Aus alten Zeiten/Durch Dunkelheit zum Licht

Eine Jagd Aus alten Zeiten
von Paul Seeberg
Friedrich und Dorothee
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8. Durch Dunkelheit zum Licht.




Unter allen Tagen im Winter keiner wie der Christ­abend! Man wird mir’s darum zu gute halten, wenn ich in diesen meinen Kindheitserinnerungen auch unter anderem auf meinen sechsten Weihnachtsabend komme. „Aber warum gerade den sechsten?“ fragt der geneigte Leser. Den ersten verbrachte ich neun Monate alt, wenn ich nicht irre, mit Zahnen beschäftigt und daher übelgelaunt, in meiner Wiege. Was aus den folgenden vier geworden ist, vermag ich nicht anzugeben. Dagewesen sind sie, aber wie sie waren und wo sie blieben, ist mir nie klar geworden. Gewiß ist das eine unverzeihliche Unwissenheit und Undankbarkeit von mir, da ich doch ohne allen Zweifel an den Lichtern und den grünen Bäumen mich mitgefreut und von den Weihnachtssüßigkeiten mitgenossen habe, — aber ich weiß nichts davon. So muß ich denn wohl oder übel mit dem sechsten an­fangen. Von diesem weiß ich, daß wir Kinder alle, natür­lich unter entsprechender Aufsicht, am Nachmittag in Tante Lotten’s[1] Zimmer eingesperrt wurden, und daß sich, — wie schon am Vormittag ein Pfefferkuchenduft das Haus durchzog, — jetzt ein schöner Tannengeruch verbreitete, der [165] sich bis zu uns den Weg bahnte. Das Talglicht brannte auf dem Tisch, der Wind schlug heftig an die kleinen zu­gefrorenen Scheiben des alten Hauses und pfiff wohl auch merklich durch die Ritzen, aber in dem großen Ofen pras­selten und knallten die Tannenscheite, und von Kälte litten wir nicht. Neugierig drückte man öfter sein Gesicht an die Scheiben; denn er sollte ja heute kommen, „der hei­lige Christ,“ und es wurde die Zeit so lang, so lang! Wer er eigentlich war, der liebe heilige Christ, war mir und meinen kleinen Schwestern, — ich will’s gestehen, — etwas unklar. Wohl hatten wir etwas gehört von dem Jesuskindlein, wie es so lieblich in der Krippe lag und die Mutter sich über dasselbe beugte und die Engel her­niederschauten und sangen. Wenn es dann nun weiter hieß, das liebe Jesuskind, Gottes ein’ger Sohn, sei der heilige Christ und bringe uns Kindern all die schönen, süßen Sachen, so stellten wir uns wohl mit den frommen Hirten an die Krippe voll Dank und Anbetung; auch hatten die älteren Geschwister Weihnachtsverse gelernt, von welchen einige Brocken bei uns hängen geblieben waren. Aber dann verwirrte sich wieder alles. Es kam eine andere Gedankenreihe heraufgezogen: „der heilige Christ müsse doch eigentlich viel, viel größer sein, sehr groß, wenn er so vielen Kindern zu Weihnachten so herrliche Sachen bringen könne, — gewiß wenigstens so groß wie der Knecht Ruprecht oder der Pelznickel mit dem großen und dem kleinen Sack und der langen Rute, vor welchem mein klein Schwesterchen einmal unter das Sofa gekrochen war, ja unter Groß­mutters Rock flüchten wollte. Und reich, o wie reich mußte der sein, der heilige Christ, wenn er so durchs ganze Land alle Kinder beschenken konnte! — Aber wie er nur komme? Vom Himmel, — das stand fest; aber wie weiter? Man sah durch die trüben Scheiben; aber draußen war’s un­heimlich [166] dunkel, und zu dem tiefen Schnee, der auf dem Hofe lag, kamen immer neue Flocken hinzu. Nichts zu sehen! Nichts zu hören! „Ob er heute überhaupt nur kommen wird?“ „O gewiß; Mutter hat’s gesagt.“ warf jemand ein. „Aber wie kommt er durch den tiefen Schnee? Ob er vielleicht zu Fuß kommt? Ach, wie schwer muß es da sein, durchzukommen, — darum, — gewiß darum bleibt er so lange aus.“ „Aber vielleicht kommt er im Schlitten,“ meinte Schwester Minna. „Gewiß wird er im Schlitten kommen, hat doch auch viele Sachen mit,“ stimmte der kleine Chor bei.

In demselben Augenblick hörte man ein schwaches Glöckchen mitten durch den pfeifenden Wind; offenbar hielt ein Schlitten vor der Hausthür; man hörte diese aufgehen. „Das ist der heilige Christ,“ sagte Schwester Lotte. Alles wollte hinaus, um den heiligen Christ zu sehen. Aber die alte Margaret hielt scharfe Zucht. Ehe der Vater mit der Glocke das Zeichen gab, durfte niemand hinaus. So be­ruhigte man sich denn. „Anntantchen“ kam ins Zimmer und wurde natürlich mit Fragen bestürmt, wer angefahren sei. „Onkel Schreiner,“ hieß es, „aus R.“ „Also nicht der heilige Christ, — noch immer nicht!“ — Die Zeit ward zum Sterben lang. Bruder Georg, der älteste unter uns, suchte sie zu verkürzen, indem er Geschichten erzählte, eine spannender und grusliger als die andere, von Tigern, Schlangen und Löwen. Aber so schön sie sonst waren, heute zogen sie nicht; die Gedanken der kleinen Zuhörer waren immer anderswo.

Endlich hören wir die Glocke, näher und näher; die Thür thut sich auf. Mit freundlichem Lächeln erscheint der Vater. Er wendet sich um, wir folgen gespannt und still; Margaret mit dem Jüngsten auf dem Arm macht den Schluß. Man zog durch Großmutters Zimmer, das Eß­zimmer, [167] den Saal, alle nur kümmerlich erleuchtet, nach dem „Endenzimmer.“ Die Thüren öffnen sich; ein Meer von Licht ergießt sich über uns. Da standen sie alle die Bäumchen auf dem langen weißgedeckten Tisch, in dem Schmuck ihrer strahlenden Lichter und ihrer lockenden Gaben. Nicht ein Baum allein war da, sondern jedes Kind hatte seinen eigenen, und je nach des Kindes Jahren wuchs auch der Baum. So hatte es Großvater vorsorglich geordnet. „Friede auf Erden!“ sangen die Engel in der heiligen Nacht. Und doch wie leicht kommt ein Mißton über Mein und Dein bei gemeinsamem Besitz in die kleine Welt! Darum ward jedes der Kinder von der Mutter an sein Plätzchen geführt, wo es seine süßen, köstlichen Gaben fand und nach rechts und links mitteilen konnte, wie es ihm ums Herz war. Die „Großen“ aber, wie wir die Erwach­senen und die Alten zu nennen pflegten, sahen alle so lieb und freundlich drein und sprachen vom heiligen Christ. Auch der fremde Onkel oder vielmehr Großonkel war da und sah gar nicht so fremd aus. Er saß auf dem Lehn­stuhl, neben dem Großvater, ein kleines, fast weißes Männchen. Er sah uns alle so herzig an und war so gut, als hätte er uns alle schon längst gekannt, — und ich sah ihn doch zum erstenmal! Von ihm hätte ich das wunder­schöne Pferd (einen echten Schimmel aus Papiermaché, ganze acht Zoll hoch), flüsterte mir die Mutter ins Ohr und erinnerte mich daran, ihm zu danken. Als ich nun zu ihm kam, den Schimmel in der Hand, hob er mich auf sein Knie und that gar lieb mit mir, so daß mein Herz aufging und ich ihm tausend Dinge zu erzählen hatte. Auch Schwester Lotte kam, denn sie hatte von ihm die schönen, schneeweißen Gänse, alle in einer Reihe, auf grünem Bande und mit Musik; drehte man, so kamen sie an dem einen Ende herauf, an dem andern tauchten sie in die Tiefe, – [168] es war wunderschön! Den ganzen Abend wurden sie nicht müd, auf- und abzusteigen. Kann man es mir übel­ nehmen, daß ich, ein kleiner Ketzer, der ich war, meine stillen Gedanken hatte, der Onkel Schreiner sei eigentlich gar kein wirklicher Onkel, sondern er sei vielleicht der hei­lige Christ selbst, der sich nur in einen Onkel verkleidet habe; denn das war doch gewiß, gekommen war der heilige Christ, und angefahren war doch niemand anders, als Onkel Schreiner, das wußten wir ganz genau; die Gaben waren da und die schönsten gerade von ihm. Gewiß er war es. Daß er bei diesem Mißverständnis nichts an Liebe und Ehrfurcht einbüßte, kann man sich denken, und selbst als der fromme Glaube längst geschwunden war, blieb noch viel Liebe und Dankbarkeit nach, die dem alten, freundlichen Manne gezollt ward. Uns freilich zerstob der schöne Wahn gar bald; denn als wir den Onkel öfter gesehen hatten und hörten, wie der Groß­vater ihn „lieber Schwager“ nannte; als wir bemerk­ten, daß sie beide ihr Pfeifchen rauchten und der Onkel uns gar erzählte, daß er auch eines Pfarrers Sohn sei, aus dem Frankenland, und daß dort und im Breisgau Wallnußbäume wüchsen, und daß man dort von einem Baum bis ein Los Nüsse ernte, auch mehr, und als er weiter von seinen Reisen in Holland sprach und den herr­lichen Rosen und Tulpen, die man dort ziehe, da ward es klar, daß er doch ein richtiger Onkel sei. Wir hatten ihn überaus gern und bedauerten nur, daß er nicht öfter kam. Er wohnte nämlich gegen vier Meilen von uns entfernt und war auch sonst durch seine Stellung ziemlich gebunden. Er war der Schöpfer und Pfleger jenes mit Recht ge­rühmten und damals als einzig in seiner Art dastehenden Gartens und Parkes zu R., einem dem Grafen M. gehörigen Gute. Mit Entzücken denke ich noch daran, was dort [169] durch eine geschmackvolle Anlage aus einer an sich ziemlich reizlosen Gegend geworden war. Es war das erste der Art, was ich, damals ein fünfzehnjähriger Knabe zu sehen bekam. Die Treibhäuser mit den mancherlei exotischen Pflanzen, den drolligen Cactussen, den Palmen u. s. w. hatte ich so noch nicht gesehen. Der Gang zum See hinab, von den verschiedensten und herrlichsten Rosen eingefaßt, der sogenannte Badeturm am Ufer des Sees mit seiner­ weiten Aussicht, der Aloe-Berg, wo in großer Opferschale eine riesige Aloe prangte, und, — was damals als eine große Seltenheit galt, — auch zum Blühen gebracht ward, der düstre gotische Turm im Park mit seinen farbigen Fenstern, der Dichterhain, wo jeder unsrer deutschen Sänger­heroen seinen Denkstein hatte, die Einsiedlerwohnung u. s. w. sind mir noch heute in lebhafter Erinnerung. Wie ich höre, hat man auch ihm, dem Schöpfer dieser Anlagen, im Park einen Denkstein errichtet. Und er hatte ihn ver­dient, der gute, brave Mann, der fast sein ganzes Leben hier verbracht und mit Freude und Stolz auf sein Werk zurückschauen durfte. Leider wurden seine letzten Jahre durch Einsamkeit und durch eine langwierige, unheilbare Lähmung sehr getrübt.

