom Sofa; „die Bahn fast abgegangen, ganze Strecken ohne Spur von Schnee, – und du schickst die Leute nach Riga!“

„Ihr habt schön reden,“ erwiderte Kagel; „der infame Schreiber[17], diese Kanaille von einem Lichtzieher, wollt’ mir nicht länger puffen. Ich steh nämlich schon seit andert­halb Jahren mit 1000 Rubel bei ihm in der Kreide und ich muß ihn warm halten; er ist der einzige von den Ker­len, der mir noch auf Lieferung was vorausgiebt. Die andern sind Knicker, einer wie der andre.“

„Aber, auf Ehr’! Kagel,“ rief einer dazwischen, „wenn du deine Bauern so schindest, so wundre ich mich nur, daß sie dir nicht alle davon gelaufen sind.“

„O, dafür ist gesorgt,“ erwiderte lachend der Frohe; „wenn sie auch wollten, – sie können nicht mehr über’n Graben!“

„Seht, er reißt noch Witze!“ rief Henry.

Nach obigem wird es begreiflich, warum der Großvater nur ungern von den Zuständen der Bauerschaft in Pluhmingen und Alt-Wermelshof sprach, und der Vater, wenn er von seinen Hausbesuchen in jenem Gebiet heimkehrte, oft ganz niedergeschlagen und entmutigt war. Es waren da tiefe Schäden, gegen welche die redlichsten Bemühungen [158] des Pastors völlig erfolglos bleiben mußten, wenigstens solange die Besitzer dieser Güter selbst die direkten oder in­direkten Förderer dieser Gebrechen waren. Daß es hierin anders werden könnte, daran war fürs erste nicht zu denken.

Man kann sich denken, daß nachdem einmal das Thema der Bauerzustände aufs Tapet gebracht worden war, es an Klagen über ihre Trunksucht, Dieberei u. s. w. nicht fehlte. Bald der eine, bald der andere hatte ein neues Pröbchen dieser Untugenden zu berichten. Die lange Liese mit ihren zahlreichen Heldenthaten blieb natürlich nicht aus.

„Das ist alles nichts gegen den Ehsten,“ rief mit sei­nem Diskant der alte Herbertson dazwischen. „Das ist ein andrer Schlag, als der Lette. Ich weiß davon ein Lied zu singen. Schlag ihn tot, so läßt er nicht von seinen Nicken. Ich denk noch jetzt nur mit Grauen an diese Kerls mit ihren langen Haaren und ihrer Bosheit. Es ist nichts zu schlecht, was er nicht gegen den Ssaksa[18] ausheckt. Wenn er sein kurrata[19] ruft, dann ist er zu allem fähig. Ha! wie die Kerls sich selbst hauen, wenn sie in Wut geraten. Ich war zuletzt meines Lebens nicht sicher. Darum verkaufte ich die ganze Bude und zog hieher. Ich komme mir hier wie im Paradiese vor. Freilich sie stehlen auch hier. Wie sollen sie nicht stehlen, zumal in unsern Rie­gen, so lange wir doch nachts dreschen müssen – und wir selbst die Nacht hindurch schlafen. Aber steht, wie ich, in der Nacht, meintwegen um zwei Uhr, auf und kommt ihnen auf den Pelz, — das hilft!“

So ging das Gespräch eine Weile fort. Hahn, der ruhig zugehört, nahm jetzt das Wort: „Mir scheint, meine­ Herren, doch noch etwas anderes nötig, um aus diesen Zuständen ­ [159] herauszukommen. Wir dürfen die Wirtsstellen,[20] die Mühlen, die Krüge u. s. w., kurz alle Stellen, die von Einfluß auf das Volk sind, nur mit sittlich zuverlässigen Leuten besetzen. So lange wir hier aber nur den finan­ziellen Gesichtspunkt, oder das Interesse des Augenblicks zur Geltung kommen lassen, werden wir schließlich immer die Geschädigten sein, ganz abgesehen davon, welchen Scha­den wir anrichten helfen. Noch in der vorigen Woche habe ich meinen sonst sehr fixen Schreiber entlassen — wegen Kartenspiels. Sie lachen, meine Herren! Aber ich hab dasselbe allen, die in meinen Dienst kommen, verboten. Es ist das Grundsatz bei mir; er ist ihnen bekannt und somit haben sie die Folgen sich selbst zuzuschreiben, wenn sie sich ein Zuwiderhandeln gestatten. ,Sehen Sie, lieber Freund,’ sagte ich zu dem jungen Menschen, ‚ich kann Karten spielen, obgleich ich, wie Sie wissen, kein Verehrer davon bin; ich kann etwas verlieren. Aber Sie sind nicht so gestellt, daß Sie etwas verlieren könnten, und wenn dieser Fall eintritt, geraten Sie in die Versuchung, unredlich zu werden. Das kann ich nicht zugeben‘“

„Seht den Moralisten!“ rief einer der Herren.

