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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland

minder erhaltene Gebeine stieß. Um nun diese nicht um­herliegen zu lassen oder auf den Sarg des neuen An­kömmlings werfen zu müssen, ward vor undenklichen Zeiten schon mitten auf dem Kirchhof ein hölzernes Haus er­richtet, in welchem diese Gebeine gesammelt wurden, wo sie sich im Lauf der Jahrhunderte ziemlich hoch aufschichteten. Aber auch dies Haus war längst verfallen; die morschen, mit graugrünem Moose dicht bedeckten Balken, vom Winde schief gedrückt, hielten kaum noch zusammen, von einem Dach war keine Spur. Wind, Sonnenschein und Regen hatten die aufgeschichteten Gebeine zu wunderbarer Weiße gebleicht, und nur wo sie im Schatten oder über­einander lagen, hatte auch sie grünliches Moos überzogen. Um aber den Kontrast zwischen dem blühenden Leben und dem Tod zu unsern Füßen in recht auffälliger und zu­gleich poetischer Weise hervortreten zu lassen, hatte sich mitten unter dem Totengebein in der einen Ecke des Häuschens ein blühender Hagebuttenstrauch eingenistet, der in der Frühlingszeit seine schönen grünen Zweige und seine prangenden Rosen weithin über die Schädel und Knochen breitete. Es mochte wohl in der Ordnung sein, daß der Vater, da der Gottesacker überhaupt geschlossen werden sollte und an einen Neubau des Beinhauses nicht zu denken war, — schließlich eine große Grube graben und alle Ge­beine darein versenken ließ; aber der Friedhof hatte in meinen Augen dadurch einen seiner eigentümlichsten Reize eingebüßt. Hatte ich doch oft genug in dem alten Häuschen zwischen den Totengebeinen und Rosen gesessen und bald diesen, bald jenen Schädel hervorgeholt, um meine hamletischen Gedanken, wenn auch nicht gerade in der Stimmung des Dänenprinzen, anzuknüpfen. Damit war es später­hin vorbei.

Zu diesem wunderbar anziehenden Ruheplätzchen, wohin

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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland. J. F. Steinkopf, Stuttgart 1885, Seite 195. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:SeebergAusAltenZeiten.pdf/193&oldid=- (Version vom 21.9.2022)