Auch der Großvater hatte den Onkel Schreiner gern und hatte sich in der schönen Sommerzeit (1825) zu ihm auf den Weg gemacht. Bei seiner Rückkehr überraschte ihn ein starkes Gewitter mit Platzregen, welcher ihn bis auf die Haut durchnäßte. Obschon zu der Zeit schon ein Siebziger, aber noch rüstig und von trefflicher Gesundheit, achtete er dieses Umstandes wenig. Schließlich hatte er noch Zuflucht in einer Bauerwohnung gefunden; die nasse Kleidung zu wechseln kam ihm nicht in den Sinn. Nachdem das Ge­witter vorübergegangen, kehrte er heim. Doch mußte die Erkältung, die er sich hier geholt, für den alten Mann [170] zu stark gewesen sein. Am andern Morgen fiel es ihm beim Erwachen auf, daß ihm alle Gegenstände braun er­schienen. Es beunruhigte ihn, aber er hoffte, es werde sich geben und sagte niemand ein Wort. Aber beim Mittag­essen bemerkte der Vater, daß er nach der Gabel tastete, und als Großvater nach geendeter Mahlzeit aufstand und, wie es seine Gewohnheit war, in sein Zimmer zurückkehren wollte, nahm die Mutter mit Schrecken wahr, daß er die Thürklinke nicht sehen konnte, sondern nach ihr suchte. Mit Thränen in den Augen fragte sie ihn, was es damit sei. Da sagte er ihr’s denn, was Gott über ihn verhängt habe. Der Gedanke, andern zur Last fallen zu müssen, war für ihn ein schrecklicher; ja auch nur die Besorgnis, durch die bloße Mitteilung über sein Unglück den Seinen Schrecken und Trauer zu bereiten, hatte seine Lippen geschlossen. Die damalige ärztliche Kunst, zumal soweit sie dort erreichbar war, hatte kein Mittel gegen seine Krankheit. Er selbst, der heimgesuchte, blinde Mann, ergab sich mit dem sanften, stillen Geist, der ihm eigen war, in seines Gottes Willen. Mit den Worten Hiobs (2, 10): ‚Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?‘ fügte er sich in sein bittres Geschick, ohne Murren, ohne Klage, ohne Entmutigung. Seine einzige Bitte: „Liebe Kinder, verlaßt mich nicht!“ war gewiß über­flüssig ; denn die Liebe, die alt und jung mit ihm verband, ward durch die Heimsuchung, die ihn getroffen, nur noch inniger und teilnehmender. Freilich war er ja jetzt mehr als je auf sein Stüblein angewiesen, von welchem er meist nur zum Mittags- und zum Abendessen herunterkam, oder, wenn er, wie im Sommer, seinen Spaziergang machen wollte. Wir Kinder waren in letzterm Fall seine Führer und stritten um das Glück, es zu sein; denn es handelte sich nicht bloß um diesen kleinen Dienst, den wir ihm mit [171] Freuden leisteten, sondern auch um den Genuß der an­genehmen und gewinnbringenden Unterhaltung, in welcher der Großvater Meister war. Ich habe den Ausdruck „Spazier­gang“ gebraucht; dieser freilich widerspricht den Ansichten, die der alte Mann von der Sache hatte. Er konnte es nicht leiden, wenn man ihn aufforderte, spazieren zu gehen. „Ich gehe, liebes Kind,“ pflegte er dann wohl zu sagen; „aber spazieren gehe ich nicht.“ Der Neben­gedanke des Müßiggehens, der dem Spaziergang anhaftet, hatte auch für den erblindeten Mann noch etwas Kränkendes.