„Es ist mir sehr ernst damit, meine verehrten Herren Nachbarn. Ich wiederhole es, so lange wir das arme Volk den Juden zur Beute lassen, so lange wir in einigermaßen einflußübenden Stellen zweifelhafte, um nicht zu sagen gebrandmarkte Individuen dulden, so lange wird es nicht besser werden, ja auch dann nur, wenn hier ein treues Zusammenhalten und Zusammenwirken stattfindet.“

„Leicht gesagt; aber schwer durchzuführen,“ bemerkte jemand.

[160] „Gewiß; aber wenn wir nicht das Prinzip der Ge­sittung diesen teils unmündigen, teils verwilderten Massen gegenüber zur Geltung bringen sollen, wer dann? Wozu sind wir denn da? Freilich werden wir vielfach mehr auf das kommende Geschlecht, als auf eine durchgehende Besse­rung des alten zu rechnen haben. Die Schulen werden das Beste thun müssen.“

„Hahn schwärmt wieder,“ fiel einer halblaut dazwischen.

„Mit diesen Narrheiten kann er mich geradezu nervös machen,“ bemerkte ein andrer.

Der Diener Joseph trat ins Zimmer und meldete, an Herrn v. Hahn gewendet: „Herr Baron, Ihr Kammer­diener ist da.“

„So?“ sagte Hahn verwundert. „Was ist denn da passiert? Laß ihn hereinkommen.“

Der Diener kam in sichtbarer Aufregung und berichtete: „Es ist ein großes Unglück bei uns geschehen. Die gnädige Frau hat mich hergeschickt. Wie der gnädige Herr weiß, hat der Kutscher den Stall verschlossen. Der Stallknecht geht also heute mittags, wie abends durch die Treppe, die vom Heuboden kommt, in den Stall. Er kommt zu Ihrem Reitpferd, dem Braunen. Der steht nicht, sondern liegt. Das fällt ihm schon auf. Er ruft ihm zu, er giebt ihm einen Stoß, damit er aufstehe. Aber das Pferd kommt nicht auf die Füße. Er nimmt die Laterne und besieht es näher. Das arme Tier schwimmt in Blut, – ein großer Stich mit einem Messer grad in den Leib ist da zu sehen, aus welchem das Blut nur so strömt. Der Stall wurde von innen geöffnet, Leute kamen zusammen; der Müller Zülp machte auch eine Bandage fertig, um das Blut zu stillen. Auch haben wir nach dem alten Vieharzt Rose geschickt, aber wer weiß, wie es geht. Das Pferd ist sehr schwach. Das Unglück muß schon vor einigen Stunden [161] geschehen sein, so um die Schummerzeit; denn zu Mittag war es noch frisch und gesund.“

„Hat man keine Spuren, wer der Bösewicht ist?“

„Das kann doch kein andrer sein, als die Ilse. Zülp meint es auch. Man weiß doch, daß sie es gewesen ist, – wenn man es auch nicht beweisen kann, – die in diesem Frühjahr dem Dihrikwirt alle vier Pferde verlähmt[21] hat, und, darum sitzt sie ja auch. Man hat ihr scharf zu­gesetzt; aber sie weiß von nichts und sitzt wie ein Lamm hinter ihren Latten. – Zülp sagt, der Gärtner muß seine Thür nicht zugeschlossen haben, als er ins Treibhaus ging, die Pflanzen zu begießen, und so ist die Ilse durch des Gärtners Zimmer auf den Heuboden gekommen. Anders ist es nicht.“

„Schon gut,“ sagte Hahn und gebot damit dem auf­ geregten Redefluß seines Dieners Einhalt.

„Ich wünsche den Herren einen guten Abend!“ fuhr er fort, indem er sich erhob, um nach Hause zurückzukehren.

„Ist eigentlich ein guter Morgen,“ bemerkte einer der Herren; „es ist halb zwei!“ – Doch erst gegen vier ging man zu Bett, um sich von den doppelten Strapazen der Jagd, wie der Tafel zu erholen.

Wir Knaben waren am Nachmittag spät von unsrer Schlittschuhpartie zurückgekehrt. Hatten wir auch von der Jagd noch nichts erfahren können, so waren wir doch von unserer Expedition in höchstem Grade befriedigt. Ein Beweis dafür war, daß wir bei der Rückkehr über den Mühlenteich weder dem Müller noch seinem Kettenhunde einen Besuch abstatteten. Kaum hatten wir aber unser Vesperbrot [162] mit heißem Appetit vertilgt, so verbreitete sich auch schon bei uns die Nachricht von dem Unglück im Hof. Es berührte uns nah; denn wir hatten das schöne Tier, das hier so schändlicher Bosheit und Grausamkeit zum Opfer gefallen war, oft gesehen und bewundert. Hätte es in unsrer Macht gelegen, wir hätten die Ilse als Hexe verbrannt. Doch schliefen wir ruhig, ohne von blutenden Pferden oder brennenden Scheiterhaufen zu träumen, – wir waren zu müd. – Es ärgerte alle, daß man der bösen Person nichts beweisen konnte.