Die gesteigerte Bedeutung, die wie gesagt, das alte Schul- und Studierzimmer in dem Leben unseres Groß­vaters gewann, indem es fortan fast seine einzige Welt war, mag es entschuldigen, wenn wir demselben eine etwas eingehendere Beschreibung widmen. Neben der unheim­lichen, schwarzen kalten Küche, durch deren riesigen, mit Wür­sten, Speckseiten und Schinken reichlich ausgestatteten Rauch­fang man den Himmel sah, führte eine steile und unbequeme Treppe auf den Boden und zu Großvaters Zimmer. Wie oft sind wir Jungen dieselbe hinauf- und hinuntergeras’t, auch zu Zeiten hinuntergekollert, glücklicherweise stets ohne großen Schaden! Der blinde Mann stieg sie vorsichtig hinauf und hinab und bedurfte der Leitung nicht. Durch diese Treppe gelangte man also, wie erwähnt, zuerst auf den weiten freien Boden des Hauses, der im Sommer durch das große Dachpfannendach glühend heiß ward und eisig kalt im Winter. Ein Gang von etlichen Brettern führte ans entgegengesetzte Ende, wo sich der Eingang zu dem Zimmer des Großvaters fand. Es war dies ein großes Giebelzimmer, nebst Alkoven, aus Fachwerk gebaut mit allen Schattenseiten, die eine solche Bauart in unserem Norden hat. Es wäre zur Winterszeit schier nicht zu er­heizen gewesen, wenn nicht ein ungeheurer Kachelofen die [172] Temperatur wenigstens erträglich gemacht hätte. Gleich­wohl froren wir zu Zeiten weidlich. Der Großvater aber sah sich genötigt, im Winter sein Leibpelzchen anzuthun. Und doch war ihm das Stüblein je und je so überaus lieb, weil es einen schönen, weiten Blick auf Garten, Wiese und Feld bot, weil es fern von dem Lärm war, den unten Land- und Hauswirtschaft verursachten, und weil er dort ungestört seine Kinder und Pensionäre hatte unterrichten können. Überaus charakteristisch, wenn auch nach unseren Begriffen unglaublich einfach war es ausgestattet. Viele der Möbel waren Andenken. Da stand z. B. der große, harte, mit Leinwand überzogene Platosche Lehnstuhl, den eine Familie dieses Namens ihrem alten Freunde und Pastor verehrt hatte, ein altehrwürdiges Möbelstück, das noch jetzt nach so viel Jahren, freilich renoviert, mit andern An­denken aus der alten Heimat im Hause einer Enkelin in Gebrauch ist. Da war ferner der von Bockumsche, der von Behrsche Stuhl und außerdem noch allerlei kleinerer Kram. Die Wände dieser seltsamen Gelehrtenstube sahen so grau aus, als wären sie seit ihrer Geburt nicht getüncht worden. Schränke, Pulte und vor allem Bücher­bretter mit einer für des armen Eierpastors beschränkte Verhältnisse viel zu großen Bibliothek bildeten die weitere Ausstattung. In der Mitte des Zimmers, vor dem dünnfüßigen, mit blauer Leinwand überzogenen Sofa stand der uns schon bekannte große Schultisch „Karakazan.“ Da ich die Ehre hatte, als kleiner Bibliothekar des Großvaters zu fungieren, so wird man mir erlauben, daß ich wenigstens einige der lieben alten Freunde namhaft mache, die ihm in jüngern Tagen Genuß und Unterhaltung gewährt hatten und mit deren Neuordnung und Katalogisierung er sich auch noch in seinen dunkeln und einsamen Stunden gern beschäftigte. Da war im Hintergrunde des Alkovens der [173] große, bis an die Decke reichende Schrank meist pädagogi­schen und historischen Inhalts, reichlich mit allem aus­gestattet, was Basedow’s, Campe’s, Salzmanns, Rochow’s, Weiße’s und anderer fruchtbare Federn zu Tage gefördert. Es standen da aber auch Gellert, Lessing, Schiller, Göthe, Jean Paul u. s. w. in ihren ersten, meist sehr unansehn­lichen, für die Gegenwart freilich so interessanten Ausgaben. Aber auch Kaspar v. Lohensteins Arminius, Heinrich Brocke’s irdisches Vergnügen in Gott und selbst Zincgrefs Apopthegmata fehlten nicht. Unter dem Titel Uhuhuhu! fanden sich etliche Bände aufgeklärter Hexen- und Gespenster­geschichten, wenn ich nicht irre, unter Nikolais oder Salz­manns Anregung zur Bekämpfung des Aberglaubens heraus­gegeben — grauenhaft interessant für mein jugendliches Gehirn, fast wie Justinus Kerners Seherin von Prevorst, deren Bekanntschaft ich in späterer Zeit machte und die ganz dazu angethan war, in entgegengesetzter Weise zu wirken. Manche Enttäuschung blieb freilich bei der Jagd nach „gruseligen Geschichten“ nicht aus. So stand da ein Buch in, glaube ich, drei Bänden: „Jean Pauls Geist.“ In meiner Unschuld griff ich darnach, in der Hoffnung eine klassische Geistergeschichte erwischt zu haben, — aber es waren nichts als gesammelte Geistesfunken des Dichters, unsterblich langweilig für meine damalige Geistesentwicklung. Besser zog die Lebensgeschichte des Schinderhannes nebst Porträt oder der „Revolutionsalmanach“ mit Kupfern, wo Jakobiner und Girondisten und was es Denkwürdiges gab, dargestellt waren, die Jakobinerköpfe als Weidenkätzchen einer großen Zuchtrute Frankreichs. Auch das farblose, fahlgelbe Porträt Napoleons fand sich unter Großvaters Papieren; sah man es genauer an, so war es aus zahl­losen in und auf einander geschichteten Leichen gebildet, — ein abstoßender Anblick. Fenelons Telemach, unser fran­zösisches [174] Alltagsbrot, war in verschiedenen Ausgaben, auch deutsch und selbst in italienischer Übersetzung, ja mit Kupfern zu finden; daß Don-Quixote nicht fehlte und Zimmermann über die Einsamkeit, braucht nicht gesagt zu werden. Auch Kotzebue hatte leider neben Seume’s Spaziergang nach Syrakus sich eingenistet. Daneben aber gab es auch viel kostbarere Dinge, z. B. Iselins großes historisch-genealogi­sches Lexikon, Bayles historisch-kritisches Dictionär, das große kostbare Kupferwerk Suecia antiqua et hodierna. Da gab es ferner einen „französischen Schrank“ und, wie sich von selbst versteht, einen recht breiten „theologischen.“ Letzterer war reichlich mit rationalistischer Litteratur an­gefüllt, die Teller und die Löffler und Gabler, die Zollikofer und Dathe waren zur Genüge vertreten, doch auch Chemnitzs Examen concilii Trident., Suiceri thesaurus, des Eusebius und Sozomenus Kirchengeschichte in der Über­setzung von Caspar Hedio, Bossuet. Auch die Nürnberger große Foliobibel mit Gebeten, Erklärungen und Nutzanwendungen von Pfaff und den Kupfern, die uns höchlichst interessier­ten, desgleichen die Weimarsche erklärte Bilderbibel fehlten nicht. Dann folgten der „Schulschrank“ mit vielen deut­schen und holländischen Ausgaben der alten Klassiker, der „erste“ und der „zweite Leseschrank“ u. s. w., außerdem noch Schränke und Pulte, deren Inhalt, dem Uneingeweihten zumal, chaotisch erschien, während des blinden Mannes feinfühlige Finger sich in dem aufgeschichteten Mancherlei merkwürdig leicht zurechtfanden, sogar ein Schriftstück vor dem andern an der Härte des Papiers herausfühlten. Wagte doch der arme blinde Großvater, da Barbiere nicht zur Stelle waren, und Unabhängigkeit ihm als höchstes Ziel erschien, sich selbst zu rasieren, eine Operation, von welcher es mir noch heute wie ein Rätsel erscheint, daß sie ohne Schaden ablief.

[175] Das originelle Zimmer wäre aber nur unvollkommen gezeichnet, wenn nicht auch der Sprüche Erwähnung geschähe, die hie und da angebracht waren. Auf dem großen roten Ofen prangte noch aus der Zeit, da hier Schule gehalten ward, in weißer Frakturschrift das Abc aller Wissenschaft: Nichts ohne Ursache, — unter anderem auch sehr lehr­reich für bestrafte jugendliche Verbrecher. Der Thür gegen­über, neben dem Schranke, auf welchem die weiße Pyra­mide zum Andenken an den Heldentod des jungen Gaudy stand, sah man an der grauen Wand in ziemlich kunstloser Zeichnung ein kleines niedriges Häuschen mit rotem Dach, darunter die einfache Zahl: 10. November 1483. Es sollte die Jugend nicht bloß durch die traditionelle, auch bei uns niemals fehlende Martinsgans und durch die Geschichts­stunde, sondern auch noch durch diesen Denkzettel an der Wand an Luthers Geburtstag erinnert werden; denn ob es schon dem lieben Großvater wie der ganzen Zeit, in der er lebte, an dem entschiedenen, markigen, lutherischen Bekenntnis gebrach, so fehlte es ihm andrerseits doch keines­wegs an Dank und Bewunderung für den Gottesmann, der des Papstes Tyrannei gebrochen hatte. Es ist mir noch erinnerlich, wie ich dem Großvater die Frage vorlegte, worin der katholische Glaube anders sei, als der unsere, eine Frage, deren Beantwortung einem noch nicht zehn­jährigen Knaben gegenüber ihre Schwierigkeiten hat. „Siehst du, liebes Kind,“ antwortete er, „wir glauben, was in Gottes Wort steht und wovon wir uns überzeugt haben; wenn du aber unter dem Papst ständest und du glaubtest, daß dieser Tisch hier von Holz ist, der Papst aber sagte: ,Nein, er ist von Gold!’ so müßtest du es glauben.“ Man sieht, eine ziemlich glückliche Darstellung des sacrifizio del intelletto, welches noch neuerdings die Gesamtheit der katho­lischen Bischöfe in dem vatikanischen Konzil bringen mußte. [176] „Abscheulicher Papst!“ rief ich aus, und zur Strafe bekam Gregor VII., der in Schröckhs Weltgeschichte für Kinder (mit Bildern) so boshaft aus seinem Fenster in Kanossa auf den zitternden Heinrich herniedersah, einen dicken Strich über die Nase, ein Urteil, welches — zu meiner Schande sei es eingestanden — auch die Nymphe Kalypso für ihre Nachstellungen erhielt, mit denen sie den jungen Telemach verfolgte, so daß dieser und der weise Mentor in ihrer Verzweiflung sich von einem Felsen ins Meer stürzten, eine Scene, bei welcher namentlich der Alte in fliegendem Mantel, den Kopf nach unten, die Beine in die Höhe eine sehr unphilosophische Stellung einnahm. — Auch über der Thür in Großvaterchens Zimmer war ein Spruch unter einem kleinen Spiegel angebracht: Nosce te ipsum (Erkenne dich selbst) und an einer andern Stelle der Wand prangte in goldpapiernem Rahmen die weise Erinnerung: Repetitio mater est studiorum (Wiederholung ist die Mutter des Lernens). Damit hielt es denn auch der Groß­vater und ließ sich’s eine Freude sein, ab und zu schon früher Gelerntes sich wieder vorerzählen zu lassen, nament­lich aber die lateinische und französische Grammatik mit uns in den Rüsttagen der großen Feste zu wiederholen, wo der Vater ohnehin durch seine Vorbereitungen auf die zu haltenden Predigten vollauf in Anspruch genommen war. Diese Repetitionen, bei welchen man noch ziemlich leichte Lorbeeren erringen konnte, hatten darum auch nichts Ab­schreckendes für uns; sie erschienen uns im Gegenteil als die ersten Anzeichen des nahenden Festes und mischten sich oft mit dem Duft von Saft- und Kümmelkuchen oder an­derm Gebäck, das die Mutter zum Fest bereitete. Wenn dann der Großvater zu Mittag herunterkam und dem Vater über das Resultat der abgehaltenen Wiederholung Bericht gab und dabei sagte: „Die Kinder haben ihre Sache brav [177] gemacht, sehr brav,“ sich dabei sein mäßiges Bäuchlein strich und freundlich lächelte, — das ging einem herunter, wie „Schmand“[2] Auch sonst machte Neigung und alte Ge­wohnheit ihm die Beschäftigung mit den Kindern trotz sei­nes geschwundenen Augenlichtes zum Bedürfnis. Gern nahm er sich darum der schwächern Pensionäre bei ihren Präparationen an (bei den stärkern galt es als Ehrensache, sich wo möglich selbst zu helfen). War irgend ein ver­wickelter, schwieriger Satz im Lateinischen, mit dem sie nicht zurecht kommen konnten, so half er ihnen freundlich und vorsichtig auf den Weg; denn die eigne Arbeit sollte nicht erspart werden. Hatten sie ihn denn endlich richtig kon­struieren gelernt, froh, zum morgenden Tage nunmehr ge­sattelt zu sein, so hieß es wohl, wenn sie vom Abendessen aufsprangen und ins Endenzimmer stürmten, wo der Groß­vater seinen Abendgang machte: „Nun, Kinder, wie war es mit dem Satz? Versteht ihr ihn noch?“ Da wollten sie dann wohl das Buch erst holen. „O dessen bedarf es nicht; ich sag ihn euch vor,“ — hieß es jetzt, und Wort für Wort wiederholte der Großvater, von seinem wunder­baren Gedächtnis unterstützt, die oft recht verwickelte Periode. Sein liebevolles Gemüt und eine besondre Gabe, sich in das Sinnen und Treiben der Kinderwelt zu versetzen, hatten ihn recht eigentlich zum Pädagogen vorausbestimmt. Selbst für die Kleinsten hatte er ein Wort, ein Verslein, das in ihren Gesichtskreis paßte, und wenn es auch nur etwas in der Art des alten Claudius war mit seinem:

Schön rötlich die Kartoffeln sind
Und weiß wie Alabaster u. s. w.

So stimmte er wohl, wenn das Leibgericht der Kinder in [178] Kurland, die Pfannkuchen, zum Abendessen auf dem Tisch gewesen waren und die Kleinsten ihn umsprangen, zu ihrem gaudium das Verslein an:

Mandeln und Rosinen,
Die schmecken wahrlich gut;
Man verdanket ihnen
Frisches, frohes Blut; —
Doch Pfannkuchen mit Saft,
Die geben neue Lebenskraft.

Dieser Schlußrefrain, mit erkünsteltem Baß von der kleinen Horde im Chor gesungen, steigerte natürlich das Entzücken bis in die Fixsterne. Wie leicht ward es dem alten Mann, an die Spiele der Kinder anzuknüpfen, neue anzuregen und erstere überhaupt geistig zu wecken! Ich werde hiebei an ein Wort der Mad. Necker de Saussure erinnert: „Was uns Spiel scheint, ist den Kindern hoher Ernst.“ In der That ist es ja so bei jedem nicht übersättigten, nicht bla­sierten Kinde. Letzteres ist bei seinem Spiel nicht mit hal­bem, sondern mit ganzem Herzen. Darum ist es so wichtig, die armen Kinder, die nicht selbst zu spielen verstehen, entweder weil sie zu wenig Phantasie haben, oder weil man sie in thörichter Weise überfüttert hat, — erst recht spielen zu lehren, worin vielleicht das Hauptverdienst Frö­bels liegt, — und die lieben Kleinen so vor übler Laune, Zank und Langeweile zu bewahren, — und fast ebenso wichtig, dem selbstgewählten Spiele durch Teilnahme zu einem gewissen Abschluß, zu einer vollen Erschöpfung seines Spielinhalts zu helfen und das Kind dadurch vor launen­hafter Unbeständigkeit und vor Überdruß zu behüten. Liegen doch in Art oder Unart der Kinderjahre die schwellenden Keime des spätern Charakters. Dafür hatte der Groß­vater ein inniges Verständnis. Der Vater, so ernst und gewissenhaft er sich unseres Unterrichts annahm und so [179] wenig es ihm sonst an Humor fehlte, besaß diese Gabe, in die Kinderwelt hinabzusteigen, viel weniger als er. Es zeigte sich das oft genug. Wir hatten z. B. auf dem klei­nen Teich in der Wiese erst eine Schiffahrt mit einem selbstgezimmerten Floß eröffnet und das Ufer natürlich mit den verschiedensten Hafenstädten bis Lissabon hinab bevölkert. Im ganzen Hause nahm niemand soviel teil an unsrer Kinderei, als der alte Großvater, der unsere Herrlichkeiten nicht einmal sehen konnte. Mit größter Geduld ließ er sich erzählen, was wir dachten, was wir trieben. Darum war er auch der stete Vertraute und Ratgeber. Neue Triumphe feierten wir, als wir aus einem alten Trog durch Hinzufügung zweier Seitenbretter und eines Mastes ein Boot gezimmert hatten. Bruder Georg ward Kapitän; Anntante fertigte ihm eine rotkarrierte Mütze und die Schiff­fahrt war bald so eifrig und erfolgreich im Gang, daß die Schulpräparationen unfehlbar in Gefahr gekommen wären, wenn nicht glücklicherweise die wohlangebrachte und wohl­bekannte Strenge des Vaters dies verhindert hätte. Sogar Major von Herbertsons Tochter Rosalie, ein großes Mäd­chen und damals in Pension bei uns, konnte der Lockung nicht widerstehen, eine Fahrt zu versuchen, und bat den kaum zehn- oder elfjährigen Kapitän so beweglich, daß er ihr das Vergnügen unter der Bedingung gestaltete, ja recht ruhig zu sitzen und sich weder nach rechts, noch nach links zu bewegen. Aber leider gehören Unglücksfälle im See­wesen zu den häufigsten Vorkommnissen. Kaum war man in der Mitte des Tümpels, so ward die zarte Insassin wegen wirklicher oder vermeintlicher Schwankungen des Fahr­zeugs unruhig; das Ende vom Liede war, daß das Schiff­lein kippte und der Kapitän mit seiner roten Mütze und die holde Rosalie beide im Wasser lagen. Das hatte nun weiter keine Folgen, als daß sie beide, reichlich braun und [180] grün von dem tiefen Schlamm, ans Ufer wateten, und das Fräulein in Zukunft Landreisen den Vorzug gab. Die ganze Expedition brachte den Schiffbrüchigen, wie man sich denken kann, ein gutes Donnerwetter ein. Nur der Großvater ließ den Armen ein milderes, — wir dürfen vielleicht auch sagen, ein gerechteres Urteil angedeihen und doch nicht ohne durch einen feinen Sarkasmus allzu kühnen Unter­nehmungen für die Zukunft vorzubeugen. So war’s auch bei andern Gelegenheiten. Wenn wir einen riesigen Wachholderbusch im Walde zu einer Indianerhütte umgestalteten oder im Winter Burgen von Schnee bauten, einmal sogar in der hoch vollgewehten Gasse mit Bergmannsgeduld und Eifer ein Haus in den Schnee gruben, es mit Zweigen deckten und die Damen zu einem romantischen Thee ein­luden, so sahen die Großmutter und die andern Haus­genossen nur auf die nassen Stiefel und Kleider und ver­wünschten den ganzen Spuck. Der Großvater allein ließ sich von unsern Hoffnungen und Plänen erzählen, ja es wurde, als Bruder Georg und die ältern Knaben schon in den Cäsar hineingewachsen waren, mit großem Eifer an einer Festung gebaut; der Großvater aber ließ nicht bloß ein Exemplar vom Bücherbrett holen, in welchem eine Ab­bildung der Brücke Cäsars über den Rhein zu sehen war, sondern brachte noch manches Lehrreiche aus der Befestigungs- und Belagerungskunst der Alten herbei. War es ein Wunder, wenn in jenen Tagen nur von Brücken, von Ballisten und Katapulten und Widdern unter uns die Rede war und alles wo möglich praktisch durchprobiert wurde. Das aber wird jeder Pädagog bereitwilligst zugestehen, daß es ein ganz ander Ding ist, wenn der alte Cäsar so dra­matisch reproduziert wird, als wenn man bleichgesichtig bloß seine Phrasen und Vokabeln von der Schulbank nach Hause trägt.