Aber auch hier sollte das alte Sprichwort wahr wer­den: ,Der Krug geht so lange zum Wasser, bis der Henkel bricht.‘ Sie hatte mit dem Gärtner, der das Zimmer vor dem Gefängnis bewohnte und dadurch zugleich Gefängniswärter war, einen Streit gehabt. Der Gärtner, der außerdem einen kleinen Krug in der Nähe inne hatte, in welchem seine Frau wohnte, war, nachdem er sein Zimmer sorgfältig verschlossen, Sonnabend abends nach Hause gegangen. Als er am Morgen seiner Gewohnheit nach früh aufsteht, sieht er sein Pferd, das die Nacht über auf der Weide hinter dem Hause gegrast hatte, an den Hinterfüßen mit Blut überströmt. Dem armen Tier sind die Sprungsehnen­ durchgeschnitten. Zugleich aber liegt neben dem Pferde diesmal ein unverkennbares Anzeichen über die Per­son des Missethäters. Ein Strumpf, den man der Ilse zum Stricken gegeben, war ihr aus der Tasche gefallen. Sie, der kein Schloß fest genug war, hatte sich diesmal bei aller sonstigen Schlauheit durch eine kleine Unachtsamkeit selbst verraten. Jetzt half kein Leugnen mehr, und bald trat sie ihren Weg nach Sibirien an. War eine dafür reif, so war sie es.

Fragt man nun noch zum Schluß, was aus Herrn von Kagel und aus Pluhmingen geworden, so können wir nur [163] sagen: es kam, wie es kommen mußte. Der alte Göttinger hatte wenige Jahre darauf ausgewirtschaftet und war froh, als ihm Herr P. v. Hahn einen sehr anständigen Preis für das Gut bot. Mit dem Rest, der ihm verblieb, hätte er immerhin bescheiden leben können. Aber zu sehr moralisch defekt, wurde er auch mit diesem schneller fertig, als gut war, und beschloß seine Tage, vergessen und verlassen, in ziemlichem Elend. Seine Frau war ihm glücklicherweise schon einige Jahre früher vorangegangen. Pluhmingen hat längst sein Schulhaus, und die von Herrn v. Hahn so sehnlich gewünschte Umwandlung ist schneller und gründlicher vor sich gegangen, als irgend jemand gehofft. Einer aus jener einst so oft und so arg geschmähten Bauerschaft hat außer dem eignen Erbhof und den Besitzungen, mit denen er seine Söhne ausgestattet, auch noch den Hof Pluhmingen in Pacht.

Und nun noch dir, lieber alter Stein, an dem heute meine Erinnerungen anknüpften, einen Abschiedsgruß! Lieg noch lange dort, wie ein treuer Wächter, vor der Gasse des Pastorates. Sieh viel fröhlicher Kinder um dich spielen, glückliche Menschen aus und eingehen und trauernde nicht ungetröstet zurückkehren. Sieh Geschlecht auf Geschlecht sich folgen, – mit Vater Homer zu reden, – wie die Blätter im Herbst von den Bäumen fallen, – um dem neuen, harrenden Frühling Raum zu geben, – bis auch deine Stunde kommt, da ein Blitz dich spaltet, wie deinen Bruder, den großen „Sofastein“ am Mühlenteich, oder die Menschen dir herzlos Pulver in den Leib treiben und dich sprengen und dich in ihr Haus mauern, daß du ein näherer Zeuge werdest ihrer Freuden und ihrer Qual.



  1. Riege heißt in Kurland die Dörrkammer für Getreide, in welcher Hitze und Rauch sich verbanden.
  2. Schaftstiefeln.
  3. schreien
  4. Zollwächter.
  5. d. h. werden nur mit Stroh gefüttert.
  6. Provinzialismus für „Dietriche.“
  7. eigentlich „Aschen-Martin,“ vom Volk so genannt wegen der vielen Brandstiftung, die er verübt hatte.
  8. Gesträuch.
  9. Speicher.
  10. Anhöhe.
  11. Bei der nachlässigen Viehpflege jener Zeit kam es öfter vor, daß das Vieh gegen den Frühling so schwach war, daß es sich aus dem Dünger, auf welchem es stand, nicht erheben konnte, sondern mit Stangen gehoben werden mußte.
  12. 1 1/2 Scheffel.
  13. Treiber.
  14. Russisch: Offiziersbursche.
  15. Abkürzung von Arnold.
  16. Ausdruck für „Diener,“ noch aus der Zeit der Leibeigenschaft stammend.
  17. reiches Handlungshaus, das neben dem Korngeschäft noch eine Seifenfabrik besaß.
  18. Deutsche.
  19. ehstnisches Verwünschungswort.
  20. Pächter der Bauerhöfe; gegenwärtig bereits vorwiegend Besitzer derselben.
  21. Die Sehne an den Hinterfüßen durchschneiden, was um so leichter ist, wenn die Pferde mit „gespannselten“ (gefesselten) Vorderfüßen auf der Weide sind.