[181] Vor allem genußreich waren die Abendstunden zwischen sieben und acht, weil der Großvater meist um diese Zeit uns Kindern Geschichten erzählte. Bald war’s die Mytho­logie, bald die Musäusschen Märchen, bald Gulliver, bald Münchhausen, bald die biblische, bald die Weltgeschichte, die den Stoff dazu hergab. Was die letztere anlangt, so strahlte natürlich der alte Fritz und sein Heldenkreis in heller Glorie, während Napoleon nicht anders als mit Ab­scheu genannt ward. Auf meine Bemerkung, daß ich letztern doch gar gern gesehen hätte, erwiderte der Großvater mit einiger Entrüstung: „Und wenn er hier vor unsrer Pforte stände, würde ich diesem Menschenschlächter, der Hundert­tausende in den Tod geschickt und ebenso viele arm und elend gemacht, nicht die Ehre anthun, daß ich hinginge, ihn auch nur anzusehen.“ Die Wunden der Franzosen­herrschaft waren eben noch allzufrisch. Doch auch anderes brachten die Winterabende. Derselbe Stoff, den Chamisso in seinem Salas y Gomez bearbeitet hat, die Erzählung — leider nicht Sage — von dem Baron U. auf der Insel D., der die Seefahrer durch falsche Feuer auf Riffe lockte, sie dann ermordete und die Schiffsfracht raubte, bis er durch einen Hauslehrer entlarvt und zur Strafe gebracht ward, ein Gegenstand, der ja auch später dichterische Behandlung gefunden hat, wurden uns durch des Großvaters Abend­unterhaltungen bekannt. In diesen kamen zuweilen Er­zählungen vor, die eine Reihe von Abenden hinnahmen und uns in ferne Länder führten und die merkwürdigsten Aben­teuer bestehen ließen. Cooper war für uns überflüssig. Daß auch die kurischen Sagen ihr Plätzchen fanden, braucht nicht erst gesagt zu werden. Da hörten wir von der Elfen­hochzeit auf dem Dondangenschen Schloß, von der goldnen Kette in der H.schen Familie, von der weißen Gestalt mit ihrem Weheruf, sobald ein Unglück dem Hause S. drohte. [182] Auch wir Kinder kamen mit dem an die Reihe, was wir gelesen hatten und wieder erzählen konnten, oder was der eigne Genius uns eingab. Geduldig hörte der alte Mann uns an, auch wenn man, — wie ich mich von meinem ersten poetischen Versuch entsinne, — nicht über einen un­gewöhnlich begabten Rehbock hinauskam, der seine Gäste mit Pudding bewirtete. In jener Zeit hörte ich auch zum erstenmal ein paar kurische Sagen, in welchen der Volks­witz sich auf Kosten einiger kleinen Städte lustig macht. Soviel ich mich entsinne war’s aber nicht der Großvater, der sie erzählte. Er mochte daran Anstoß nehmen, daß dem Teufel in ihnen eine Rolle zugeschrieben wird. Nicht daß er wie unsere Alten eine fromme Scheu gehabt hätte, den Feind der Seele mit Namen zu nennen, der auch un­gerufen kommt; aber es schien ihm wohl unpädagogisch, dergleichen in Gegenwart so kleiner Gesellschaft wieder zu erzählen, selbst wenn der „Gottseibeiuns“ auch nur die Rolle eines dummen Teufels, wie so oft in der Volkssage, zu spielen hatte. Vielleicht war es eine der Tanten, die jene Sage erzählte, die sich an den Wasserfall bei Goldingen, gewöhnlich die Rummel genannt, knüpft. Vor vie­len, vielen Jahren, hieß es, war Goldingen eine große, reiche Stadt, aber die Einwohner waren Heiden und lebten ärger als Sodom und Gomorrha. Im ganzen weiten Kur­land hatte der Teufel kein lieberes Plätzchen, als dies. Als nun aber die Boten Christi ins Land drangen und dort­hin kamen, da thaten die argen Heiden Buße im Sack und in der Asche und ließen sich taufen einer nach dem andern, so daß dem Teufel bange ward. „Laß ich das so fort­gehen,“ sprach er bei sich selbst, „so gehen mir schließlich all diese Seelen verloren; sie lassen sich alle taufen; das ist klar! Ich weiß, was ich thun will: quer durch die Windau bau ich einen Damm, staue das Wasser und ersäuf [183] sie alle, so lange sie noch in ihren Sünden sind.“ Gesagt, gethan. Der Böse kam in der nächsten Nacht mit seiner weißen Stute angefahren und schleppte Steine auf Steine zusammen. Schon stieg das Wasser, schon war er seinem Ziele nah, — da krähte der Hahn, diesmal etwas früher als sonst, — und des Teufels Werk blieb unbeendet stehen. Als aber am Morgen die Goldinger erwachten und sahen, welcher schrecklichen Gefahr sie entronnen waren, da dachten sie bei sich selbst: „Allzu scharf macht schartig!“ und be­kamen seit jener Zeit eine solche Angst davor, fromm zu werden oder auch nur in die Kirche zu gehen, daß man sie gar nicht hineinkriegt. — So die mutwillige Sage. Aber wenn je die Wirklichkeit im Widerspruch mit der Dichtung stand, so hier. Hat es dort vielleicht einmal leere Kirchen gegeben, so mag das seine Gründe gehabt haben. Ich habe sie stets voll, ja fast zu voll gefunden. Es war schwer, einen Platz zu erhalten. Sicher darf eine Stadt, deren evangelische Bevölkerung, zur Hälfte Letten, noch nicht 4000 betragen mag und die sich neben einem von der Ritter­schaft gegründeten Gymnasium, einer städtischen Töchter­schule, einer Bürgerschule, eines Diakonissenhauses, einer wohlorganisierten Armenpflege erfreut und für die Unter­stützung der Glaubensgenossen in der Diaspora und für die Mission den lebhaftesten Eifer an den Tag legt, vielen andern zum Vorbild dienen. Und das müssen wir auch von einem anderen Städtchen halten, das sich die neckische Sage in ähnlicher Weise zur Zielscheibe genommen hatte. Kaum nämlich hatte die Tante oder die Mutter jenes Geschichtchen über die Entstehung der Rummel vom Stapel gelassen, so brachte der Vater lächelnd die andere von dem alten Pastor Loskiel in Tuckum in Erinnerung. „Der Mann,“ erzählte er, „war sehr eifrig in seinem Amt, ohne daß er sich hätte sagen können, daß seine Tuckumer sich [184] seine ernste und eindringliche Predigt sehr zu Herzen ge­nommen hätten. Einst geschah es, daß er am Sonntag Invocavit über die Versuchungsgeschichte predigte. Da brach er in die Worte aus: „Was meint ihr, liebe Tuckumer, — wenn der Teufel hier auf unsrem Hüningsberge[3] ge­standen hätte, hätte er da zu dem Herrn wohl auch so gesprochen wie hier im Evangelium? Ich sage euch: nein. Wißt ihr, wie er gesagt hätte? Er hätte ihm auch die Reiche der Welt und alle ihre Herrlichkeit gezeigt, dann aber hätte er gesagt: „Sieh, dies alles will ich dir geben, — aber meine liebe Stadt Tuckum,— die behalt ich mir vor!“ So die Sage. Nach meiner Ansicht freilich hätte der Satan, wenn er sich etwas weiter nach rechts oder links hätte umsehen wollen, leicht einen Ort gefunden, wo etwas mehr für ihn zu haben war, als in dem lieben kleinen Tuckum, — aber die Sage will ihr Späßchen haben in Tuckum so gut wie in Neapel; denn die Neapolitaner erzählen ein ähnliches Geschichtchen von einer Klosterecke unweit des Hafens, an welcher ein scharfer Luftzug statt­findet. Der Teufel, heißt es, habe einmal den Wind auf­gefordert, mit ihm spazieren zu gehen und dieser sei der Einladung gefolgt. So gingen die beiden nun miteinander, bis sie in die Straße kamen, wo besagtes Kloster liegt. Da habe der Teufel zum Winde gesagt: „Ach, wart hier ein bißchen; ich hab dort einige Geschäfte mit den Mönchen. Sowie ich fertig bin, komm ich wieder heraus.“ Der Wind war’s zufrieden und wartet und wartet, bis auf den heu­tigen Tag, aber der Teufel ist noch immer nicht zurück. Um hier mit den kurischen Sagen abzuschließen, wollen die [185] freundlichen Leser mir’s verzeihen, wenn ich auch noch das kleine Geschichtchen von dem Magistrat von Y. erzähle, welches ich damals zu hören bekam. Alt-Kurland wird ohnehin bald verschwunden sein, wenigstens giebt man sich von mancher Seite redlichste Mühe darum, es verschwinden zu lassen. Da wär’s denn doch allzuschad, wenn auch alle Blüten des altkurischen Humors mit verschlungen würden. Die freundliche Stadt Y. hatte also in alten Zeiten, wie jede anständige deutsche Stadt ihren Galgen. Derselbe stand unweit des Stadtthors auf einem hübschen Berge und nahm sich ganz stattlich aus. Als nun Kurland rus­sisch wurde, da wurden die Galgen abgeschafft. Das schien den weisen Herren vom Rat höchst bedenklich; denn sie waren der Meinung, man sollte lieber die Diebe abschaffen und die Galgen in Ruhe lassen. Sie steckten darum die Köpfe zusammen und setzten einen Protest auf, in welchem sie hervorhoben: erstens hätte die Stadt Y., soweit man zurückdenken könne, immer einen eignen Galgen gehabt, zweitens hätte die Stadt denselben auf ihre Kosten für sich und ihre Kinder erbaut, drittens würden Religion und Moral unfehlbar darunter leiden, wenn dies erweckliche Symbol der strafenden Gerechtigkeit also aus den Augen gerückt würde, — sie bäten darum kaiserliche Regierung, den Galgen behalten zu dürfen. Aber vergeblich. Und so ist denn wohl noch ein Galgenberg da bis auf den heutigen Tag, — aber ohne Galgen. Wie oft hat man die guten Bürger zu Y. mit dieser Geschichte geneckt, ohne eine Ahnung zu haben, wie bald und gründlich sich das Blättchen wenden würde. Denn darüber ist kein Zweifel, auch unter den größten Juristen nicht, daß man mit seiner gepriesenen Humanität dem Verbrechertum gegenüber heutigestags etwas zu schnell gewesen und ziemlich in die Brüche gekommen ist. Das Eine wenigstens steht fest, daß [186] zu der Zeit, als der Galgen noch vom Berge herab winkte, in der dortigen Gegend von Attentätern nichts zu hören war und jeder ruhig in seinem Bette schlafen konnte,[4] und das andere ist nicht weniger gewiß, daß wenn im lieben Deutschland dies oder einige andere pädagogische Hilfsmittel fleißiger im Gebrauch wären, es sich die vielen Millionen Mark ersparen könnte, welche sich jetzt jährlich die fahrenden Vagabunden zusammenbetteln, von denen gar nicht zu reden, die in Anstalten auf Kosten ihrer Mit­bürger genährt und gekleidet werden.

Doch kehren wir zurück. Schwand auch, wie gezeigt, in dem Verkehr mit den lieben Hausgenossen dem armen blinden Großvater manche Stunde dahin, so blieb es gleichwohl keine ganz leichte Aufgabe für einen sein Leben lang an Beschäftigung gewöhnten Mann, die lange Zeit aus­zufüllen. Doch errang auch hier der Geist den Sieg über das niederdrückende Gebrechen des Leibes. In der Wahl seiner Beschäftigung und in der Einteilung seines Tages erinnerte der schwergeprüfte Mann an einen Schiffbrüchigen, der an eine einsame Küste verschlagen, mit den wenigen Trümmern, die ihm geblieben sind, sich einzurichten sucht, wie es eben geht. Alles hatte seine bestimmte Ordnung. Selbst der Ofen wurde genau nach dem Datum geheizt; mit wenigen Scheiten anfangend, stieg man im Laufe des Winters bis auf 25. Es gab bestimmte Lesestunden, wo wir Knaben oder Tante Lotte dem alten Manne vorlasen. Rührend war es, wie er die Zwischenzeit zu kürzen ver­suchte. Aus Holz, aus Bernstein bemühte er sich mit Feile und Schachtelhalm noch mancherlei Zierat oder Gerät­schaften herzustellen, oder aus Wachs dies und jenes zu [187] formen. War ein Geburtstag im Anzuge, so gab er uns die Papparbeiten an, mit welchen wir das Geburtstagskind überraschen könnten, oder ließ uns einen sinnigen Trans­parent anfertigen, so gut oder so schlecht unsre ungeschickten Finger die Aufgabe zu lösen vermochten. Seine Lebens­weise war von fast spartanischer Einfachheit, und eine größere Unabhängigkeit von dem, was er aß oder trank, ist mir nirgends vorgekommen. An Wochentagen trank er keinen Kaffee, sondern nur einen Aufguß von heißem Wasser auf Brot. Ein kleines Butterbrot war sein Frühstück und nach 6 Uhr nahm er nichts mehr zu sich. Während unseres Abendessens ging er seine tausend und mehr Schritt im Nebenzimmer auf und ab. Es schien ihm dies aber keine hinreichende Bewegung zu sein, und schmerzlich empfand er es, daß seine Blindheit ihm eine solche während des Win­ters im Freien nicht gestattete. Doch Not macht erfinderisch. Um dem gerügten Mangel einigermaßen abzuhelfen, ließ er sich die rohen Brennholzklötze durch den Hausknecht auf den Boden tragen. Hier stand ein Bock, auf welchem der Großvater sie in kleine Stücke sägte, wobei wir ihm die Säge ziehen halfen. Er nahm dann ferner ein paar eiserne und hölzerne Keile, die er sich zu solchem Zweck hatte an­fertigen lassen, und spaltete die Blöcke mit Hilfe eines großen Hammers in Scheite.

Alle acht oder vierzehn Tage gab es im Winter bei dem Großvater eine kleine Gesellschaft. Dann wurden die „Damen,“ d. h. Großtante Binchen, Anntante und Lottetante mündlich oder schriftlich zum Thee gebeten. Der älteste unter uns hatte diese Einladung zu überbringen und als Marschall zu fungieren. Auf dem Boden brannte am Ende des Ganges ein Talglicht; nebenbei waren zwei brennende Räucherkerzen auf zwei Kupfergroschen gestellt. An der Treppe empfingen wir die Damen und geleiteten [188] sie bis zur Thür des Zimmers. Dort stand ihrer harrend, der Großvater. Man setzte sich um den alten Karakazan, der ganz stattlich aussah, denn ein großes, rotbaumwollenes Tuch verdeckte die vielen Wunden und Narben, die ihm sein langer Dienst zugezogen. Der sehr frugale Thee, bei welchem Tante Lotte die Honneurs machte, wurde durch lebhafte Unterhaltung gewürzt, bei welcher, wie immer, der alte, blinde Mann vor allen der Anregende und Gebende war. Hernach wurde gelesen und wohl auch einmal eine Partie Boston gemacht, wobei Tante Lotte dem alten Vater als Adjutant und Dolmetscher zur Seite stand, — ein Spiel ohne Geld, — und dürfen wir hier wohl sagen, — ohne Sünde. Aber auch wir Kinder sollten nicht leer ausgehen. Am andern Ende des Zimmers, angesichts des großen Bücherschrankes hatten wir unsern Tisch. Da gab’s Post- und Reisespiel, da gab’s die Schlacht bei Waterloo, bei welcher Wellington in seiner roten Uniform sich nach den Preußen umsieht, darunter die Unterschrift: „Wo schaust du hin, du großer Feldherr?“, dann der alte Blücher auf einer andern Karte, der auf seinem Schimmel seinem Bru­der Wellington zu Hilfe angesprengt kommt. Um das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, waren die Gewinste, die jedem zu teil wurden, in Bohnen abgezählt, nach einem vom Großvater aufgestellten Tarif in Rosinen, Mandeln und Pfeffernüsse umzusetzen, zugleich eine kleine Übung für die angehenden Arithmetiker. Etwas anderes, was des Großvaters pädagogische Tendenz für zweckmäßig befunden hatte, erfreute sich weniger unseres Beifalles. Nach dem Spiel sollte gelesen werden. Wäre es nun eine Reisebeschreibung oder eine Salzmann’sche Geschichte ge­wesen, so hätten wir ihm gedankt, aber es war öfter ein Kapitel aus „Dolz’s Anstandslehre,“ —gut gemeint, aber zum Sterben langweilig für Knaben, denen alle andern [189] Dinge mehr am Herzen liegen, als die Regeln des neuesten Komplimentierbuchs. Er, der liebe, alte Mann, der sonst so viel Verständnis für das Kindesgemüt hatte, zollte eben auch seinen Tribut jener doktrinären Richtung, die den sonst so verdienstvollen Bestrebungen jener Zeit anhaftete.

Jahre auf Jahre gingen dahin; immer liebevoller, immer teilnehmender, ja ich möchte auch sagen, immer ver­klärter wurde der Ausdruck des von langem, weißem Haar umrahmten Gesichtes. Hätte der Großvater noch seine Stimme in der Gemeinde erheben können, — sein Wort wäre kein anderes gewesen, als das des greisen Johannes: „Kindlein, liebet einander!“ — Für diese Grundrichtung seines Wesens sei es mir gestattet, nur noch einen unschein­baren, aber doch charakteristischen Beleg anzuführen. Man weiß, wie reich Kurland an Juden ist, die meist als Hau­sierer, — damals „Bündelkrämer“ genannt, — hin und her auch als Glaser, als Klempner, oder auch als fahrende Buchbinder das Land durchziehen, von den leidigen Pferde­händlern ganz zu schweigen. Nun kam es öfter vor, daß der „Schabbas“ über einen Sohn Israels hereinbrach, ehe dieser eine Stätte erreichen konnte, die von Genossen seines Glaubens bewohnt war. Dann bat er um Nacht­quartier, welches ihm natürlich ohne weiteres gewährt ward. Da aber der Jude nichts essen darf, was in einem christ­lichen Kessel gekocht ist, so mußte der arme Mann seinen Sabbath verbringen, ohne etwas Warmes in den Leib zu bekommen. Das wurmte den Großvater, und er schaffte Kessel und Pfannen an, die einzig den übernachtenden Juden gehörten, ließ auch wohl, wenn diese gar arm waren oder viele Kinder hatten, einen Silberrubel in ihren Kuchen hineinbacken und war in jeder Weise freundlich gegen sie. Nie ließ er es zu, wie damals nur zu häufig geschah, daß wir die armen zerlumpten Juden verlachten [190] und verspotteten. „Thut das nicht, liebe Kinder,“ pflegte er zu sagen, „es ist ein unglückliches Volk.“ Ja er ließ sich nicht einmal durch wiederholten Undank oder noch Schlimmeres irre machen. In einer Nacht wurden ihm alle vier Pferde gestohlen. Der Verdacht fiel auf einen Juden, der besonders häufig im Hause gewesen war, alle Wege aufs genaueste kannte, und sich dadurch, daß er, der sonst immer wieder einkehrte, jetzt auf viele Wochen ver­schwand, allerdings in ein schlimmes Licht gestellt hatte. Von einer Judenfrage wußte man damals nichts; es nahmen zu jener Zeit freilich die Juden auch eine bescheidenere Stellung ein, als jetzt. Doch muß ich gestehen, daß ich neben unverbesserlichem Hang zur Lüge, Betrug und un­barmherzigem Wucher manches Beispiel redlichster Arbeit und Entsagung kennen gelernt habe, wie z. B. an jenem augenleidenden Schneider, der für uns Kinder die Kleider nähte und, in bitterster Armut lebend, doch jährlich zwölf Rubel Gage und die Kost ersparte, um einen Lehrer zu besolden, der seine Kinder im Lesen unterrichten sollte, da der arme Mann es nicht selbst zu thun vermochte. Wie wenige unter den Christen, die alle Linderung ihrer Not von Staat und Stadt erwarten, werden sich finden, die sich solche Opfer auferlegen! Darum dürfte auch jetzt noch die beste Lösung der schwierigen Frage sein, die redlichen und arbeitsamen Juden zu ehren und die bösen nach Möglichkeit zu meiden.

Zehn Jahre waren vergangen seit jenem Unglückstage, der unsrem Großvater das Augenlicht raubte, und schon waren die Achtzig erreicht, ohne daß sich ein merklicher Verfall der Kräfte geltend gemacht hätte. Auch die geistige Regsamkeit hatte kaum einen Abbruch erlitten. An Freude und Leid nahm er denselben Anteil wie früher. Besonders war es der Geburtstag unsrer lieben Mutter, der ihm Gelegenheit bot, seine Herzensfreude und seinen Dank gegen [191] Gott auszusprechen und ferneren Segen auf unser glück­liches Haus herabzuflehen. Noch steht er vor mir, der Transparent, den wir zu solchem Fest anfertigten mit mancherlei Bildern, Sprüchen und Wünschen ausgestattet, darunter das Bild einer aufgeblühten Rose, umgeben von einer Zahl größerer und kleinerer Knospen, der Zahl der Kinder entsprechend, die damals die Mutter umstanden. Wir waren zu der Zeit unser sieben. — Aber nach Gottes Rat sollten jetzt für den alten Mann zu dem schweren Geschick zehnjähriger Blindheit noch neue, schmerzensreiche Prüfungstage kommen. Ein harter Winter brachte die ersten Gichtanfälle über die lieben alten, sonst so fleißigen Hände. Ach, wie war es ihm doch so schwer, jetzt tage- und monatelang gar nichts schaffen zu können und regungs­los, in Watte und Gichttaffet gehüllt, die gefolterten Glie­der vor sich hinzuhalten! Aber auch jetzt verließ ihn seine Geduld, seine Ergebung nicht. Keine Klage, kein Murren kam über seine Lippen, wenn auch die Sehnsucht nach dem Heimgang stärker und stärker war. Höchstens, daß er auf unsre Fragen zur Antwort gab: „Heute ist’s allerdings recht arg.“ Der Sommer brachte einige Erleichterung, aber der nächste Winter verschlimmerte den Zustand um ein Bedeutendes. Ein zweiter Sommer kam heran, ohne daß die mildere Sonne vermocht hätte, die sinkenden Kräfte wiederherzustellen. Aber auch jetzt noch behauptete die Kraft des Geistes und des Glaubens den Sieg über die qualvolle Gebrechlichkeit des Körpers. Nicht der Kranke brauchte getröstet zu werden, nicht er bedurfte der Unter­haltung, er im Gegenteil war es, der die Traurigen und Niedergeschlagenen aufrichtete und das Gespräch leitete, wenn man ihn besuchte. Ans Bett gefesselt, von Schmerzen gefoltert, auch an innerem Siechtum, Folge des allmählichen Absterbens, leidend, sah er seiner Stunde entgegen. Er [192] rüstete sich auf dieselbe wie ein Christ; er wußte, daß sein Weg an Jesu Hand ein Gang aus Dunkelheit zum ewigen Lichte war. Wohl suchte man noch ärztliche Hilfe, und selbst Herrn v. Kagels geringe Weisheit wurde zu Rate gezogen. Man sprach sogar von einer Operation. Auch zu mir war ein Wort davon gedrungen, das mich in namenlose Angst versetzte. Es schien mir schrecklich, ihn noch neuen Qualen unterworfen zu sehen. Ich lief hinaus in die Einsamkeit; dort in dem nahen Birkenwäldchen warf ich mich nieder und flehte Gott mit heißen Thränen an, er wolle sich über den armen Großvater erbarmen und ihm Hilfe, ihm wenigstens Linderung der Schmerzen schenken. Und Gott erhörte mein Gebet, freilich in anderem Sinne, als ich’s verstanden. Der Gedanke, daß der Tod nahe, ja daß er schon da sei, lag mir fern. Ich fand bei meiner Rückkehr den heißgeliebten Kranken still liegen, nur der Atem ging schwer. Es war der letzte Kampf. Wir alle standen um sein Bett, weinten und beteten, als es zu Ende ging, — und doch, als der Atem stille stand und wir an die zwölf Jahre Blindheit dachten, an die bittern Leiden der letzten Zeit, da war es uns, — wie es auch in Wirklichkeit so war, — als hätte Gott ihm mit seinem Sterben nur Liebes erwiesen.

In demselben Zimmer, wo er gelebt und gestorben, ward auch die Leiche aufgestellt. Oft war ich ganz allein bei seinem Sarge; keine Spur von Bangigkeit, wie sie sich sonst wohl bei einer Totenwacht des thörichten und erreg­baren Knabengemütes bemächtigt, stellte sich ein. Sah er doch so lieb und friedevoll aus, ein freundlich Lächeln um seinen Mund. Anntante sagte, er sehe aus, als hätte er eben ein adliges Paar getraut. Wir wollen lieber sagen: es war der Widerschein der Himmelsfreude, die sich vor seiner Seele aufgethan hatte.

[193] Wie natürlich, geschah das Leichenbegängnis von der Kirche aus. An Blumen und Laubgewinden war kein Mangel. Besonders wohlthuend war es, daß der ganze Boden der Kirche, wie auch der Weg mit feingehackten Tannenzweigen bestreut war, denn das Gedränge war über­groß und die Luft beklommen. Die ganze Gemeinde hatte sich aufgemacht, dem alten Pastor das Geleit zu geben. Es war ein mehr als eine Werst langer Zug, der dem Sarge folgte, als er sich nach dem alten Gottesacker auf den Weg machte. Ein herrlicheres, friedlicheres, malerischeres Ruheplätzchen, als dieser uralte Friedhof, wäre schwer zu finden. Jenseits eines Flüßchens, das in herrlichem Wiesen­grunde dahinzieht, erhebt sich ein mit Kiefern und andern Bäumen bestandner Hügel. Ein mit dichtem Moose be­deckter Steinwall umgiebt die geheiligte Stätte, von welcher niemand auch nur von Hörensagen zu melden wußte, wann sie errichtet worden. Im Hintergrunde hoher, dunkler Kiefernwald, nach links in einiger Entfernung ein andrer Sandhügel, der neue Gottesacker, die Ruhestätte der kommenden Gemeinde, und an dessen Fuß eine weithin bemerkbare, ungeheure, mehrhundertjährige Linde, so herrlich gewachsen, als hätte eines Gartenkünstlers Hand ihr Gestalt gegeben, weithin ihre riesigen Äste vorstreckend, unter welchen wohl vier Fuhrwerke Platz finden konnten.

Mancherlei Sage knüpfte sich an „die alte Kapelle“,[5] wie der Gottesacker genannt wurde, und nicht gern ging oder fuhr jemand aus dem Volk allein um Mitternacht an dieser sonst so lieblichen Stätte vorüber. War es doch selbst dem Großvater begegnet, als er einmal in heller­ Mondnacht des Weges fuhr, daß sein Kutscher plötzlich [194] anhielt und mit einem scheuen Blick auf den Gottesacker und mit bebender Stimme rief: „Ich fahr nicht weiter, Herr, thut was Ihr wollt. — Da steht er, — da steht er!“ Dem Großvater war’s gleich verständlich, was er meinte, denn im Volk ging unter anderem das Gerede, man sehe öfter auf dem Grabe eines Erschlagenen die Seele des Mörders, eine hagere, dunkle Gestalt, barhaupt, mit langem, spitzem Bart, einem Juden nicht unähnlich, zitternd, bebend, an die Stätte gebannt, um Friede flehend, und ihn nimmer findend. Und wie der Großvater, der Weisung des zum Tode erschrockenen Kutschers folgend, dorthin seine Blicke richtet, — siehe, so steht oder kniet vielmehr wirklich, im Mondschein sich hin und her bewegend und zitternd, der dunkle Schatten. Um sich näher zu überzeugen, springt der Großvater aus seinem Wagen, steigt ohne große Mühe über den Steinwall und geht auf die Gestalt zu; aber die Täuschung schwindet je mehr und mehr, je näher er kommt; es ist nur ein unschuldiger hoch­aufgeschossener Wachholderbusch, der, vom Winde bewegt und in dem unsichern Mondlicht aus der Ferne geschaut, die seltsame Schattengestalt annahm und dem thörichten, abergläubischen Volk zum Ausgangspunkt seiner Sage ge­dient hatte. — Das Interessanteste auf dem Friedhof war ein ganz verfallener Holzbau, das „Beinhaus“ genannt. Der nicht allzugroße Raum, der von der Ge­meinde schon seit Jahrhunderten zur Begräbnisstätte benutzt ward, sollte nämlich immer neuen Ankömmlingen Aufnahme gewähren. Da wurde denn unter den vielen Hügeln, deren hölzerne Kreuze erst verwittert und schließlich verschwunden waren, irgend eine seit lange nicht mehr benützte, vom Grase überwucherte Stelle ausgesucht, um ein neues Grab zu graben, wobei es natürlich geschah, daß man nicht nur auf die Trümmer alter Särge, sondern auch auf mehr oder [195] minder erhaltene Gebeine stieß. Um nun diese nicht um­herliegen zu lassen oder auf den Sarg des neuen An­kömmlings werfen zu müssen, ward vor undenklichen Zeiten schon mitten auf dem Kirchhof ein hölzernes Haus er­richtet, in welchem diese Gebeine gesammelt wurden, wo sie sich im Lauf der Jahrhunderte ziemlich hoch aufschichteten. Aber auch dies Haus war längst verfallen; die morschen, mit graugrünem Moose dicht bedeckten Balken, vom Winde schief gedrückt, hielten kaum noch zusammen, von einem Dach war keine Spur. Wind, Sonnenschein und Regen hatten die aufgeschichteten Gebeine zu wunderbarer Weiße gebleicht, und nur wo sie im Schatten oder über­einander lagen, hatte auch sie grünliches Moos überzogen. Um aber den Kontrast zwischen dem blühenden Leben und dem Tod zu unsern Füßen in recht auffälliger und zu­gleich poetischer Weise hervortreten zu lassen, hatte sich mitten unter dem Totengebein in der einen Ecke des Häuschens ein blühender Hagebuttenstrauch eingenistet, der in der Frühlingszeit seine schönen grünen Zweige und seine prangenden Rosen weithin über die Schädel und Knochen breitete. Es mochte wohl in der Ordnung sein, daß der Vater, da der Gottesacker überhaupt geschlossen werden sollte und an einen Neubau des Beinhauses nicht zu denken war, — schließlich eine große Grube graben und alle Ge­beine darein versenken ließ; aber der Friedhof hatte in meinen Augen dadurch einen seiner eigentümlichsten Reize eingebüßt. Hatte ich doch oft genug in dem alten Häuschen zwischen den Totengebeinen und Rosen gesessen und bald diesen, bald jenen Schädel hervorgeholt, um meine hamletischen Gedanken, wenn auch nicht gerade in der Stimmung des Dänenprinzen, anzuknüpfen. Damit war es später­hin vorbei.

Zu diesem wunderbar anziehenden Ruheplätzchen, wohin [196] ihm bereits Mutter und Gattin vorangegangen, ward nun auch der Großvater an jenem Tage hinausgetragen. Immer mehr und mehr verhallten die Glocken des Kirchturms, die ihm bis dahin das Geleite gegeben hatten, da erklang mit überwältigender Fülle der tausendstimmige Gesang der Ge­meinde, die an dem Grabe ihres alten Hirten den Trost und die Hoffnung unseres Christenglaubens pries, und als dann der Vater seine Stimme erhob, um den teuren Toten hinabzusenken und ein letztes Wort an die Gemeinde zu richten, da ging’s ihnen allen durchs Herz. Keiner schied von der Stätte, der nicht des Heimgegangenen nochmals mit Liebe gedacht und ihm eine Dankesthräne nachgeweint hätte, keiner, der ihm nicht von Herzen das Erbteil der Gerechten gewünscht, zu dem seines Heilandes Gnade ihn eingeführt hatte. Der Vater ließ um die Gräber der drei nun im Tode Vereinten eine Einfassung machen. Da ich, wo es etwas zu malen oder zu schreiben gab, einige Ge­schicklichkeit besaß, so hatte ich die Inschriften zu besorgen, die mit dem schönen Spruch schlossen, Röm. 14, 8: Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum wir leben oder wir sterben, so sind wir des Herrn.

Es war die erste Grabschrift aus meiner Hand, der noch manche ähnliche Schrift oder Zeichnung folgen sollte, — keine schmerzlicher als die, wo ich — drei Jahre später — dem lieben Bruder Georg, der so brav gelernt, der die goldne Medaille für eine Preisarbeit erhalten hatte, Primus des Mitau’schen Gymnasiums geworden war, und der eben zur Universität abgehen sollte, als ein böser Typhus ihn hinwegraffte, — den Leichenstein zeichnete mit dem Kreuz und der Palme und mit den kreuzweise ge­stellten Lilien, die ich nach des Vaters Weisung als Eck­rosette anzubringen hatte. Auch der Großvater erhielt [197] einen Leichenstein, den ihm ein Neffe aus Riga schickte, welchem er, wie vielen andern einst Zuflucht und Erziehung gewährt hatte. Noch einmal steig ich jetzt nach so viel Jahren über den moosbedeckten Steinwall des alten Gottes­ackers, um einen Kranz des Dankes und der Ehren nieder­zulegen. Es ist mir dabei ums Herz wie dem alten Claudius, der am Grabe seines Vaters steht, den lieben Stein salbt und die Worte spricht:

Sie haben einen guten Mann begraben,
— Und mir war er mehr!

Mir war er mehr!



  1. Mutters Schwester; in unsrer Sprache hieß sie übrigens, weniger korrekt, „Lotttante,“ wie auch Tante Anna, Binchen’s Tochter, „Anntante.“
  2. wörtlich: „wie Sahne,“ kurischer Ausdruck, um etwas be­sonders Behagliches und Leckeres zu bezeichnen.
  3. Eine hohe Düne in der Nähe Tuckums, hübsch bewaldet und viel besucht. Man hat von dort einen weiten Umblick und soll an heitern Tagen sogar die Türme Riga’s von dort sehen können.
  4. Wurde doch in meiner Kindheit im Sommer die Haus­thür während der Nacht fast nie geschlossen.
  5. In Kurland heißen die Gottesäcker häufig „Kapellen“, wenn auch solche längst nicht mehr auf ihnen stehen oder auch nie gestanden haben.